1. Weltkrieg (3/5) – Die Angst vor Spionen und der Femme fatale

Die Kriegsrealität wird durch Verdacht und Misstrauen beherrscht. Ihnen voraus geht die Angst vor einem Verrat oder einer Täuschung. Aktiviert die Angst den Menschen, wird er aufmerksam. Automatisch sucht er nach dem Auslöser für seine Furcht. Ist er ausgemacht, gilt es, entweder vor ihm zu flüchten oder ihn zu konfrontieren. Was aber, wenn der Auslöser „unsichtbar“ bleibt? Was, wenn es sich bei ihm nur um eine „gesichtslose“ Idee handelt, die einem in den Kopf gepflanzt wurde? Dann kann der „Feind“, der einen verraten oder täuschen will, jedes Gesicht annehmen – auch das des Nachbarn oder der eigenen Ehefrau.

 

Kapitel: Spionenfurcht – Spionenjagd: ein Zeichen vaterländischer Treue – Angst vor der Frau – Instrumentalisierung der Geschlechter – Private Einblicke und Täuschungsversuche

 

Spionenfurcht
Bild Spione

Abb. 1) Lithographie von Wilhelm Schnarrenbergers „Ein Spion wird eingebracht“, Freiburg 1914/16.

Weder ein reales noch ein fiktives politisches Drama kommt ohne Spione aus. Die Angst vor ihnen tritt traditionell während Krisenzeiten auf, wie sich auch am Beispiel der „Grossen Furcht“ aufzeigen lässt. Zwar entspringen die Jagden auf Spione sehr oft der blossen Phantasieangst. Doch alleine der Glaube an sie kann ein Angsterleben auslösen. Steht dann die gebündelte Antriebsenergie bereit, befindet sich der Mensch im Zustand der Sprungbereitschaft. Alles was sich bewegt, erscheint nun plötzlich verdächtig, jeder Mensch und jedes Wort lassen ungewollt Misstrauen aufkommen. Springt der Funke dann über und setzt den Menschen in Bewegung, kann es im Fall einer Konfrontation auch Unschuldige treffen.

Die deutsche Presse hat im Sommer 1914 nicht nur den Mythos von der einmütigen „Kriegseuphorie“ erschaffen, sie hat auch die Spionenfurcht angeheizt. Bereits während der Julikrise kam der Glaube an „innere Feinde“ auf. Im Fokus der öffentlichen Stellen standen zuerst „politisch unsichere Personen“, wie die in Deutschland lebenden Ausländer und vor allem die sozialdemokratischen Führer, die sich gegen den Krieg aussprachen. Im August wiederum schürte die Presse in erster Linie die Furcht vor russischen Spionen. Sie galten schliesslich als die grössten Feinde Deutschlands, hatte die Angst vor den Russen doch auch den Ausschlag zum Präventivkrieg gegeben. Die Gerüchte, die schliesslich umgingen, reichten vom Ausspähen militärischer Geheimnisse bis zu möglichen Sprengstoffanschlägen auf Brücken oder dem Vergiften von Trinkwasser.

Die Spionenangst war ein europäisches Phänomen und allgegenwärtig. In Deutschland verstärkte sie jedoch besonders den Glauben an den „Verteidigungskrieg“, wie er von den Politikern und Militärs propagiert wurde. Die Spionenfurcht spielte daher besonders den Polizei- und Geheimdienstapparaten in die Hände, welche die Bevölkerung ebenfalls systematisch zur Spionenjagd aufhetzten. Die gesamte Kriegszeit hindurch diente sie ihnen als Argument, um den Ausbau der Verfolgungsbehörden zu rechtfertigen und die Gesetzgebung zu verschärfen. Als der Krieg zu Ende war, gab auch der Kriegsberichterstatter Heinrich Binder zu, dass die Presseabteilung des Grossen Generalstabs von Beginn an ganz bewusst Falschmeldungen und Gerüchte ausgestreut habe, um die Spionenfurcht „bis zur Siedegrenze“ zu steigern und die „Nerven der Massen aufzupeitschen“.

 

 

Spionenjagd: ein Zeichen vaterländischer Treue
Spionenjaeger

Abb. 2) Zwei Spionenjäger der Freiwilligen Bürgerwehr von Lörrach.

Der Gesellschaftszwang und Konformitätsdruck unter der Bevölkerung war nicht minder gross und löste immer wieder neue Ängste aus. Bei Kriegsausbruch erwartete man schliesslich von jedem einzelnen, dass er seine vaterländische Pflicht erfülle. Wer tatenlos blieb oder abseitsstand, wurde nicht nur persönlich diskriminiert, sondern auch sozial isoliert. (Siehe dazu auch den Beitrag die „Angst vor sozialer Isolierung“!)

Vor allem diejenigen Männer, die nicht als Soldaten in den Krieg zogen, suchten nach Möglichkeiten, ihrer Angst vor gesellschaftlicher Diskreditierung und Entwertung entgegenzuwirken und ihr Selbstbild vom „starken Geschlecht“ zu verteidigen. Eine Chance bot sich, als aufgrund der Spionenfurcht überall in Deutschland Bürgerwehren gebildet wurden, die unter anderem Militäranlagen bewachen sollten. Die Massnahmen, welche die vielen übereifrigen Männer ergriffen, um ihre aktive Beteiligung an der Vaterlandsverteidigung zu demonstrieren, lösten jedoch selbst immer wieder Angst aus. Vor allem ihr willkürliches Verhalten gegenüber unschuldigen Passanten, die in ihren Augen verdächtig erschienen oder irgendeine „Auffälligkeit“ aufwiesen, liess das Angstpotenzial unter der Bevölkerung ansteigen. (Mehr dazu im 5. Teil über die „Angstneurosen und Invalidität“)

Die Spionenjagd und die mit ihnen einhergehenden Gerüchte übten einen massiven psychischen Druck auf die Bevölkerung aus. Und hat die Angst, die nicht nur sprichwörtlich ansteckend ist, erst einmal ein ganzes Volk im Griff, werden auch die Grenzen zwischen Recht und Unrecht fliessend. Immer vom Schwarz-Weiss-Denken beherrscht bleibt jedoch die Beurteilung des Geängstigten. Egal, ob in Friedens- oder Krisenzeiten, eine Person die Angstreaktionen zeigt, wird immer als verdächtig und schuldig eingestuft. Im Tagebuch von Charlotte Herder, der Ehefrau des Freiburger Verlegers, fand nicht nur die Spionenangst Erwähnung, sondern auch die gewohnte Reaktion auf verängstigte Menschen. Sie notierte am 17. August 1914:

„Mitten in der Nacht wache ich von einem Stimmgewirr vor meinem Fenster auf. ‚Hände hoch‘, kommandiert eine barsche Stimme, ‚ich lasse sie nicht durch!‘. Darauf stammelte eine von Todesangst heisere Stimme verworrene Worte, ein kurzes Geräusch folgte wie von einem Handgemenge, und schnelle Schritte entfernten sich zur Kaserne hin. Ich lag lange zitternd vor Angst und Grauen da. Wer war der Unglückliche? Sicher ein Spion. Denn wenn er, wie wir, unschuldig war, hätte er sich doch nicht so zu sträuben brauchen und solche Todesangst in der Stimme gehabt. Ach Gott – vielleicht wurde er jetzt noch in derselben Stunde verurteilt, am Morgen erschossen zu werden. Das ist der Krieg, dacht ich, das ist der Krieg, was werden wir noch alles erleben!“

 

 

Die Angst vor der Frau
Mata Hari

Abb. 3) Mata Hari (1906).

Weibliche Spione erregten die Gemüter der Männer schon immer ganz besonders. Sie gab es natürlich auch während des Ersten Weltkriegs. Zwei der bekanntesten waren die niederländische Tänzerin und deutsche Spionin Margaretha Geertruida Zelle, die unter dem Decknamen „Mata Hari“ bekannt wurde, sowie die britische Krankenschwester und Agentin Edith Cavell. Erstere wurde 1917 von den Franzosen, letztere 1916 von den Deutschen wegen Spionage hingerichtet. Sie dienten den Männerphantasien gewiss nicht nur als Negativbeispiele, doch immer lösten sie Ängste aus. Schliesslich handelte es sich bei ihnen um Frauen.

Die politische, rechtliche und soziale Benachteiligung der Frau erreichte im 19. Jahrhundert ihren Höhepunkt. Der Erste Weltkrieg verstärkte erneut die bereits überspitzten Geschlechtsvorstellungen. Auch in der Presse und Literatur fanden sich Mann und Frau stets als Gegensatzpaar wieder: Er wurde jeweils als die „ernste männliche Entschlossenheit“, dargestellt, sie hingegen als die „weinende weibliche Bedrücktheit“. Je länger der „Grosse Krieg“ andauerte, desto ambivalenter wurde jedoch auch das Bild von der Frau. Zwar wurde sie in der politischen Propaganda oft als Opfer feindlicher Gewalt dargestellt, doch im Verlaufe der Zeit rief man den Soldaten immer häufiger ihre emotionale Debilität und Verführbarkeit in Erinnerung und stilisierte sie zur Gefahr hoch.

Die Angst vor der weiblichen Untreue erhitzte während der langen Frontaufhalte so manches Männerblut. Die Befürchtung, die Ehefrau oder Verlobte könnte während der eigenen Abwesenheit fremdgehen, wurde auch von den öffentlichen Stellen immer wieder als reale Gefahr propagiert. Sie wollten das Bild von der Frau als Verführerin in den Köpfen der dienenden Männer manifestieren, um sie davon abzuhalten, einer anderen „Mata Hari“ Militärgeheimnisse zu verraten, aber auch, um dem Problem mit den Geschlechtskrankheiten vorzubeugen, die unter den Soldaten grassierten.

An der Front verloren die Soldaten die Kontrolle über ihr eigenes Leben. Mit Hilfe des Postverkehrs sollte wenigstens die Kontrolle über die Familien und damit das männliche Selbstbild erhalten bleiben. Während die Ängste der Frauen durchweg auf reale Bedrohungen gerichtet waren und ihre Befürchtungen sich fast ausschliesslich auf die alltäglichen Herausforderungen bezogen, die der Krieg mit sich brachte, erlagen die Männer vor allem ihrer Phantasieangst. Denn als sie in den Krieg zogen, erhielten ihre Frauen zum ersten Mal nicht nur die Entscheidungsmacht über sich und die Familie, sondern auch über das Geld. In ihren Briefen insistierten die Männer immer wieder darauf, bei familiären, juristischen, organisatorischen und vor allem finanziellen Fragen des Haushalts an den Entscheidungen beteiligt zu werden.

 

Deutsche Postkarte

Abb. 4) Männerträume: Deutsche Bildpostkarte.

 

Der Krieg führte dazu, dass sich in den Männerköpfen erneut die traditionelle Angst vor der unabhängigen Frau verstärkte. Sie äusserte sich in einer neuen stereotypen Vorstellung, die auch nach dem Krieg bekämpft wurde: die konsum- und sexgierige „Kriegerfrau“, die von ihren irrationalen Gefühlen beherrscht wird. Ihr entgegengesetzt wurde die entsexualisierte und letztlich sakralisierte Figur der Krankenschwester. Somit fand die althergebrachte männliche Frauenvorstellung, die seit Jahrtausenden zwischen „Heilige oder Hure“ unterscheidet, auch während des Ersten Weltkriegs ihre Entsprechung.

Das Ende des Weltkriegs markierte auch den Anfang eines neuen Kampfes: den Kampf gegen die selbstständig gewordene Frau. Mit aller Gewalt versuchte man sie wieder aus den Fabriken oder Beamtenstuben herauszuholen und erneut in ihr konventionelles Geschlechtskorsett zu zwingen. Vor allem die Vereine der Veteranen bemühten sich unentwegt darum, die von Männern bestimmte Gesellschaftsordnung erneut aufleben zu lassen und die Frauen wieder zurück an den Herd zu bringen. Und in der Tat hat der Erste Weltkrieg das Bild von der Ehefrau und Mutter, die dem Mann untergeordnet ist, langfristig sogar noch verstärkt.

 

 

Instrumentalisierung der Geschlechter

Die Spionenfurcht wirkte natürlich während der gesamten Kriegszeit fort. Doch je länger der Krieg andauerte, desto mehr verlagerte sich der Fokus von Regierung und Gesellschaft auf die „Drückeberger“, die keinen Kriegsdienst leisteten und sich unter anderem um einen Arbeitsplatz in der Rüstungsindustrie bemühten, der sie vom Militärdienst freistellte. Viele Arbeiter wiederum rechtfertigten sich, indem sie Vorurteile gegenüber den Frauen äusserten. Immer wieder beschwerten sie sich darüber, dass sie nun in der Heimat die gesamte Verantwortung tragen und die ganze schwere Arbeit selbst erledigen müssten. Männern und Frauen gemein war jedoch, dass sie beide durch die öffentlichen Stellen und Medien instrumentalisiert wurden. Vor allem die Behörden erhofften sich immer wieder, sie könnten durch das gegenseitige Ausspielen den Krieg vorteilhaft beeinflussen.

Die Vorstellung vom Mann, die nur so vor Überlegenheit, Stärke, Mut und Entschlossenheit strotze, wurde in den Medien unentwegt zelebriert. Hier sollte sie vor allem der verbreiteten Angst vor einer Feminisierung der Gesellschaften entgegenwirken. Die Werbung der Behörden wiederum peilte vor allem die noch nicht dienenden Männer an, um sie zum Freiwilligendienst zu bewegen. Daher förderten auch sie ganz besonders das Bild eines „echten Mannes“, der als Ehemann für den Schutz seiner Familie verantwortlich sei oder aber seine Männlichkeit nur durch den Krieg unter Beweis stellen könne. Natürlich weckten die überhöhten Mannvorstellungen aber auch immer wieder Ängste. Vor allem die vielen jungen Männer, die befürchteten, der Krieg könne zu Ende gehen, bevor sie sich ihre persönliche Auszeichnung als „richtiger Mann“ erkämpfen konnten, hatten Angst an sexueller Attraktivität einbüssen zu müssen.

Die Führungseliten und die Presse bedienten sich immer wieder dem negativ besetzten Frauenbild, um auf das männliche Geschlecht Einfluss zu nehmen. Natürlich wurden aber auch die „guten“, moralischen Frauen, die Erwartungen an den Mann stellen dürfen, zu instrumentalisieren versucht. Ihre Aufgabe war es unter anderem, die Scham bei den vielen „feigen“ und „zögerlichen“ Männer zu wecken, die sich bis dahin nicht freiwillig zur Armee gemeldet hatten. In Grossbritannien beispielsweise wurde eine Kampagne ins Leben gerufen, die sie ebenfalls als Druckmittel einsetzte. An alle Frauen wurden „weisse Federn“ – die in England als ein Symbol der Feigheit gedeutet werden – verteilt, damit sie diese an ihre Kleider anstecken. Für jeden Mann, der den Frauen in der Heimat über den Weg lief, bedeutete der Blick auf diese Federn eine öffentliche Anklage, Beschämung und Stigmatisierung.

Russisches Frauenbataillon

Abb. 5) Rollenwechsel: Russisches Frauenbataillon (1917).

In Russland wiederum setzte man auf die Bildung von Frauenbataillonen. Sie fanden seit dem Sommer 1917 Einsatz und waren ebenfalls dazu gedacht, moralischen Druck auf die Männer auszuüben. Die gleichfalls kämpfenden Frauen sollten die Soldaten zu besseren militärischen Leistungen anstacheln und die hohen Desertationsraten eindämmen. In Deutschland fanden die unentwegten Bemühungen der Behörden sogar in einer Karikatur ihren Ausdruck. Erschienen ist sie 1914 in der Zeitschrift „Simplicissimus“. Hier sagt eine junge Dame zu einem Leutnant: „Wenn Sie also leben bleiben, haben Sie Ihren Beruf verfehlt.“

Die öffentlichen Stellen und die Presse schürten bei den Männern kontinuierlich Ängste, die sich um ihr Selbstbild drehten oder mit dem Ausschluss aus der nationalen Gemeinschaft drohten. Doch vor allem die Angst vor der Frau konnte von ihnen kaum bewältigt werden. Schliesslich machten sich die Behörden nicht nur das negative, sondern auch das positive Frauenbild zunutze. Wenn es nicht die „Femme fatale“ war, die ihn betrog oder ihm Militärgeheimnisse entlockte, dann war es die „Heilige“, die ihn moralisch unter Druck setzte und ihm Mutlosigkeit und Feigheit vorwarf.

Die Frauen wiederum hatten im Gegensatz zu den Männern überhaupt keine Entscheidungsfreiheit. Sie konnten nicht selbst entscheiden, ob sie „gut“ oder „schlecht“ sein wollten. Das weibliche Selbstbild wurde schliesslich von der völligen Entwertung beherrscht. Ein Hauptgrund, warum die Frauen auch unentwegt im Visier der Behörden standen. Ihr privates Verhalten wurde im Allgemeinen unter Beobachtung gestellt und auch die Aufsicht über die Arbeiterinnen wurde genaustens geregelt. Während man an den Fronten Bordelle für die Soldaten einrichtete, begegnete man den Frauen in der Heimat mit Misstrauen und Vorurteilen. In Grossbritannien drohte man den Ehefrauen sogar an, ihnen im Falle der Untreue die staatlichen Leistungen nicht mehr zu erstatten.

Als 1918 der Erste Weltkrieg zu Ende ging, kam die „Dolchstosslegende“ auf. (Sie lieferte den späteren Nationalsozialisten ein wichtiges Argument für die Initiierung des Zweiten Weltkriegs.) Die Legende verbreitete die Überzeugung, dass Deutschland im Feld unbesiegt geblieben wäre und den Krieg gewonnen hätte, wären die Zuhausegebliebenen nicht der politischen Propaganda des Feindes erlegen. Als Hauptschuldige galten vor allem die Sozialdemokraten und ihre Anhänger, waren diese schliesslich gegen den Krieg gewesen. Da jedoch in der Debatte alle Menschen der Heimatfront als Schuldige im Mittelpunkt standen, schob man einen Grossteil der Hauptschuld natürlich auch den Frauen zu, die aufgrund ihrer Debilität und Beeinflussbarkeit das Scheitern des Krieges mitverursacht haben sollen.

 

 

Private Einblicke und Täuschungsversuche
Frauen Heimatfront

Abb. 6) Mehrfachbelastung: Frauen an der Heimatfront.

Die einzige Verbindung zwischen den Soldaten und ihren Angehörigen in der Heimat war die Feldpost. Die öffentlichen Behörden bauten von Beginn an ein riesiges Postsystem auf, um den Briefverkehr zwischen den Soldaten und ihren Familien zu gewährleisten. Während des Ersten Weltkriegs wurden alleine in Deutschland um die 11 Milliarden Sendungen von der Front in Richtung Heimat und rund 18 Milliarden in die Gegenrichtung beförderte. Die enormen Anstrengungen wurden aber selbstverständlich nicht unternommen, um den Männern und ihren Angehörigen einen Gefallen zu tun. Vielmehr war es die Angst vor Kontrollverlust, hätte eine Funkstille doch die Moral der Kampfeinheiten geschwächt oder die Soldaten dazu verleiten können, zu desertieren.

Von der Geschichtswissenschaft wurde die Feldpost später ausgewertet. Sie offenbarte nicht nur die ungeheure Angst der Männer vor der weiblichen Untreue oder vor der unabhängigen Frau, sondern auch eine ganz andere Art der Täuschung. Zwar benötigte die Indoktrinierung geschlechtsfeindlicher Vorstellungen keineswegs eine Verstärkung. In den Briefen und Postkarten, die zwischen der Front und Heimatfront versandt wurden, spiegeln sich die Rollenklischees permanent wider. Doch die Soldaten an der Front und ihre Familienangehörigen hielten nicht nur ihre gesellschaftlich bestimmten Selbstbilder aufrecht. Sie versuchten auch, die eigenen Ängste zu verschweigen oder herunterzuspielen, um sich gegenseitig emotional zu schonen.

Die Männer stellten sich in ihren Nachrichten gerne als mutige Haudegen dar, damit ihre Angehörigen sich keine Sorgen um sie machten. Der Oberarzt Heinrich Luft beispielsweise schrieb im August 1914 an seine Familie: „Also, meine Lieben, lebt wohl u. habt keine Angst um mich. Vorläufig lässt sich der Krieg noch aushalten. Die rauhe Kriegerart fällt mir ja nicht schwer“. Auch der Vizefeldwebel Johannes Wierich versuchte seine Familie zu schonen, als er am 28. Mai 1915 seinen Eltern von einem Einsatz berichtete: „Ich habe mir nun alles schrecklicher vorgestellt, wie es wirklich ist. Angst habe ich überhaupt keine gehabt.“ Der 21-jährige Erich Donath wiederum schrieb seiner Mutter aus der Ausbildungskaserne: „Heute … sind wieder 2 Kompanien weggekommen. Nun sind wir dran, den Totenanzug haben wir schon bekommen. Du brauchst Dich aber nicht zu ängstigen. Nach dem Krieg kommen wir alle wieder.“ Drei Monate später war Erich tot.

Den Ehefrauen und anderen Familienangehörigen war es ebenfalls ein grosses Anliegen, ihre eigenen Ängste und Probleme nicht auf die Liebsten an der Front abzuwälzen. Ihre allgemeine Einstellung fand in einem Leserbrief von Marie Kewitsch ihren Ausdruck. Er wurde am 5. August 1914 im „Freiburger Tagblatt“ veröffentlicht:

„Ich war gestern bei einer Frau, deren Mann mit fort ins Feld muβte. Sie war ganz verzweifelt und schwamm in Tränen. Und so wie ihr geht’s Hunderten und Tausenden. … Gebt nicht der Verzweiflung Raum, trocknet Eure Tränen. Zeigt Euren Söhnen, Euren Männern beim Abschied ein mutig Gesicht. Stärkt sie, in dem ihr ihnen zeigt, daβ Ihr Vertrauen habt, Zuversicht zu der Sache. Denn es ist etwas Hohes, Heiliges, für das sie kämpfen, unsere Ehre, unsere Freiheit, die höchsten Güter, die wir haben. … Ich gebe auch meinen einzigen Sohn, und er verläβt Frau und Kinder, aber er soll keine Angst auf meinem Gesicht sehen.“

 

Ängste und Sorgen wurden von den Ehefrauen und Familienangehörigen gerne verschwiegen. Fanden sie jedoch Erwähnung, drehten sie sich zumeist um die miserablen Lebensumstände und die Mehrfachbelastung durch Haushalt und Arbeit. Für ihre kämpfenden Männer waren diese Schwierigkeiten nur sehr schwer nachvollziehbar. Viele Soldaten beschwerten sich auch immer wieder über eine ausbleibende Post und machten ihren Frauen Vorwürfe, weil sie sich nicht die Zeit zum Briefeschreiben nahmen. Andere reagierten frustriert, wie auch der Oberarzt Heinrich Luft, der am 16. August 1914 an seine Frau schrieb: „Deine Briefe sind immer etwas sentimental u. mutlos gehalten. Das hat keinen Zweck. Auch wir wissen, welche Greuel der Krieg bringt, aber darüber darf man nicht nachdenken.“

 

Frauen Ruestungsindustrie

Abb. 7-8) Von den Soldaten wurde nicht nur die Mehrfachbelastung der Frau an der Heimatfront ausgeblendet, sondern auch die Gefahren, denen sie bei der Arbeit ausgesetzt war. Das Bild links zeigt Frauen in einem deutschen Rüstungsbetrieb, die Geschosshülsen herstellen. Das rechte Foto stammte aus dem walisischen Swansea und wurde im August 1917 aufgenommen. Es zeigt den Leichenzug einer Munitionsarbeiterin, die bei der Arbeit zu Tode kam. Die Sargträgerinnen, welche die Kutsche begleiten, tragen das ordensähnliche Messingabzeichen „On War Service“, mit dem man alle britischen Arbeiterinnen der Munitionsfabriken auszeichnete.

 

Im Verlaufe des sich immer mehr in die Länge ziehenden Krieges veränderte sich viel. Auch die Art und Weise, wie die Männer und Frauen sich selbst und ihre Situation darstellten. Durch die massenhaften traumatischen Fronterfahrungen, die bereits in den ersten Kriegswochen einsetzten, verlor auch das edle Bild vom „soldatischen Mann“ relativ schnell an Glanz. Zwischen den Zeilen fanden die grausame Kriegsrealität und persönliche Verzweiflung immer häufiger Erwähnung. Spätestens ab Ende 1915 verschwand das Pathos fast vollständig aus den Briefen. Im selben Jahr schrieb der deutsche Wehrmann Heuser an seine Frau Noack:

„Wann wird dieses Schlachten endlich aufhören? … Es ist eine Massenmörderei wobei sich menschliche Intelligenz durch Mordmaschinen gegenseitig zerfleischt, die wahren Schuldigen aber nicht getroffen werden, ja all dieses Elend und Greuel noch nicht zu sehen brauchen. – Ich habe mich von meinen Kameraden etwas abseits gedrückt in einen alten verlassenen Unterstand, wo ich ungestört bin. Vor mir im Tälchen liegt ein toter Franzose, einsam, verlassen und vergessen, nur nicht von seinen Angehörigen zu Hause. Er kann wegen eigener Lebensgefahr nicht beerdigt werden. … Er ist vielleicht ein hoffnungsvoller Sohn braver Eltern oder eine junge Gattin erwartet sehnsuchtsvoll seine Wiederkehr. Raben und Elstern umkreisen ihn und gar bald wird man seine Person nicht mehr feststellen können. Es heisst dann, er ist von einer Patrouille nicht mehr zurückgekommen. So wird hier über ein Menschenleben hinweg geschritten!“

 

In der Feldpost beschrieben wurden seit 1915 auch immer öfter die Massenvernichtungswaffen, die unter den Kampfeinheiten Panik auslösten. Der Wehrmann Heuser erwähnte sie ebenfalls oft in seinen Briefen: „Heldentod, u.s.w. gibt es im jetzigen Kriege nicht mehr. Das ist nur noch eine Massenschlächterei, der Wert und die Fähigkeiten des einzelnen Mannes verschwinden durch die Verbesserung aller Mordinstrumente auf der Erde, in der Erde und in der Luft.“ Während des Ersten Weltkriegs entwickelten die Wissenschaftler aller kriegsführenden Länder ihre Waffen weiter. Auch die Waffenkraft erfuhr während der gesamten Kriegszeit eine Steigerung. Sie führte nicht nur dazu, dass die Zahl an Toten unvorstellbare Masse annahm, sondern auch unendlich viele Soldaten in der Anonymität versanken. Mehr dazu im 4. Teil:  Waffenschreck und totale Vernichtung“.

 

Literatur: Binder, Heinrich: Was wir als Kriegsberichterstatter nicht sagen durften, München 1919; Ebert, Jens (Hg.): Vom Augusterlebnis zur Novemberrevolution. Briefe aus dem Weltkrieg 1914-1918, Göttingern 2014; Geinitz, Christian: Kriegsfurcht und Kampfbereitschaft. Das Augusterlebnis in Freiburg. Eine Studie zum Kriegsbeginn 1914, in: Schriften der Bibliothek für Zeitgeschichte – Neue Folge, hg. v. Gerhard Hirschfeld, Bd. 7, Essen 1998; Hirschfeld, Gerhard (u.a. Hg.): Enzyklopädie Erster Weltkrieg, Paderborn 2003; Leonhard, Jörn: Die Büchse der Pandora. Geschichte des Ersten Weltkriegs, München 2014; Münkler, Herfried: Der Groβe Krieg. Die Welt 1914 bis 1918, 7. Auflage, Berlin 2013; Rauchensteiner, Manfried: Der Erste Weltkrieg und das Ende der Habsburgermonarchie 1914-1918, Wien/Köln/Weimar 2013; Verhey, Jeffrey: Der »Geist von 1914« und die Erfindung der Volksgemeinschaft, Hamburg 2000; Vogt, Martin: »Illusionen als Tugend und kühle Beurteilung als Laster«. Deutschlands »gute Gesellschaft« im Ersten Weltkrieg, in: Der Erste Weltkrieg. Wirkung, Wahrnehmung, Analyse, hg. v. Michalka, Wolfgang, im Auftrag des Militärsgeschichtlichen Forschungsamtes, München/Zürich 1994, S. 622-648.

Zitate (siehe vollständige Angaben Literaturverzeichnis): Binder, 1919; Ebert, 2014; Geinitz, 1998; Vogt, 1994.

Bildernachweise (siehe vollständige Angaben Literaturverzeichnis): Titelbild, Abb. 4-5) Leonhard, 2014; Abb. 1) Geinitz, 1998; Abb. 2, 6-8) Hirschfeld, 2003; Abb. 3) Wikipedia.de.

 

By |2021-06-06T16:39:06+00:00Juli 20th, 2018|AnGSt|0 Comments
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