Symbole der Angst (7) – Der Grabstein

Die Geschichte des Totenkults lässt darauf schliessen, dass der Grabstein seit ältester Zeit existiert. Seit jeher ist er ein Symbol für den Tod, für Verwesung und die existenzielle Auslöschung. Kaum verwunderlich, ist und war er darüber hinaus schon immer ein Sinnbild für die Angst vor dem Vergessenwerden. Der Grabstein besitzt jedoch seit undenklichen Zeiten auch eine Schutzfunktion. Er soll die gefürchteten Toten in ihren kalten Gräbern bannen und auf diese Weise ihren Drang nach Rache an den Lebenden verunmöglichen.

 

Kapitel: Grabzeichen: Vom Grabstein zum Leichenstein – Die dunklen Anfänge der Friedhofskultur – Wiedergänger: Die gefürchteten Untoten – Das nicht so friedliche Grabfeld – Dunkle Zeiten

 

Grabzeichen: Vom Grabstein zum Leichenstein
Grabstein von Niederdollendorf (7. Jh.)

Abb. 1) Der frühmittelalterliche Grabstein von Niederdollendorf ist einer von vielen seiner Art. Seine Bedeutung für die damalige fränkisch-merowingische Bevölkerung liegt jedoch grösstenteils im Dunkeln.

Das Setzen eines Grabsteins, um eine Grabstätte zu markieren, ist eine kulturelle Handlung. Sie basiert auf dem uralten Glauben an ein Jenseits, den bereits die Neandertaler kannten und seit jeher die Todesangst besänftigen soll. Ihm wiederum entsprangen uralte philosophische und religiöse Überzeugungen, nach denen auch die Verstorbenen ein Recht auf Unverletzlichkeit und Raum besitzen, da sie ja –, wenn auch woanders,– „weiterleben“.

Grabzeichen wie der Grabstein, die Begräbnissorte ursprünglich als geheiligte Stätten ausweisen sollten, sind mit einem alten Rechtsverständnis verbunden. Ihm zufolge stellt eine Grabstätte das Eigentum des darin liegenden Toten dar. Auf der anderen Seite werden Grabstellen in prosperierenden Zeiten jedoch immer wieder stark vom Erinnerungswillen beherrscht. Er kommt in erster Linie durch die Familie und Verwandtschaft zum Ausdruck, die mittels der sozialen Repräsentation des Verstorbenen die Ahnenverehrung auch für sich selbst einfordern.

Die ältesten auf uns gekommenen Grabzeichen stammen aus der Zeit der Spätantike und des Frühmittelalters. Die Grabsteine waren dazumal oft mit figürlichem Dekor oder Reliefs versehen. Die Grabmale und Grabmonumente der Griechen und Römer besassen insbesondere eine Memoriafunktion; die frühmittelalterlichen Grabsteine der Germanen hingegen sollten die Ruhestätte hauptsächlich als tabuisierten Ort ausweisen. Zu ihnen gehört auch der berühmte fränkische Grabstein von Niederdollendorf (7. Jahrhundert), der dem damaligen Glauben zufolge magische Heil- und Abwehrkräfte besass. Dass die Franken und Alemannen ihre Gräber manchmal mit speziellen Kennzeichnungen versehen haben, darauf deuten zwar einige archäologische Funde und manche Überlieferungen hin. Das Setzen von Grabzeichen an sich stellte bei den Völkern des Nordens jedoch vielmehr eine Ausnahme dar.

Die Grabzeichen besitzen viele verschiedene Benennungen, die zumeist synonym verwendet werden und trotz oftmals verschiedener Formen dieselbe Definition besitzen. Als übergeordnete Begriffe gelten vor allem die des Grabsteins und des Grabmals, die beide auch für die Grabplatte oder den Leichenstein stehen können. Überhaupt zeigen die Grabzeichen seit jeher grosse regionale sowie lokale Unterschiede auf, was ihre Gestalt, ihr Herstellungsmaterial und ihr Verwendungszweck betreffen. Aus diesem Grund sind die Bezeichnungen nie wirklich eindeutig und schon gar nicht allgemeingültig.

Bei dem Begriff Grabstein handelt es sich also um einen Sammelbegriff, der verschiedene Grabzeichen umschreibt. Er steht in erster Linie für ein Zeichen, das den Standort einer Begräbnisstätte kennzeichnet und oftmals der sogenannten „Memoria“ (Totenerinnerung) dient. Das seit Jahrhunderten genutzten Material für seine Herstellung ist einerseits der langlebige Sand- bzw. Naturstein. Für besonders pompöse Steine bedienten sich die Steinmetze manchmal auch des Marmors. Für die Grabmäler der einfachen Leute hingegen wurde andererseits, wenn überhaupt, der weniger dauerhafte Werkstoff Holz benutzt. Später kamen weitere Herstellungsmaterialien hinzu (Messing, Schmied- bzw. Gusseisen oder Keramik).

Der Grabstein wird auch als Leichenstein bezeichnet. Der Begriff steht für das Grabmal an sich (zunächst für die liegende Grabplatte insbesondere bei einer Kirchenbestattung), umschreibt aber auch den Ort, auf dem zu späterer Zeit der Sarg während der sogenannten Totenrast (Zwischenstopp des Leichenzugs, um sich zu Verköstigen oder um Gebete zu sprechen) abgestellt wurde. Im deutschen Mecklenburg bezeichnete man aber auch Steine, die an Stellen errichtet wurden, wo jemand erschlagen worden war, als Leichensteine.

 

Grabplatten (16. Jh.) Geusenfriedhof Köln

Abb. 2) Grabplatten aus dem 16. Jahrhundert (Geusenfriedhof in Köln).

 

Bei der Grabplatte handelt es sich eigentlich um einen liegenden Grabstein. Sie war ein notwendiger Bestandteil der Kirchenbestattung (Bodengräber), die ein Privileg der Geistlichkeit und der Oberschichten darstellte. Aufgrund des eingeschränkten Platzes in den Kirchen wurden derartige Grabstellen samt Grabplatten oftmals nach einer gewissen Zeit weiterverkauft. Kam ein solcher Verkauf zustande, überführte man die dort zuvor begrabenen Gebeine ins sogenannte „Beinhaus“.

In den mittelalterlichen Kirchen und auf ihren Friedhöfen herrschte immer Raumnot. Die Gläubigen mussten schliesslich alle in „geweihter Erde“ bestattet werden, um auch wirklich ins himmlische Paradies Eingang zu finden. Die Gräber wurden daher oft schon nach wenigen Jahren wieder geräumt. Da die Schädel und Gebeine zumeist noch nicht verwest waren, brachte man sie ins Beinhaus, wo sie aufgestapelt wurden. Anstelle eines Grabzeichens war es dann das religiöse Zeichen des sogenannten „Hochkreuzes“, das auf dem Kirchhof den Schutz aller Gräber übernahm.

 

Grabstele

Abb. 3) Aufrechtstehende Grabsteine nennt man auch „Grabstelen“. Die Stelen sind für gewöhnlich beidseitig beschrieben bzw. dekoriert. Sie nennen die Namen und Lebensdaten der Verstorbenen, führen oft kurze Lebensbeschreibungen (insbesondere Ehen und Geburten) sowie Psalmen auf -, warum sie auch als „redende Steine“ bezeichnet werden, – und sind mit symbolträchtigen religiösen Motiven verziert. Zu den ältesten Friedhöfen ihrer Art zählen diejenigen auf der Insel Föhr.

 

 

Die dunklen Anfänge der Friedhofskultur
Heinrich Knoblochtzer; Heidelberger Totentanz (15. Jh.)

Abb. 4) Ein mittelalterliches Beinhaus mit Hochkreuzen, die alle hier eingelagerten Totenüberreste schützen sollen. Die Zeichnung stammte von Heinrich Knoblochtzer (15. Jahrhundert).

Der Totenkult stellt das älteste Kennzeichen menschlicher Kultur dar und sollte schon immer die ursprünglichen Ängste vor dem Sterben und dem Vergessenwerden bewältigen helfen. Mit ihnen einher ging daher auch schon früh die Ahnenverehrung. Erst der Glaube an ein Jenseits und der an ein Leben nach dem Tod führten zu den drei wichtigsten religiösen Überzeugungen, die den Umgang mit Verstorbenen bis heute prägen:

1) Man muss dafür Sorge tragen, dass es den Toten in ihrem nächsten Leben gut geht.

2) Die Hinterbliebenen müssen ihnen ein angemessenes Begräbnis bereiten, um ihr Andenken zu ehren.

3) Man muss den Verstorbenen „hinüberhelfen“, damit sie auch wirklich dortbleiben –, wohin auch immer sie hingehen.

Die Anfänge der Friedhofskultur liegen im Dunkeln, führten die Frühmenschen ein Nomadenleben. Spätestens in der jüngeren Altsteinzeit begannen sie jedoch nachweislich damit, die Totenschädel und manchmal auch die Gebeine ihrer Verstorbenen auf ihren Wanderungen mitzuführen. Der älteste bekannte Totenkult ist der sogenannte Schädelkult, der ungefähr vor 200’000 bis 40’000 Jahren praktiziert worden ist. Er zeichnet sich wie fast alle prähistorischen Grabsitten durch die Sekundärbestattung aus und stellt ein globales Phänomen dar.

Als die ersten Menschen sesshaft wurden, fanden ihre Toten schon bald Eingang in ihre Behausungen. Hier wurden sie zumeist in den Erdböden der familiären Wohnhütten oder aber in speziellen Schädelgebäuden bestattet. Die ersten Hochkulturen wiederum gründeten ihre Städte auf den Nekropolen (vorchristliche Grabstätten). Zu ihnen zählen auch die alten Griechen, die auf der ihren die sogenannte Agora (Orchestra) anlegten. Sie war ihr wichtigstes politisches, religiöses und kultisches Zentrum, wo nicht nur die Agone (Sport- und Theaterveranstaltungen) zu Ehren der Götter abgehalten wurden, sondern auch Gerichts- und Ratsverhandlungen.

Der Glaube an ein Weiterleben nach dem Tod, das durch die Taten im Leben bestimmt wird, geht mit der Gewissensfrage und alten Rechtsvorstellungen einher. An der Geschichte des Grabsteins nachvollziehbar ist daher auch die Angst der „Schuldigen“ bzw. „Sünder“, die ihren Mitmenschen zu deren Lebzeiten geschadet oder sogar ihren Tod (mit-)verursacht haben. Ihre Furcht fand vor vielen Jahrhunderten in den wiederkommenden Opfern eine Materialisierung. In Gestalt der sogenannten Wiedergänger verfolgen sie ihre Peiniger und Mörder noch aus dem Grab hinaus und bestrafen auch diejenigen, die ihre Grabesruhe stören. Kein Wunder, symbolisiert der Grabstein daher seit jeher nicht nur die Todesangst, sondern auch die Furcht vor den Untoten, die übersinnliche Kräfte besitzen und sich an den Überlebenden für ihre bösen Taten rächen wollen. Als ein weiterer Grund für das Wiederkommen der Toten betrachteten man vor allem während des Altertums aber auch das „unerfüllte Schicksal“ der Ermordeten oder abgetriebenen Kinder.

 

Kirchengräber Köniz (Schweiz)

Abb. 5) Frühmittelalterliche Kirchenbestattungen. Das Bild zeigt den Bereich des Kirchchors der Kirche Köniz (Schweiz).

 

 

Wiedergänger: Die gefürchteten Untoten

Der Grabstein ist ein Grenzstein, der Angsträume trennt. Die ursprünglichsten Räume dieser Art stellen seit Anbeginn der Menschheitsgeschichte das Dies- und Jenseits dar. Grabzeichen sind aber vor allem auch Spiegel der herrschenden Sozialstruktur. Ihre Anschauungen sind zwar stets religiösen oder ideologischen Geistesströmungen unterworfen, doch auch diese trennen „Gutes“ von „Bösem“. Die religionsübergreifende Vorstellung vom Wiederkommen der Toten wiederum ist ein uraltes Phänomen, das insbesondere in Krisenzeiten immer wieder aufs Neue an Aktualität gewinnt. Während des Mittelalters trat sie vor allem in Verbindung zum Kult um der sogenannten „Armen Seelen“ auf.

Toter, der wieder aufersteht.

Abb. 6) Die volkstümlichen Grabvorstellungen sind mit unzähligen Verboten und Warnungen belegt. Nicht nur Menschen, sondern auch Tiere (u.a. Katze, Gänse) können Tote erwecken, wenn sie über ihr Grab laufen, und einen Gespensterspuk auslösen.

Die Anschauungen von den sogenannten Wiedergängern (Widergänger) zählen zu den ältesten Vorstellungen von boshaften und schädigenden Toten. Bei ihnen handelte es sich für gewöhnlich um Personen, die einen unerwarteten, unnatürlichen oder gewaltsamen Tod erleiden mussten und besonders häufig um Kinder (Tot- und Missgeburten, Ungetaufte) sowie im Kindbett verstorbene Frauen. Dem Glauben nach waren die Seelen dieser gefürchteten Untoten zwar an ihren jeweiligen Aufenthaltsort gebunden, den man sich als eine Art „Zwischenraum“ (Vorhölle, Luftregion o. Ä.) zwischen der diesseitigen und der jenseitigen Welt dachte. Doch war es ihnen möglich, diesen für kurze Zeit zu verlassen, falls die Grabesruhe aus irgendeinem Grund gestört wurde und/oder um jemanden zu bestrafen.

Die Grenzen zwischen Volks- und Christglauben haben sich im Verlaufe der Zeit verflüssigt. Zu einem volkstümlichen Brauch gehörte es unter anderem, einem möglichen Wiedergänger ein Pfahl durchs Herz zu stossen, um ihn an die Erde zu heften und so an der Wiederkehr zu hindern. Die katholische Kirche verwarf zwar die Pfählung letztlich als Aberglaube, doch auch sie drohte damit, dass durch die Gebeine der gefürchteten Toten mancherlei Spuk ausgelöst werden könne. Daher war es schliesslich auch der Grabstein, der von nun an die möglichen Rückkehrer an ihrer Auferstehung hindern sollte.

Die Grabinschriften, die das Grabmal für gewöhnlich zieren, werden im Allgemeinen als Ausdruck des Wunsches nach sozialer Erinnerung gewertet. Zweifellos aber hatten sie früher auch eine ganz andere Funktion. Nachvollziehbar wird dies grundsätzlich am Beispiel des Neugeborenen. Sowohl in der orientalischen, griechischen, römischen als auch der altgermanischen Glaubenswelt wurde ihm nämlich seine Existenz solange nicht anerkannt, wie es keinen Namen trug. Erst mit dem Anrufen seines Namens konnte schliesslich auch die Gefahr des Wiederkommens gebannt werden. Die Glaubensvorstellung fand unter anderem auch in der Auffassung von der Dämonenbesessenheit ihren Niederschlag. So mussten die Exorzisten oftmals zuerst den Namen des Dämons herausfinden, um ihn erfolgreich aus dem Körper des Besessenen austreiben zu können.

 

„Die Angst vor dem Tode ist in Wirklichkeit eine Angst vor dem Sterben oder vor den Toten“

Ernst Benz (1907-1978)

 

 

Das nicht so friedliche Grabfeld
Peter Swyn Gedenkstele (16. Jh.)

Abb. 7) Memoria und soziale Repräsentation von Verstorbenen: Das Bild zeigt die Gedenkstele für Peter Swyn. Er war während der Reformationszeit in Dithmarschen ein wichtiger Anführer der Bauern. Der Kampf um ihre Rechte zog eine weitreichende Blutfehde nach sich. Auf der Stele wird Swyns Ermordung am 14. August 1537 durch angeheuerte Mörder dargestellt.

Der alte Volksglaube ist nicht nur eine Fundgrube für Schauerliches und Gruseliges. Er ist auch ein mündlich überliefertes Archiv für die ältesten Geschichten über Gespenster und wiederkommende Untote, die das Leben der noch Lebenden „zur Hölle“ machen. Mit ihnen verbunden sind uralte Überzeugungen und Kenntnisse über Schutzmittel, die gewohnheitsgemäss an die nächste Generation weitergegeben wurden, damit auch sie die von ihnen ausgehenden Gefahren erfolgreich abwehren können.

Die volkstümlichen Vorstellungen gesammelt und für die Nachwelt tradiert haben insbesondere die Volkskundler des 18./19. Jahrhunderts. Zu ihnen zählt auch der Schweizer Eduard Hoffmann-Krayer (1864-1936). Er schreibt in seinem Handwörterbuch zum Aberglauben: „An den alten Glauben, dass der Stein den Toten im Grab festhalten soll, erinnert der Brauch, sogleich aufs Kopfende des Grabes Steine zu legen, und diese Absicht wird manchmal auch noch ausgesprochen, besonders deutlich, wenn es sich um Tote handelt, die ihre Ruhe nicht finden können; Selbstmörder, Ermordete, Tote, deren Hand zum Grab herauswächst.“

Hoffmann-Krayer berichtet auch von einem Fall, der sich im 17. Jahrhundert ereignete. In diesem geht es um einen Witwer, der sich vor seiner toten Frau fürchtete. Er war davon überzeugt, sie durch das Setzen eines Leichensteins im Grabe „einschweren“ zu müssen, damit sie endlich ihren Frieden finde. Der Grabstein besass jedoch manchmal auch andere Funktionen. Manchmal wurde er nämlich auch als „Sitz des Toten“ (Bannungsort) betrachtet. Einer alten Volksvorstellung nach war es wiederum möglich, den ruhelosen Geist eines Toten in einer Grabstele zu bannen.

Der Stein und die verstorbene Person konnten aber auch in irgendeiner anderen geheimen Beziehung zu einander stehen. Im Friesland zum Beispiel war es Tradition, für in der Ferne verstorbene und begrabene Männer ebenfalls einen Leichenstein zu setzen. Auf diese Weise sollte der Tote besänftigt und vom Gedanken an eine Wiederkehr in die Heimat abgebracht werden. Eine ähnliche Anschauung zeigt ein Brauch aus dem deutschen Solingen. Kam hier ein Schleifer durch die Bedienung von Schleifsteinen zu Tode, stellten die Leute Bruchstücke von diesen auf sein Grab, um seinem Wiederkommen entgegenwirken.

Mit den Glaubensvorstellungen wurden natürlich auch etliche Warnungen und Verbote überliefert. So hiess es einst, man dürfe vor Ablauf des Jahres keinen Grabstein setzen, weil ansonsten wieder jemand sterben müsse. Altem Volksglauben zufolge kündet das Lockerwerden der Grabplatte über einem Familiengrab ebenfalls einen baldigen Todesfall an. Wer wiederum den Toten ihre Grabsteine stiehlt, um sie für den Bau einer neuen Mauer zu nutzen, den bestrafen sie mit dem Einsturz derselben. Und auf ein Grab oder eine Grabplatte treten oder einen Grabstein berühren, sollte man schon gar nicht. Denn dies deuten die Toten als besondere Untat und verteilen mit ihren unsichtbaren Händen Ohrfeigen, um die Frevler zu strafen. Auch kann es in diesen Fällen passieren, dass Geister aus den Gräbern aufsteigen, um sich zu rächen.

In manchen alten Sagen finden verzauberte Grabsteine Erwähnung, die Öl oder Blut ausschwitzen oder aber sich nicht wegnehmen oder versetzen lassen. Und natürlich war nicht nur das einfache Volk, sondern auch so mancher Gelehrte lange davon überzeugt, dass das, was mit einem Grabstein in Berührung kommt, auf wundersame Weise Zauber- und Heilkräfte erhält. Besondere Heilfähigkeiten sagte man zum Beispiel dem Staub und Moos von Heiligengräbern nach. Vor allem aber auch Regenwasser und Morgentau, die sich auf Leichensteinen sammeln, besitzen altem Glauben zufolge die Fähigkeit, viele Leiden einfach „abwaschen“ zu können (u.a. Sommersprossen, Warzen, Ausschlag, Geschwüre). Ausserdem helfen sie bei Schweisshänden oder kranken Augen.

 

The Walking Dead

Abb. 8) Angstzeiten sind immer auch Zeiten, in denen volkstümlich-magische Vorstellungen wieder Eingang ins Kollektivgedächtnis finden und darüber hinaus Tod und Wiederkommen der Toten zu Hauptthemen werden. Nachvollziehen lässt sich dies besonders gut an der sogenannten „Schwarzen Romantik“ (ca. 1795-1830), einer Gegenströmung zur rationalistischen „Aufklärung“. Dass wir ebenfalls in einer krisengeschüttelten Zeit leben, lässt sich ebenfalls am Beispiel der Unterhaltungsindustrie nachvollziehen, zählen hier ebenfalls Zombies, Vampire, Hexen und mit übernatürlichen Kräften ausgestattete Superhelden zu den beliebtesten Film- und Comicprotagonisten.

 

 

„Sobald ein Mensch zum Leben kommt, sogleich ist er alt genug zu sterben“

Johannes von Tepl (um 1350-1414/15).

 

 

Dunkle Zeiten

Im Jahr 395 erhob Kaiser Theodosius I. (347-395) das Christentum faktisch zur alleinigen Staatsreligion im Römischen Reich. Mit seiner Teilung in ein West- und ein Ostrom im selben Jahr wurde der Untergang des Grossreichs eingeleitet. Der einst so glorreichen griechisch-römischen Zeit folgte eine Zeit des „Dark Ages“ (Dunkle Jahrhunderte), wie in der Geschichtswissenschaft diejenigen Epochen genannt werden, die kaum archäologische oder schriftliche Spuren hinterlassen haben. Zu ihnen zählt auch das Frühmittelalter.

Wer über volkstümliche Anschauungen schreibt, weiss oft überhaupt nicht, wann diese tatsächlich aufgekommen sind. Von den frühen Volkskundlern und Historikern wurde das Mittelalter Jahrhunderte lang völlig zu Unrecht als „dunkles Zeitalter“, als grausame und rückständige Epoche verunglimpft. Lange wurde daher auch behauptet, dass sich die Vorstellungen von den Wiedergängern oder den magischen Grabsteinen während dieser Zeit ausgebildet hätten. Tatsächlich jedoch sind ihre Anschauungen sehr viel älter und fanden in der frühmittelalterlichen Krisenzeit einfach wieder Eingang ins kollektive Gedächtnis.

 

Kirchengräber Köniz (Schweiz)

Abb. 9) Die Art und Weise, wie Tote in ihr Grab gelegt wurden, hatte dem damaligen Glauben zufolge eine tiefere Bedeutung. Heute helfen die Bestattungsriten der Forschung, das Alter von Gräbern zu bestimmen. Links im Bild das Beispiel für eine frühmittelalterliche Bestattung mit gestreckten Armen; rechts im Bild eines für eine Bestattung aus der Zeit nach der Jahrtausendwende, wie sich an den gekreuzten Armen über der Brust ablesen lässt. (Bestattungen in der Kirche Köniz (Schweiz).

 

Das Mittelalter war ein Zeitalter der grössten Armut, war es von Klimaveränderungen, Naturkatastrophen, schlimmen Hungersnöten und Epidemien geprägt. Zur Angstabwehr boten sich zweierlei Glaubensüberzeugungen an: Einerseits der alte Volksglaube, der die Ängste mit dem Glauben an übersinnliche Elementargeister und die Zauberei bewältigt, und andererseits das dazumal aufkommende Christentum, das sich vor allem im Verlaufe des 7. Jahrhunderts gegen den alten Glauben durchsetzen konnte und Schutz vor dem Bösen versprach, solange man sich nur an seine Gebote halte. Zwar wandelten sich mit ihm letztlich die Auffassungen von den gefürchteten Wiedergängern. Doch aus dem Gedächtnis der Menschheit verschwunden sind sie, wie jedermann weiss, bis heute nicht.

Die wenigen aus der Zeit des Frühmittelalters stammenden Grabmale finden sich (fast) ausschliesslich in den Räumen der Kirchen wieder, wo nur Angehörige der Geistlichkeit und Obrigkeit bestattet wurden. Die im Kirchhof befindlichen Erdgräber der einfachen Bevölkerung wiederum waren entweder mit keinen oder aber keinen dauerhaften Kennzeichen markiert. Der frühmittelalterliche Friedhof war im Grossen und Ganzen gesehen eine anonyme Stätte. Erst im 14. Jahrhundert trat im Friedhofswesen wieder ein Wandel ein.

Die Friedhofsforschung geht im Allgemeinen davon aus, dass die Kennzeichnung des Grabes über Jahrhunderte hinweg kein von der Kirche gefordertes Element christlicher Bestattungskultur war. Die Grabstellen der zumeist armen Bevölkerung, die man um die grossen Grabmonumente der Eliten- und Kirchenangehörigen herum anlegte, wurden im Gegensatz zu diesen, soweit man weiss, nicht gekennzeichnet. Warum dem so ist, haben sich bis vor wenigen Jahren kaum irgendwelche Forscher/innen gefragt. Vermutlich schien es aufgrund der Platznot in den Kirchen und der kurzen Verweildauer der Gebeine in einem Grab wenig sinnvoll, ihre Begräbnisse überhaupt zu kennzeichnen. Ausserdem war die Trauer dazumal kein örtliches, sondern ein geistiges Ereignis.

 

R.I.P.

Requiescat In Pace

Er

ruhe

in

Frieden

 

Der Brauch der Grabkennzeichnung setzte sich erst im 17. Jahrhundert wirklich durch. Mit der Zeit erhielt jede/r Verstorbene ein persönliches Grab, dass mit einem Grabstein oder einer Grabplatte versehen wurde. Es entstanden die ersten Reihengräber, und die Liegezeit verlängerte sich. Seit dem 18. Jahrhundert liessen sich immer häufiger auch die gehobenen Bürger und vermögenden Grossbauern, seit dem 19. Jahrhundert auch der sogenannte Mittelstand schmuckvolle Grabsteine nach dem Vorbild der hochmittelalterlichen Kirchengrabmale von Klerus und Adel meisseln. Sie sollten jedoch keineswegs mehr die gefürchteten Untoten an die Erde heften und die Angst vor ihnen beschwichtigen. Vielmehr sollten sie wieder, wie bereits in vorchristlicher Zeit, die Einzigartigkeit einer Persönlichkeit hervorheben und das Ahnengedenken einfordern, um der Angst vor dem Vergessenwerden entgegenzuwirken.

 

„Heute sind die Toten eingeparkt wie Luxuslimousinen. Schwarz und bombastisch, in makellosem Hochglanz werden mit dem Kran steinerne Monster angeschleppt und in tödlicher Korrektheit abgesetzt. Grundstück für Grundstück, mit den gleichen Steinbarrieren abgeriegelt. Protzige Materialschlacht-Felder. Und dazwischen saubere Abstandsflächen auf totem Industriekies. Damit sich ja kein Unkraut regt. Einsamkeit in Makellosigkeit. Auch im Tod noch Ellenbogen.“

Dieter Wieland (geb. 1937)

 

Literatur: Altjohann, Michael: Grab- und Bestattungssitten, in: Die römischen Provinzen. Eine Einführung in ihre Archäologie unter Mitarbeit von Michael Altjohann, hg. u.a. v. Thomas Fischer, Stuttgart 2001, S. 195-200; Benkel, Thorsten: Die Verwaltung des Todes. Annäherungen an eine Soziologie des Friedhofs, aus: PeriLog, Freiburger Beiträge zur Kultur- und Sozialforschung, hg. v. Michael Schetsche und Renate-Berenike Schmidt, Bd. 6, Berlin 2012; Böhner, Kurt: Der fränkische Grabstein von Niederdollendorf am Rhein, in: Germania 28, 1944-1950; Böttger, Conny und Cardorff, Peter: Mein letztes Wort. Der Grabstein als Visitenkarte, Berlin 2003; Dinzelbacher, Peter: Die letzten Dinge. Himmel, Hölle, Fegefeuer im Mittelalter, Freiburg i.Br. 1999; Engels, Johannes: Funerum sepulcrorumque magnificentia. Begräbnis- und Grabluxusgesetze in der griechisch-römischen Welt mit einigen Ausblicken auf Einschränkungen des funeralen und sepulkralen Luxus im Mittelalter und in der Neuzeit, Stuttgart 1998; Engemann, Josef und Rüger, Christoph B.: Spätantike und frühes Mittelalter. Ausgewählte Denkmäler im Rheinischen Landesmuseum Bonn, Köln/Bonn 1991; Fink, Hans: Leich wägen oder Sarg schutzen. Volkskundlicher Beitrag, in: Der Schlern 49, Bozen 1975, S. 519-522; Geiger, Paul: Grabstein, Berlin 1931; Grabkultur in Deutschland. Geschichte der Grabmäler, hg. v. der Arbeitsgemeinschaft Friedhof und Denkmal/Museum für Sepulkralkultur, Berlin 2009; Grieβmair, Hans: Totenbrauchtum als Lebenshilfe, in: Der Schlern, Monatszeitschrift für Südtiroler Landeskunde, Grabkultur in Südtirol, 86. Jahrgang, Heft 4, Bozen 2012, S. 88-93; Das Groβe Lexikon der Bestattungs- und Friedhofskultur. Wörterbuch zur Sepulkralkultur, hg. v. Zentralinstitut für Sepulkralkultur Kassel. Bearbeitet von Reiner Sörries, Bd. 1-5, Braunschweig 2002-2016, hier insbesondere: Volkskundlich-kulturgeschichtlicher Teil: Von Abdankung bis Zweitbestattung, Bd. 1, Braunschweig 2002 und Archäologisch-kunstgeschichtlicher Teil: Von Abfallgrube bis Zwölftafelgesetz, Bd. 2, Braunschweig 2005; Gufler, Christoph: Geordnetes Gedenken. Ein Beitrag zur Friedhofskultur in Südtirol, in: Der Schlern, Monatszeitschrift für Südtiroler Landeskunde, Grabkultur in Südtirol, 86. Jahrgang, Heft 4, Bozen 2012, S. 74-87; Gurjewitsch, Aaron J.: Himmlisches und irdisches Leben. Bildwelten des schriftlosen Menschen im 13. Jahrhundert, Amsterdam/Dresden 1997; Gurndin, Luis: Zur Bedeutung religiöser Bräuche und Rituale im Trauerprozess, in: Der Schlern, Monatszeitschrift für Südtiroler Landeskunde, Grabkultur in Südtirol, 86. 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Zentralinstitut und Museum für Sepulkralkultur Kassel mit Beiträgen von Norbert Fischer, Barbara Happe, Barbara Leisner, Helmut Schoenfeld und Reiner Sörries, Braunschweig 2003; Seeliger-Zeiss Anneliese: Grabstein oder Grabplatte? Anfragen zur Terminologie des mittelalterlichen Grabmals, in: Epigraphik (1988), S. 283-292; Sörries, Reiner: Zu den Anfängen und zur Geschichte des gekennzeichneten Grabes auf dem Friedhof, in: Grabkultur in Deutschland. Geschichte der Grabmäler, hg. v. der Arbeitsgemeinschaft Friedhof und Denkmal/Museum für Sepulkralkultur, Berlin 2009, S. 13-34; Ulrich-Bochsler, Susi: Anthropologische Befunde zur Stellung von Frau und Kind in Mittelalter und Neuzeit. Soziobiologische und soziokulturelle Aspekte im Lichte von Archäologie, Geschichte, Volkskunde und Medizingeschichte. Bern/Stuttgart/ Wien 1997; Dies.: Büetigen – Köniz – Unterseen. Anthropologische Untersuchungen an früh- und hochmittelalterlichen Skeletten, Bern 1994; Wieland, Dieter und Zängl, Wolfgang: Grün kaputt – Landschaften und Gärten der Deutschen, 11. Auflage, München 1990 (Publikation zur Ausstellung von Wieland und dem Bund Naturschutz in Bayern); Zander, Sylvina: Das figürliche Grabmal vom Barock bis zum Zweiten Weltkrieg, in: Grabkultur in Deutschland. Geschichte der Grabmäler, hg. v. der Arbeitsgemeinschaft Friedhof und Denkmal/Museum für Sepulkralkultur, Berlin 2009, S. 67-94.

Zitate: Hoffmann-Krayer, Eduard (Hg.): Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens, Bd. 3, Berlin 1930.

Bildernachweise: Titelbild, Abb. 3, 6) Pixabay.com; Abb. 1) Franken-magazin.net; Abb. 2) Wikipedia.org; Abb. 4) Digi.ub.uni-heidelberg.de; Abb. 5, 9) Ulrich-Bochsler, Susi: Büetigen – Köniz – Unterseen. Anthropologische Untersuchungen an früh- und hochmittelalterlichen Skeletten, Bern 1994; Abb. 7) Echt-dithmarschen.de; Abb. 8) Tvinsider.com.

 

By |2024-11-14T15:08:35+00:00Oktober 31st, 2024|AnGSt|0 Comments
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