Rainer Mausfeld und die Angst in der Demokratie

In den Demokratien steigt trotz Friedenszeit das Angstpotential kontinuierlich an. Grund dafür sieht der Sozialpsychologe Rainer Mausfeld in der Erzeugung immer neuer Ängste und Zwänge durch die besitzenden Eliten. Dank der Durchsetzung ihres neoliberalen Programms dominieren sie heutzutage in den kapitalistisch-demokratischen Ländern sämtliche Lebensbereiche der Bürger und Bürgerinnen. In seinen Wissenschaftsbeiträgen zeigt Mausfeld auf, wie die Wirtschaftselite mit Unterstützung von Politik und Wissenschaft unaufhaltsam Überlebensängste schürt und über die Medien verbreitet.

 

Kapitel: Rainer Mausfeld und die Gegenwart – Das Angstniveau in den Demokratien – Schreckgespenst Neoliberalismus – Strukturelle Gewalt und gesellschaftliche Ängste – Das meritokratische Märchen und Armutsängste – Das geängstigte Selbst – Mangel = Lebensangst – Psychotechniken und ihre Schöpfer – Die anonyme Macht „Medien“ – Angsterzeugung durch Feindbilder

 

Rainer Mausfeld und die Gegenwart

Bereits zu Beginn des 18. Jahrhunderts kam der Rechtsgelehrte Charles-Louis Montesquieu zu der Überzeugung: vor allem die Demokratie ist in ständiger Gefahr, sich in ein despotisches Regime zu verwandeln. Im 20. Jahrhundert stellten der Soziologe Norbert Elias und der gesellschaftliche Psychoanalytiker Erich Fromm mit Grauen fest: in den modernen Demokratien regiert bereits wieder die autoritäre Gewalt. Nur das Bild der „Herrschaft“, ihr ideologisches Fundament und das für sie charakteristische Vokabular hatten sich verändert. Im Mittelpunkt von Rainer Mausfelds wissenschaftlichen Beiträgen stehen jetzt die kapitalistischen Demokratien des 21. Jahrhunderts, die ebenfalls nur dank der allesbeherrschenden Angst zusammengehalten werden.

Rainer Mausfeld (geb. 1949) hat Psychologie, Philosophie und Mathematik an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn sowie Mathematische Psychologie an der Universität Nijmegen (Niederlande) studiert. 1984 promovierte er an der Universität Bonn. Seine Dissertation beschäftigt sich mit den Konstruktionsprinzipien psychophysikalischer Diskriminationsskalen (Allport-Skala). Nach einer Gastprofessur an der University of California, Irvine habilitierte Mausfeld 1990 mit einer Arbeit zur Wahrnehmungspsychologie. 1992 lehrte er als Professor für Allgemeine Psychologie an der Universität Mannheim. Von 1993 an war Mausfeld Professor an der Universität Kiel, wo er bis zu seiner Emeritierung 2016 den Lehrstuhl für Wahrnehmungs- und Kognitionsforschung innehatte.

Wodurch wird eine „Herrschaft“ legitimiert? Seit dem Altertum gingen politische Philosophen und Rechtstheoretiker davon aus, dass es die Angst vor dem Herrscher sei, die eine Herrschaft rechtfertige und eine Gesellschaft begründe. Erst mit Einzug der Aufklärung im 17./18. Jahrhundert und mit Aufkommen eines politisch starken Bürgertums lernten die Menschen langsam diejenigen Staatsformen zu verachten, in denen Furcht, Angst und Schrecken das Handeln der Bevölkerung beeinflussen. Doch erst nach dem Zweiten Weltkrieg (1939-1945) und den Greultaten der Nationalsozialisten galt das uralte Herrschaftsprinzip wirklich als obsolet. Die neugegründeten Demokratien in Europa sollten nun auf einem Fundament der Freiheit und Gleichheit basieren und ausschliesslich dem Gemeinwohl dienen.

Edvard Munch - Anxiety

Abb. 1). Das Bild stammte von Edvard Munch und trägt den Titel „Ängste“ (anxiety). Es entstand im Jahr 1894.

Die demokratischen Verfassungen bezeichnen das Volk als Souverän. Es regiert nicht mit Hilfe von Angst und Gewalt, sondern auf den Grundlagen von Konsens und Solidarität. Doch Regierungen werden nur allzu oft von anderen Kräften unterwandert, und auch Verfassungen sind oftmals nur blosse Worte auf Papier. Die Realität – und das wusste bereits der „Vater der Gewaltenteilung“ Montesquieu – sieht zumeist anders aus. Auch in den neugegründeten Demokratien fand das „Prinzip Furcht“ letztlich wieder Eingang und zwar durch die Wirtschaftselite. Auslösendes Moment war einerseits die Rolle der USA als Friedensstifterin des Zweiten Weltkriegs (1939-1945), die der europäischen Bevölkerung Kapitalismus und Konsum verordnete, um mit ihrer Hilfe die fast völlig zerstörten Länder wieder aufzubauen. Andererseits war es das grundsätzliche Wesen von Handel und Werbung, die Ängste erzeugen, um Nachfrage zu schaffen.

Die Monopolisten, Lobbyisten und Vorsteher der Grossunternehmen ergriffen natürlich die Chance, vor allem ihre politische Macht auszubauen. Da sich ihre Ideenwelt jedoch am Ende als unvereinbar mit den demokratischen Grundprinzipien erwies, sahen sie sich gezwungen, nach speziellen Taktiken zu suchen, mit denen sie die Wahrnehmung der Bevölkerung beeinflussen und der Durchsetzung ihres Mitspracherechts gleichfalls den Anschein der Gewaltlosigkeit geben konnten. Dazu bedienten sie sich altbewährten Methoden der Angsterzeugung und spannten auch die neuesten Wissenschaften für ihre Zwecke ein.

Die Bemühungen der Wirtschaftselite haben letztlich nicht nur die Vorstellungen von der „Herrschaft“ und ihrer Legitimation verändert, sondern auch die Auffassung davon, was Angst und Gewalt überhaupt sind. Um ihre Anschauungen durchzusetzen, bedienten sich die Eliten ebenfalls der sogenannten „Rhetorik“ (Kunst der Rede), die auch heutzutage das wichtigste Instrument der wirtschaftlichen und politischen Herrschaft darstellt. Sie wurde bereits während des Altertums im vordemokratischen Athen erfunden, um die schon dazumal viel zu vielen politischen Kämpfe in die Hörsäle zu verlagern. Ihr Zweck war jedoch von Anfang an darauf ausgerichtet, Angst bei den Zuhörern auszulösen, um sie von einer „Meinung“ (doxa) zu überzeugen.

Das problematische an der antiken Redekunst ist einerseits, dass durch sie eine Gewaltanwendung quasi „in Worte“ verpackt wird, sodass sie nicht mehr bewusst als aggressiver Akt wahrgenommen wird. Andererseits verkauft sie den „Herrscher“ neu als Gutmenschen, wodurch er zum heilsbringenden Warner und somit Erretter eines Volkes hochstilisiert wird. Hier liegt der Knackpunkt der Rhetorik, denn sie anonymisiert auf diese Weise den wahren Angstauslöser und erschafft gleichzeitig einen neuen „Feind“. Denn sobald nicht mehr der „Herrscher“ und die Angst vor seinem Zorn und seinen Strafen im Mittelpunkt stehen, benötigt es eine andere „Bedrohung“, auf welche die Aufmerksamkeit gelenkt und um derentwegen Abhilfe angeboten werden kann.

In den Demokratien hat sich darüber hinaus auch die kapitalistisch-liberale Ideologie und mit ihr das Rechtssystem gewandelt. Die Eliten der Wirtschaft mussten sich schliesslich zukünftig vor Entlarvung und der „öffentlichen Meinung“ fürchten, die sich erst im Verlaufe des 18. Jahrhunderts zu einer eigenständigen politischen Kraft gewandelt hat. Das Problem mit den widersprüchlichen Zielsetzungen von demokratischer Politik und profitorientierter Wirtschaft konnte sie ebenfalls nicht lösen. Der Sozialpsychologe Mausfeld hat die ganze Problematik unter anderem mit den folgenden Worten umrissen:

„Angst für Zwecke einer Machtausübung kann auch auf strukturellem Wege systematisch erzeugt werden, insbesondere durch eine entsprechende Wirtschafts- und Rechtsordnung. Bei sogenannten kapitalistischen Demokratien müssen demokratische Rhetorik und kapitalistische Realität zwangsläufig auseinanderfallen. Denn Demokratie und Industrie- und Konzernkapitalismus sind aus grundsätzlichen Gründen nicht miteinander vereinbar. Der Kapitalismus verlangt eine Unterwerfung unter die Machtverhältnisse, in denen eine Minderheit von Besitzenden Macht über eine Mehrheit von Nichtbesitzenden ausübt, und schließt daher den Bereich der Wirtschaft sowie die Eigentumsordnung grundsätzlich von einer demokratischen Kontrolle aus.“

 

Edvard Munch

Abb. 2) Edvard Munch (1863-1944): Der expressionistische Maler Munch stellt in seinem Werk insbesondere den Menschen und seine tiefgreifenden Emotionen wie Angst, Todesfurcht und Trauer dar. Gleich zu Beginn seiner Karriere löste er mit seinen Bildern einen Skandal aus, waren viele Künstler wie auch Kunstliebhaber von seinen Bildern schockiert. Die Berühmtesten tragen Namen wie „Verzweiflung“, „Melancholie“, „Der Tod im Krankenzimmeri“, „Der Schrei“ oder „Ängste“ .

Die angeblich gewaltlose „Herrschaft“ muss neue Mittel und Wege finden, um ein Volk zum gewünschten Denken und Handeln zu verleiten. Die Erfindung eines „Feindes“ ist eine uralte Taktik der Angsterzeugung, die seit vielen Jahrtausenden und auch heute noch genauso erfolgreich ist. In den kapitalistisch-demokratischen Ländern werden immer wieder neue „Feinde des Systems“ ausgemacht, warum auch niemals ein Mangel an ihnen besteht. Sie werden normalerweise als eine unspezifische Gruppe von Aussenseitern dargestellt. Für gewöhnlich handelt es sich bei ihnen um Fremde, Systemgegner oder entmündigte Mitglieder der Gesellschaft, die man als die „Schwachen“ oder „Wertlosen“ abwertet, um ihre gezielte Benachteiligung zu rechtfertigen.

Die Hetzrhetorik, die diese „Feinde“ kreiert und quasi ins Bewusstsein der Leute einschleust, produziert für gewöhnlich ein besonders grosses Angstpotential. Ist die Strategie von Erfolg gekrönt, kann diese Abwehrenergie nicht nur kanalisiert und für die eigenen Aktionen instrumentalisiert werden, sie wird im Kampf gegen den vermeintlichen „Feind“ auch wieder neutralisiert. Doch misslingt das Experiment und der Kampf bleibt aus – oder wird er vereitelt, da die offen ausgelebte Aggression verpönt wird –, macht die angestaute Angstenergie die Menschen krank.

Die politisch-wirtschaftliche Propaganda ist subtiler geworden und steuert das Individuum mit ganz anderen, für gewöhnlich unbewusst wirkenden Mitteln. Dass sie manipuliert worden sind, wird den Bürgern und Bürgerinnen zumeist erst dann wirklich bewusst, wenn sie – aus welchen Gründen auch immer – vom gesellschaftlichen Ausschluss bedroht oder bereits von der Gemeinschaft isoliert worden sind. Wer wiederum noch immer dazugehört, aber unentwegt den „sozialen Tod“ befürchten muss, darf auf seine Ängste nicht mit einem Flucht- oder Angriffsverhalten reagieren, warum Stress, Unruhe und Sorgen zu Dauerzuständen werden. Der Sozialpsychologe Rainer Mausfeld, in dessen Arbeiten die hier aufgeführten Themen im Mittelpunkt stehen, hat ihre Bedeutung für die gesellschaftliche Entwicklung folgendermassen zusammengefasst:

„Eigentlich müssten wir heute die besten Voraussetzungen für ein historisch niedriges Angstniveau haben. Zwei der wirkmächtigsten Bedingungsfaktoren zur Verminderung gesellschaftlicher Ängste, nämlich ein großer alle Lebensbereiche prägender technischer Fortschritt und die Errichtung einer demokratischen Gesellschaftsordnung, stehen uns im Prinzip hierfür zur Verfügung. … All dies sollte eigentlich eine ausgesprochen günstige Konstellation für unsere zivilisatorischen Bemühungen sein, Bedingungen zu schaffen, die ein Leben ermöglichen, das durch eine größtmögliche Freiheit von gesellschaftlicher Angst gekennzeichnet ist. Dennoch lässt sich nicht übersehen, dass Angst eine überraschend große Präsenz in dem Lebensgefühl unserer Epoche hat – wenn auch oftmals hinter einer kulturellen Fassade, die vor allem durch Konsumismus, Zerstreuung und eine alle Lebensbereiche durchdringende Unterhaltungsindustrie geprägt ist. … Der wachsende Einfluss von Angst lässt sich auf allen gesellschaftlichen Ebenen aufzeigen: auf der Ebene von Individuen in der massiven Zunahme psychischer Störungen wie schwerer Depressionen und Angststörungen, auf soziologischer Ebene etwa in Indizes für soziale Abstiegsängste, für berufliche Versagensängste oder für Identitätsängste sowie auf politischer Ebene in einer drastischen Zunahme politischer Angstrhetorik.“

 

 

Das Angstniveau in den Demokratien
George Orwell (um 1940)

Abb. 3) Georg Orwell (1903-1950): In seinem dystopischen Roman „Farm der Tiere“ (1945) beschreibt Orwell den Wandel vom demokratisch geführten Gemeinwesen in ein totalitäres Regime. Zu Beginn der Erzählung können die Farmtiere die absolute und ausbeuterische Herrschaft des Menschen zerschlagen und ihre Freiheit und gleichgesinnten Rechte erringen. Doch schon bald darauf errichten die Schweine eine blutige Gewaltherrschaft – und beginnen auf zwei Beinen zu gehen.

Der Zustand der Dauererregung, der durch einen anhaltende Angstsituation ausgelöst wird, macht den Menschen psychisch und physisch krank. Ersichtlich wird dies auch an der Apathie. Tritt sie auf, sind Psyche und Organismus bereits umfassend geschädigt, und die Lebenserwartung ist gesunken. Der apathische Zustand ist zwar aus biologischer Sicht eine natürliche Reaktion, um einem nicht enden wollenden Zustand der Anspannung und Unruhe entgegenzuwirken. Doch bleibt die Situation unverändert, überlastet die ständige Erregung das Nervensystem. Ausserdem tritt eine Desensibilisierung ein, da sich angstauslösende Reize nicht mehr aktivierend auf den Menschen auswirken.

Aus Sicht der Philosophie baut die Ideologie der Demokratie im Gegensatz zum absoluten, despotischen, autoritären oder totalitären Staatswesen nicht auf dem Prinzip „Furcht“ auf, sondern auf dem Solidaritätsgedanken. Die demokratischen Länder, die sich als volksbestimmende Gebilde verkaufen, basieren jedoch auf einem kapitalistischen Fundament und werden seit jeher vom Geld regiert. Die Gier nach Luxus und Annehmlichkeiten, die man sich laut Montesquieu einzig „durch die Arbeit anderer verschafft“, stellten für den Rechtsgelehrten daher auch der Hauptgrund für eine nicht-republikanische Entwicklung dar. Die ideologische Symbiose zersetzt schliesslich das demokratische Staatengebilde, prallen doch zwei Ideenwelten aufeinander. Auch Mausfelder schreibt in seinem Buch Angst und Macht (2019):

„Demokratie und Kapitalismus sind nicht miteinander vereinbar. Damit ist es aus grundsätzlichen Gründen auch unmöglich, in einer »kapitalistischen Demokratie« die drei demokratischen Versprechen – nämlich gesellschaftliche Selbstbestimmung, friedliche Lösung innerer und äußerer Konflikte und Freiheit von gesellschaftlicher Angst – einzulösen.“

Demokratie und Kapitalismus fundieren aufgrund ihrer erkenntnistheoretischen Anschauungen auf grundsätzlich konträren Überzeugungen. Die Ideologie des Kapitalismus’ basiert seit jeher auf dem Individualismus, der die Kooperation nur aus eigennützigen Motiven betreibt und dazu Angst einsetzt. Er äussert sich unter anderem in den oben von Mausfeld erwähnten Versagensängsten, da oberstes Verhaltensprinzip des individualistischen Kapitalismus’ der Konkurrenzkampf ist und Eigeninteressen auch auf Kosten des Kollektivs durchgesetzt werden. Auch von einer demokratischen Gleichheit kann keine Rede sein, werden doch gewaltsam Abhängigkeitsverhältnisse geschaffen, die bei den Abhängigen kontinuierlich Existenzängste schüren. Dazu Mausfeld:

„Kapitalismus ist wesensmäßig mit der Erzeugung von Angst verbunden. Die kapitalistische Eigentumsordnung verpflichtet alle, die über kein eigenes Kapital verfügen, für fremdes Eigentum zu arbeiten, und überführt damit Arbeit in Lohnarbeit. … Arbeit im Kapitalismus bedeutet also Unterwerfung unter die Verwertungsbedingungen des Akkumulationsprozesses und damit unter die Machtverhältnisse, in denen eine Minderheit von Besitzenden Macht über eine Mehrheit von Nichtbesitzenden ausübt. … Der Zwang zur Lohnarbeit stellt in kapitalistischen Demokratien den Hauptfaktor der Erzeugung gesellschaftlicher Angst dar. Arbeit im Kapitalismus ist grundsätzlich ohne Angst undenkbar. Damit stellt der Kapitalismus bereits strukturell den Rohstoff »Angst« bereit, der sich – direkt wie auch über sein Folgen – für Machtzwecke manipulativ ausbeuten lässt.“

Seit Jahrtausenden gehören Angst und Macht in der politisch-gesellschaftlichen Welt eng zusammen. Ziel der „Herrschaft“ ist es schliesslich, die eigenen Wünsche und Bedürfnisse gegen andere durchzusetzen und sie damit dem eigenen Willen zu unterwerfen. Ein angsterzeugendes „Herrschaftssystem“ profitiert aber nicht nur von der Dauererregung, sondern auch der Passivität einer Bevölkerung. Ersteres bewirkt unter anderem eine Arbeitsleistung, von der unverdient profitiert werden kann; Letzteres sorgt dafür, dass das „System“ erhalten bleibt und die angestaute Angstenergie nicht gegen die Herrschaft eingesetzt wird. Mausfeld zieht daher das Fazit:

„Spätestens seit Beginn des vergangenen Jahrhunderts gehen die Entwicklung kapitalistischer Demokratien und die Entwicklung immer wirksamerer Techniken der Meinungsmanipulation, Angsterzeugung und Erzeugung von politischer Apathie Hand in Hand.“

Der Mensch muss seiner Angst Konturen geben, denn er kann nur bekämpfen, was er sieht. In den kapitalistisch-demokratischen Ländern wird nicht mehr der „Herrscher“ gefürchtet, der öffentlich Gewalt ausübt, sondern die durch die „Herrschaft“ verursachten und angstauslösenden Probleme wie Arbeitslosigkeit, Armut und soziale Isolation. Dass ihre wahren Verursacher heutzutage zumeist unbekannt und auch die angeblichen „Feinde“ kaum greifbar sind, lässt bei den Betroffenen Gefühle der Ohnmacht und Verzweiflung aufkommen. Sie werden von Lebensängsten gequält, die vor allem von den Psychologen, Psychiatern und Therapeuten und letztlich auch in den Medien für gewöhnlich als „irrationale Ängste“ und völlig „unbegründete Befürchtungen“ abgetan werden.

 

 

Schreckgespenst Neoliberalismus
Joseph Keppler (1889)

Abb. 4) Blütezeit des Liberalismus: Das Bild, das von Joseph Keppler (1838-1894) stammte und von J. Ottman 1889 erneut lithographiert worden ist, trägt den Titel „The Bosses of the Senate“. Es zeigt reiche Grossunternehmer und Monopolisten, die im Hintergrund stehend die Politik bestimmen.

Spätestens seit dem 19. Jahrhundert nährten die Imperialisten, Kapitalisten und Wirtschaftsphilosophen die liberalistische Illusion vom unbegrenzten Fortschritt, der allen Menschen ein besseres Leben verspricht. Sie basiert auf der Überzeugung, dass die Unterwerfung der Natur und der materielle Überfluss in Form des ungebremsten Konsums der Mehrheit die grossmöglichste persönliche Freiheit und das grossmöglichste Glück brächte. Gebracht hat die von vielen Denkern genannte „grosse Verheissung“ jedoch dem überwiegenden Teil der Menschheit ein Leben in Armut, sklavischen Abhängigkeitsverhältnissen, Krankheit und nicht selten einen vorzeitigen Tod.

Der Liberalismus, der die Mehrheit zu Lohnarbeitern und Konsumenten degradierte, führte zu einer massenhaften Verelendung und infolgedessen zur Herabsetzung der Lebenserwartung breiter Gesellschaftsschichten. Nichtsdestotrotz konnten seine wenigen Nutzniesser ihn als herrschendes Prinzip von Politik und Wirtschaft erhalten und in Form der neoliberalen Ideologie ins 21. Jahrhundert hinüberretten. Die theoretisch-philosophische Grundvorstellung des sogenannten Neoliberalismus (W. Eucken) entstand in der Mitte des 20. Jahrhunderts, als sich Aufgrund des Wiederaufbaus Europas eine wirtschaftliche Blütezeit abzeichnete (deutsches „Wirtschaftswunder“). Um den Argumenten seiner Gegner von vorneherein den Nährboden zu entziehen, forderten seine Schöpfer jedoch neu eine Zusammenarbeit mit dem Staat, dessen Einmischung der Liberalismus bis dahin mit allen Mitteln bekämpft hatte.

Natürlich aber waren die Vertreter des Neoliberalismus’ genauso wenig an einer staatlichen Intervention und Kontrolle interessiert wie ihre Vorgänger. Das Problem lösten sie, indem sie alle öffentlichen – und letztlich auch privaten – Lebensbereiche der europäischen Bevölkerung dem neoliberalen Programm unterwarfen und folglich auch alle staatlichen und rechtlichen Instanzen. Mit Hilfe des Neoliberalismus werden seitdem alle existierenden gesellschaftlichen, staatlichen und kirchlichen Einrichtungen – und selbst Non-Profit-Organisationen – in gewinnorientierte Gebilde umgestaltet. Aus diesem Grunde gilt der Neoliberalismus auch als „die erfolgreichste Ideologie der Weltgeschichte“ (Perry Anderson). Mausfeld fasst zusammen:

„Ein stetes Wachsen des Angstniveaus lässt sich seit etwa Mitte der 70er-Jahre beobachten, also seit der Zeit, zu der der neoliberale Umbau der Gesellschaft begann. Im Verlauf dieser bis heute anhaltende Entwicklungen wurden und werden immer mehr gesellschaftliche Verhältnisse – von politischen und sozialen Institutionen über soziale Beziehungen bis zur Ebene des Individuums selbst – Kriterien der Konkurrenz und der ökonomischen Verwertbarkeit unterworfen. Diese neoliberale Umgestaltung der Gesellschaft wirkt auf eine dreifache Weise angsterhöhend: zum einen durch ihre konkreten materiellen Folgen eines rasanten Wachsens sozialer Ungleichheit sowie einer wachsenden Zahl unsicherer und nicht mehr existenzsichernder Arbeitsverhältnisse. Zweitens durch die neoliberale Ideologie, die dem Individuum selbst die Schuld für ein Scheitern auf dem Arbeitsmarkt zuschreibt, da es sich sein berufliches Versagen durch fehlende Anstrengungen und eine mangelnde Anpassungsflexibiliät an den »Markt« selbst zuzuschreiben habe. Drittens durch einen Abbau und eine Zerstörung von traditionellen sozialen Instanzen, die eine angstreduzierende Funktion haben, indem sie Orientierung und gesellschaftliche Sicherheit vermitteln.“

Heutzutage stellen nicht nur der Staat, sondern sämtliche sozialen, medizinischen, pädagogischen, kulturellen oder kirchlichen Institutionen profitorientierte Unternehmen dar. Damit haben sie ihre Funktion für die Bevölkerung und das allgemeine Gemeinwohl eingebüsst. Sie, für deren Gründung und Weiterbestehen die vergangenen Generationen oftmals Jahrhunderte lang gekämpft haben, wurden innerhalb weniger Jahrzehnte zweckentfremdet und zu Stätten umfunktioniert, die ausschliesslich der Gewinnmaximierung und Umverteilung von Geldern dienen.

Der Neoliberalismus wird in den Demokratien nicht in Frage gestellt. Vielmehr wird die Schuld für die zahlreichen Missstände und Krisen letztlich immer der Bevölkerung angelastet und manchmal auch den anonymisierten Staatsbehörden, wo die Anschuldigungen im Getriebe der Geschäftigkeit untergehen. Doch wie jede Ideologie hat auch der Neoliberalismus eine Achillesferse, eine für die Nutzniesser folgenschwere Schwachstelle. Denn er benötigt „einen starken Staat, um das durch seine Folgen entstehende gesellschaftliche Veränderungs- und Empörungspotential zu neutralisieren, also um Dissens zu kontrollieren, einzuhegen und notfalls auch gewaltsam zu bekämpfen und um die ökonomisch »Überflüssigen« zu disziplinieren“, wie Mausfeld schreibt.

Die neoliberale Ideologie spiegelt keine politische Rationalität wider, sondern ist ein ausschliesslich gewinnorientiertes Programm. Weder die Variable „Mensch“ noch irgendwelche „Gesellschaftsfragen“ spielen in ihren Bilanzen eine Rolle, solange sie nicht als Ersatzobjekte für die eigenen Zwecke eingespannt werden können; alles was sich ausserhalb des Marktes und der Börsen abspielt, ist für sie irrelevant. Gesellschaftliche wie auch individuelle Konflikte werden ausgeblendet, Elend und Tod von ihren Anhängern und Anhängerinnen mit einem Schulterzucken hingenommen. Der Sozialpsychologe Mausfeld hat die heutige, nur noch von Angst regierte Lebenswelt unter anderem mit den Worten umschrieben:

„Der Neoliberalismus hat eine neue Kategorie menschlichen Tuns hervorgebracht, nämlich Taten ohne Täter. Damit hat er den Opfern dieser Taten die Möglichkeit genommen, diese Taten als menschliche Taten zu verstehen, sie Tätern zuzuweisen und aus diesen Taten angemessene Konsequenzen für ein gesellschaftliches Handeln zu ziehen.“

Der Kapitalismus muss rassistisch sein, um Benachteiligung und Ausbeutung als notweniges Vorgehen zu legitimieren. Um die extreme Ungleichheit in den kapitalistisch-neoliberalen Demokratien zu rechtfertigen, bedienen sich die Politiker/innen daher auch regelmässig rassistischer Sprachbilder. Sie haben den Vorteil, dass sie systematisch Angst vor dem „Andersartigen“ schüren und gleichzeitig erfolgreich die Machtzunahme der rechtsradikalen Parteien unterstützen, die bei Bedarf als neue politische „Feinde“ in den Fokus der Öffentlichkeit gerückt werden können. Aus diesem Grunde spielen im neoliberalen System auch die Überzeugungen des Sozialdarwinismus und mit ihm die Meritokratie eine ganz bedeutende Rolle.

 

„Mag sich der Leviathan des Neoliberalismus auch die Verkleidung einer kapitalistischen Demokratie geben, so bleibt er ein autoritäres und quasi-totalitäres System, das – in sich flexibel ändernden Formen – jederzeit bereit ist, auf autoritären Wegen sein zentrales Ziel durchzusetzen und zu erhalten, nämlich eine gegen alle demokratischen Einflüsse geschützte Ausbeutung der Vielen zu Gunsten der Wenigen. Das demokratische Versprechen einer größtmöglichen Freiheit von Angst ist damit hinfällig geworden. Mehr noch: Der Neoliberalismus produziert nicht nur systematisch den Rohstoff »Angst«, sondern hat die Psychotechniken einer auf Angsterzeugung basierenden Sicherung seiner Stabilität zur Perfektion verfeinert.“

 

 

Strukturelle Gewalt und gesellschaftliche Ängste
Thea von Harbou

Abb. 5) Thea von Harbou (1888-1954): In ihrem Roman „Metropolis“ (1925) stellt die deutsche Schriftstellerin eine Zweiklassengesellschaft dar, die von der Ausbeutung der Arbeiter durch eine reiche Elite beherrscht wird. Ihr Ehemann Fritz Lang verfilmte das Buch 1927 und musste viel Kritik einstecken. Heute gilt seine Arbeit als eines der bedeutendsten Werke der Filmgeschichte.

Den Denkern und Denkerinnen des 20. Jahrhunderts war sehr schnell klar, dass die auf dem „Prinzip „Frucht“ aufbauende, autoritäre Herrschaftsgewalt nicht nur in den Diktaturen der Nationalsozialisten oder Faschisten, sondern auch in den kapitalistisch-individualistischen Demokratien ausgeübt wird. Zu den Wenigen, die sich nicht davor scheuten diese Wahrheit auch laut auszusprechen, gehört der Sozialpsychologe Alex Carey (1922-1987), der sagte: „Das zwanzigste Jahrhundert war durch drei Entwicklungen von großer politischer Bedeutung gekennzeichnet: das Wachstum der Demokratie, das Wachstum der Unternehmensmacht und das Wachstum der Unternehmenspropaganda als Mittel zum Schutz der Unternehmensmacht vor der Demokratie.“

Das 20. Jahrhundert war das Jahrhundert der Grosskonzerne und Monopolisten, die mit ihrem vielzitierten Versprechen, Kapitalismus und Individualismus brächten dem Grossteil der Menschen Freiheit und Glück, ihre heutige autoritäre Herrschaftsmacht manifestieren konnten. Parallel zu dieser Entwicklung veränderte sich auch die Funktion der politischen Vertreter/innen, die ihnen heute vor allem als Puffer dienen, um das Volk so gut wie möglich vom politischen Prozess fernzuhalten. Ihre Behörden und anderen Einrichtungen haben heute fast nur noch einen Zweck: die Interessen der Wirtschaft umzusetzen, indem ihre Angestellten die empörten Bürger/innen mittels der „strukturellen Gewalt“ kleinhalten und ihre Verfassungsrechte beschränken beziehungsweise vollständig aufheben. Dazu Mausfeld:

„Von den intellektuellen Gehilfen der Machteliten wurde rasch erkannt, dass Demokratie nur dann im gewünschten Sinne funktionieren kann, wenn es durch »Soft-Power«-Techniken gelingt, eine umfassende Entpolitisierung und politische Lethargie des Staatsvolkes zu erzeugen. … In dem Maße, wie ein Konsens der Alternativlosigkeit erzwungen werden konnte, wurde das von den Mächtigen gewünschte Ziel erreicht, dass sich Unbehagen, Unzufriedenheit, Empörung und Wut nicht mehr gegen die Zentren der Macht richten.“

Die strukturelle Gewalt zeichnet sich in erster Linie durch unübersichtliche Bearbeitungsprozesse aus, die Geschäftigkeit und damit eine rechtmässige Behandlung aller suggerieren sollen. Die unzähligen Formulare, widersprüchlichen Angaben, die sich ständig wechselnden Vorschriften oder Richtlinien und das ewige Verneinen der Zuständigkeit haben aber vielmehr den Zweck, die rechtlich gebundenen Bürger/innen ins Leere laufen zu lassen. Ihre prinzipielle Hauptfunktion besteht nur noch darin, die ungerechte Verteilung von Ressourcen, Steuergeldern oder Einkommen zu vertuschen sowie die Bildungs- und Berufschancen aber auch die Lebenserwartung der Benachteiligten unter anderem mittels Kürzung von Hilfsgeldern zu beschränken.

In den kapitalistisch-demokratischen Ländern, wo heutzutage Grossunternehmen die politische Macht besitzen und fast ausschliesslich Wirtschaftspolitik betrieben wird, ist der Staat zum Instrument der ökonomischen Eliten verkommen, die ihn vor allem auch zur Umverteilung der Steuergelder missbrauchen. Innerhalb dieser Entwicklung wusste sich das neoliberale Programm „global in allen meinungsprägenden gesellschaftlichen Schichten eine Breitenwirkung zu verschaffen, wie sie keine totalitäre Ideologie je zuvor erreicht hat“, wie Mausfeld schreibt. – Und dazu brauchten diejenigen, die es vorantrieben, nur wenige Jahrzehnte. Der Sozialpsychologe und Wahrnehmungsforscher hat die heutigen Zustände der Demokratien folgendermassen zusammengefasst:

„In welchem Ausmaß demokratische Rhetorik und gesellschaftliche Realität auseinanderklaffen, lässt sich nicht zuletzt daran ermessen, inwieweit die Machtausübenden darauf verzichten, gesellschaftliche Ängste – sei es über physische Gewalt, strukturelle Gewalt oder eine Manipulation der öffentlichen Meinung – systematisch zu schüren. Ein systematisches Erzeugen von gesellschaftlicher Angst entzieht der Demokratie die Grundlage, weil Angst eine angemessene gesellschaftliche Urteilsbildung blockiert und die Entschluss- und Handlungsbereitschaft lähmt. Freiheit von gesellschaftlicher Angst gehört unabdingbar zum Fundament von Demokratie. Autoritäre oder totalitäre Herrschaftsformen bedienen sich, im Unterschied zu demokratischen, offen einer systematischen Angsterzeugung und Einschüchterung der Bevölkerung. Sie erreichen dies beispielsweise mit einer totalitären Überwachung des privat-gesellschaftlichen Lebens, mit einer öffentlich demonstrierten Anwendung von staatlicher Gewalt und Terror, mit einem wuchernden Gefängnis- und Strafsystem oder einer offen praktizierten Anwendung von Folter.“

Die autoritäre Herrschaftsgewalt beraubt den Menschen seiner wahren Identität, indem sie unaufhaltsam die Furcht vor der Unterlegenheit, Wert- und Nutzlosigkeit schürt. Gleichzeitig verspricht sie den Anpassungswilligen ein neues Selbstbild, das vom Glauben an die eigene Überlegenheit dominiert wird. Auf der anderen Seite korrumpiert die Angstverbreitung jede politische Ordnung, warum sie auch als das primäre Prinzip der Alleinherrschaft bezeichnet wird. Denn wo keine wirklichen, sondern nur erfundene oder herbeigeredete Gefahren drohen, verkommt die auf der Furcht basierende „Herrschaft“ immer wieder aufs Neue zum Selbstzweck. Die kapitalistisch-demokratischen Staaten zeichnen sich zwar durch eine indirekte Gewaltausübung aus, doch auch sie produzieren mit Hilfe von Kontrollinstanzen und Angstrhetorik tagtäglich Angstvorstellungen, die ihrerseits die biologischen Abwehrmechanismen aktivieren und Psyche und Organismus schädigen.

 

„Angst führt zu einer massiven Verengung des Aufmerksamkeitsfeldes und des Denkens; eine kollektive Angsterzeugung lässt sich daher nutzen, um je nach Bedarf der Machtausübenden Vorgänge für die Öffentlichkeit unsichtbar zu machen. Angst blockiert die Befähigung, aus den eigenen gesellschaftlichen Erfahrungen angemessene Schlussfolgerungen zu ziehen. Schließlich intensiviert Angst das Bedürfnis nach Spannungsreduktion. Politisch wiederum lässt sich dies sehr wirksam nutzen, um gesellschaftliche Veränderungsenergien auf »Ablenkziele« zu richten oder um der Bevölkerung durch Konsumismus, Zerstreuung und Unterhaltung Angebote zur Spannungsreduktion zu machen und damit das Ausmaß ihrer Entpolitisierung zu steigern.“

 

 

Das meritokratische Märchen und Armutsängste
Charles Dickens

Abb. 6) Charles Dickens (1812-1870): Fast sein gesamtes Hauptwerk beschäftigt sich mit der Gleichgültigkeit und Hartherzigkeit der englischen Oberschicht sowie den durch sie verursachten sozialen Missständen, die sein Zeitalter dominierten. Die Verarmung breiter Schichten, die durch den Liberalismus ausgelöst wurde und seinerzeit erstmals besonders gravierend in Erscheinung trat, erhielt dazumal eine neue Bezeichnung: Pauperismus. Dass vor allem Kinder unter ihm zu leiden haben, wird von Dickens besonders am Beispiel seiner oft sehr jungen Hauptprotagonisten aufgezeigt.

Aus historisch-philosophischer Sicht besteht die Menschheitsgeschichte aus einer Anreihung von Krisenzeiten, die durch seltene und kurzzeitige Phasen der „grossen Hoffnungen“ unterbrochen werden. Sie zeichnen sich für gewöhnlich als eine Zeit der politischen Stabilität und der Wirtschaftsblüte aus. Der moderne Mensch hat sich jedoch mit der Erfindung des selbstregulierenden Marktes eine künstliche Welt der „ewigen Hoffnungen“ geschustert. Sie verspricht die Erfüllung aller Wünsche und Gelüste durch den Konsum, für den man jedoch arbeiten und Geld verdienen muss. Und wer bereit ist, noch mehr als andere zu leisten – so die „neue Verheissung“ –, der kann sogar noch mehr konsumieren und noch sehr viel mehr Glück erleben.

Das 20. Jahrhundert der „grossen Verheissung“ wurde durch den „Grossen Krieg“ eingeläutet, wie man der Ersten Weltkrieg zu jener Zeit nannte. Ihm folgte nur zwei Jahrzehnte später ein Zweiter Weltkrieg nach. Die Ereignisse haben vor allem in Europa nicht nur eine schwer traumatisierte Mehrheit hervorgebracht, sondern auch eine Masse von Arbeitern und Verwaltungsangestellten. Sie wollten ihre alte Angst vor Schmerz, Krankheit und Tod durch den Konsum betäuben, zukünftig sorglos sein und jeden Tag nach der geistzermürbenden Arbeit Spass haben. Die Minderheit wiederum, die für die Katastrophen verantwortlich war, hatte bereits während der Kriegs- und Krisenjahre kaum unter Hunger, Krankheiten und Tod zu leiden. Dies ist wohl auch der Grund, warum sie auch nach dem grossen Trauma nicht aufhören konnte, den Untergang der eigenen Kultur und die Unterdrückung durch fremde Mächte zu prophezeien. Für die besitzenden Eliten ging das Gerangel um die Weltherrschaft und die Monopolstellung als Weltwirtschaftsmacht daher auch weiter. Nur die Vorgehensweisen änderten sich.

In den Demokratien regiert nicht die Gewalt, sondern das Geld, mit dessen Hilfe gewaltsam Abhängigkeitsverhältnisse geschaffen werden. Mausfelds Überzeugung nach ist der individualisierte Kapitalismus, der dem Liberalismus und Neoliberalismus als Ausgangsideologie diente, besonders anfällig für Krisen, warum er „zusätzliche Herrschaftstechniken der Angsterzeugung benötigt, damit die Kluft zwischen demokratischer Rhetorik und kapitalistischer Realität nicht in den Fokus der öffentlichen Aufmerksamkeit gelangt.“ Heute bedienen sich die Eliten seiner Darstellung nach vor allem dreierlei Taktiken, um ihre Interessen in der Öffentlichkeit durchzusetzen und den Schein der Gewaltlosigkeit aufrechtzuerhalten:

 

1) Die Entformalisierung des Rechts durch systematische Verwendung nicht präzisierter Rechtsbegriffe, die willkürlich interpretiert werden und mit denen sich Wirtschaft und Politik jeglicher Verantwortung entziehen können.

2) Die propagandistische Erzeugung von angeblichen Bedrohungen (Feindbilder), die mittels Psychotechniken entwickelt und durch die Medien verbreitet werden.

3) Die Durchsetzung der meritokratischen Ideologie, die der Bevölkerung suggeriert, dass jeder seine verdiente, gesellschaftliche Position einnimmt und die Reichen ihren Reichtum, die Armen wiederum ihre Armut verdient haben.

 

Der moderne Mensch fürchtet kaum etwas mehr als den sozialen Ausschluss und somit die Armut, die heute aus gesellschaftlicher Sicht den hauptsächlichen Isolationsgrund darstellt – sowohl im öffentlichen als auch privaten Raum. Die Verarmung droht ihm aber nicht nur dann, wenn er sich rebellisch gegen das herrschende politisch-wirtschaftliche „System“ stellt, sondern auch dann, wenn er sich ihm in allen Bereichen anpasst. Für die „Herrschaft“ selbst stellt dieser Widerspruch kein Problem dar, auch wenn in den Medien die gegenteilige Meinung Verbreitung findet. Denn tatsächlich profitieren Politik und Wirtschaft ganz enorm von der Bedürftigkeit der Massen, die durch die Umverteilung der Gelder, Streichung von Arbeitsplätzen sowie durch eine Beschränkung der Berufschancen und Bürgerrechte vorangetrieben wird.

„Armut und Armutsängste sind der beste Garant der gewünschten politischen Lethargie der Bevölkerung“, ist Mausfeld überzeugt. In seinem Buch „Angst und Macht“ führt er detailliert auf, auf welche Art und Weise die Verarmung der Mehrheit von den Wirtschaftseliten angestrebt wird, um ihre Passivität zu fördern und ihre aktive Mitwirkung am politischen Geschehen zu verhindern. Ein weiterer Vorteil für die Eliten sieht er in der Beschränkung der Lebenserwartung, die nachweislich durch die Armut herabgesetzt wird (u.a. schlechtere Gesundheitsversorgung). Darüber hinaus werden durch die Bedürftigkeit gerade diejenigen diszipliniert und kaltgestellt, die eigentlich das grösste Interesse an einer sozialpolitischen Veränderung haben sollten.

Der Soziologe Norbert Elias zeigt in seinem Hauptwerk auf, wie sich seit dem 17./18. Jahrhundert die Furcht zum Leit- und Handlungsmotiv der Weltbevölkerung wandelte und sich in der Arbeitswut des modernen Bürgers manifestierte. Seine Grundüberzeugungen hat er unter anderem mit den Worten zusammengefasst: „Die Angst vor dem Verlust oder auch nur vor der Minderung des gesellschaftlichen Prestiges ist einer der stärksten Motoren zur Umwandlung von Fremdzwängen in Selbstzwänge.“ Der Sozialpsychologe Rainer Mausfeld vertritt dieselbe Ansicht. Und auch er geht auf das Märchen vom gesellschaftlichen Aufstieg ein, das unter dem Namen „Meritokratie“ bekannt ist und letztlich ganz wesentlich zur Durchsetzung der „informellen Arbeit“ beigetragen hat. In seinem Buch schreibt er:

„Zu den strukturellen Verhältnissen, über die sich systematisch Angst erzeugen lässt, gehört vor allem der kapitalistische Zwang zur Lohnarbeit und die mit ihr verbundene Ideologie der Meritokratie, also die Ideologie, dass die sozialen Positionen in einer Gesellschaft durch die erbrachten Leistungen und die erworbenen Verdienste bestimmt seien. Zu den gesellschaftlichen Verhältnissen, über die sich Angst erzeugen lässt, gehören das Rechtssystem, Schul- und Ausbildungssysteme sowie alle Institutionen, in denen staatliche Macht ihren Ausdruck findet.“

Politiker und Ökonomen prognostizierten Ende des 20. Jahrhunderts voller Stolz: im 21. Jahrhundert wird nur noch 1/5 der Weltbevölkerung dazu nötig sein, das globalisierte Weltwirtschaftssystem aufrecht zu erhalten (Martin/Schumann). Gemäss einem Bericht der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OEDC) wiederum nimmt nicht nur die Zahl an Arbeitsplätzen ab, es wächst auch die Gruppe derjenigen Arbeitskräfte an, die für ihre Arbeitsleistung keinen Lohn mehr erhalten. 2009 stand diese als „informelle Arbeit“ bezeichnete sklavische Ausbeutung erstmals auf ihrem Höchststand und betraf die Hälfte der erwerbstätigen Weltbevölkerung. Schätzungen der OEDC zufolge sind es heute mindestens 2/3, die zur unbezahlten Arbeit genötigt werden.

Arbeitslose und Sozialhilfeempfänger, die dank einem rigorosen Bildungsmanagement grösstenteils qualifizierte bzw. hochqualifizierte Ausbildungen vorweisen können, werden heute gezwungen, für ein nicht einmal mehr existenzsicherndes Sozialgeld zu arbeiten, um die Schaffung neuer Arbeitsplätze zu umgehen; Auszubildende und Studierende wiederum müssen als Praktikanten immer mehr unentgeltliche Arbeitseinsätze leisten, da die Bildungsanstalten ihnen ansonsten ihre Diplome vorenthalten; Familien werden genötigt, ihre kranken Angehörigen selber zu betreuen, da die von ihnen bezahlten Krankenkassen sich weigern, für eine fachmännische Betreuung aufzukommen; Grosskonzerne zwingen ihre Konsumenten unentgeltlich für sie zu arbeiten (und nicht selten für diese Arbeitsleistungen auch noch zu bezahlen), wie sich unter anderem am Beispiel des E-Bankings oder der Scannerkassen in den Einkaufscentren zeigen lässt, um Personalkosten einzusparen und auf diesem Wege Profite zu generieren usw. Doch einen sozialen Aufstieg bewirken alle diese „Leistungen“ nicht.

Eine Bevölkerung wird heute grob in eine Unter-, Mittel- und Oberschicht unterteilt, doch der Mittelstand existiert mittlerweile schon seit Jahrzehnten nur noch pro forma, wie sich unter anderem an den massiven Lohnkürzungen aufzeigen lässt. Zwar werden nicht nur die Unterprivilegierten und Möchtegernaufsteiger beim Anblick von Armut von Existenzängsten gepackt, sondern auch die Besitzenden. Sie alle versuchen jedoch diese aufgrund ihrer unterschiedlichen Selbstwahrnehmung auch unterschiedlich zu bewältigen. Die meritokratische Ideologie, die dazu erdacht worden ist, soll in erster Linie verschleiern, dass zwischen den verschiedenen Sozialschichten ein gesellschaftliches Beziehungsgeflecht besteht, das grossen Einfluss auf dessen Entwicklung nimmt und Hauptgrund für das Vorkommen von Armut ist. In diesem Sinne schreibt auch Mausfeld:

„Die Ideologie einer Leistungsgesellschaft, in der der gesellschaftliche Status eines Menschen durch seine individuell erbrachten Leistungen bestimmt sei, ist so tief in unserer Kultur verankert, dass wir sie gar nicht mehr als Ideologie bemerken. Schule, Universitäten und der gesamte Bildungsbereich dienen ihrer Verbreitung und sind auf ihrer Grundlage organisiert. Sie führt bei denjenigen, die nicht zu den sozial glücklich Gestellten einer Gesellschaft gehören, dazu, dass diese sich die Ursachen für ihre Situation selbst zuschreiben. Sie erzeugt daher bei einem großen Teil der Bevölkerung angst- und schamauslösende Versagensgefühle. Diese werden jedoch nicht als Realangst ungerechten sozialen Verhältnisse zugeschrieben und in eine gesellschaftliche Veränderungsenergie umgesetzt. Vielmehr werden die gesellschaftlichen Verhältnisse, die nicht mehr als etwas Überwindbares und Abänderbares erkannt werden können, gleichsam nach innen verlegt. Die Versagensängste werden zu Binnenängsten, die eine lähmende Scham erzeugen können und dadurch wiederum zu einer Entpolitisierung beitragen.“

 

„Der Kreis derjenigen, die die tatsächlichen Zentren globaler politisch-ökonomischer Macht repräsentieren, hat sich im Rahmen der neoliberalen Revolution dramatisch verringert (eine Machtkonzentration, die sich durch die Digitalisierung noch einmal massiv verstärken wird). Zugleich sind diese hochgradig vernetzten Personengruppen für die Öffentlichkeit als Repräsentanten der Zentren der Macht praktisch unsichtbar und jeder Art demokratischer Rechenschaftspflicht entzogen. Ihre durch ein riesiges Netz von Think-Tanks koordinierte ideologische Homogenisierung und ihre streng autoritäre interne Organisationsform geben ihnen einen überwältigenden Einfluss auf alle relevanten politischen Entscheidungen und auf alle relevanten Fragen politischer Planungen.“

 

 

Das geängstigte Selbst
Aldous Huxley (1947)

Abb. 7) Aldous Huxley (1894-1963): Kaum jemand wird so oft in der Wissenschaftsliteratur zitiert wie Huxley, wenn es um das Problem der autoritären Gewalt in den modernen Demokratien geht. In seinem futuristischen Roman „Brave New World“ (1932) beschreibt er den modernen Menschen, der ohne Identität ist und ein hedonistisch-narzisstisches Leben führt. Sein Antiheld, der sich gegen die staatlich-totalitäre Kontrolle mittels Dauerkonsums und verschriebener Droge wehrt, begeht am Ende Selbstmord.

Das 20. Jahrhundert war das Jahrhundert der Ideologien, die immer eine „bessere Welt“ und vor allem einen „neuen Menschen“ versprechen. Sie ebneten nicht nur den autoritären Regimen und beiden Weltkriegen den Weg, sondern auch der vollständigen Entmenschlichung durch Gesetz und Bürokratie. Die neoliberale Ideologie, die ganz besonders von dieser Entwicklung profitierte, hat den modernen Menschen zur „Sache“ umfunktioniert und ihn emotional vollständig von seinen Artgenossen isoliert. Und doch ist die grösste Angst des modernen Menschen auch heute noch die Angst vor dem gesellschaftlichen Ausschluss, den er mit Inexistenz und Tod gleichsetzt.

Das Mensch- und Weltbild der kapitalistischen Demokratie baut nicht mehr auf ethisch-religiösen Grundsätzen, sondern individuellen Interessen Einzelner auf. Die autoritäre Herrschaft ist ausschliesslich am Erhalt ihrer „Herrschaftsmacht“ und nicht am „Gemeinschaftswohl“ interessiert, das ja vor allem Kosten verursacht. Um die Eigeninteressen durchzusetzen, werden aufmüpfige Mitglieder willkürlich aus der Gesellschaft ausgeschlossen und alle sozialen Ängste darauf ausgerichtet, das Gefühl der Minderwertigkeit im Volk zu verankern und die Eigenwahrnehmung zu trüben. In diesem „System“ existiert das Individuum nicht, sondern ist nur Teil einer unpersönlichen Masse.

Der Mensch ist sowohl ein Natur- als auch ein Kultur- und Sozialwesen. Der moderne Mensch jedoch bleibt sich selber fremd, warum er sich auch durch ein „gespaltenes Ich“ auszeichnet. Um in der heutigen Lebenswelt überleben zu können, muss er schliesslich seine Mitmenschen als Konkurrenten betrachten und auf allen Ebenen des gesellschaftlichen Lebens bekämpfen. Und um dies tun zu können, ist er gezwungen, sich emotionell vollständig von ihnen zu distanzieren. Um nicht den „sozialen Tod“ sterben zu müssen ist er dazu verdammt, die Ängste der Eliten zu verinnerlichen und sich deren immense Angst vor Macht- und Prestigeverlust zu eigen zu machen. Und dies tut er, obwohl diese Art der Angstabwehr sein Überleben in keiner Weise verbessert – ganz im Gegenteil.

Obwohl Politik und Wirtschaft immer wieder werbeträchtig das „Individuum“ beschwören, ist die Vorstellung von ihm nur Mittel zum Zweck, wie Mausfeld immer wieder betont. Der selbstentfremdete Mensch von heute hat vergessen, dass er den Launen Einzelner ausgeliefert ist. Der Solidaritätsgedanke hat in den modernen Demokratien spätestens nach der Symbiose mit dem Kapitalismus seine Bedeutung als Mittel des Zusammenhalts eingebüsst. Dies ist vor allem am Beispiel des herrschenden Menschenbilds nachvollziehbar, das die von „oben“ diktierte Selbstzerfleischung als Tugend beschwört. Dazu Mausfeld:

„Der Neoliberalismus ist sehr erfolgreich in seinem Bemühen, die Opfer seiner Transformationsprozesse dazu zu bringen, sich ihre Situation »als normale Folge von Fehlverhalten« selbst zuzuschreiben. Wenn sich erst die Verlierer einer neoliberalen Gesellschaftsordnung für ihre Situation selbst verantwortlich machen, bedarf es keiner großen propagandistischen Bemühungen mehr, sie für gesellschaftliche Gegenwartsprobleme insgesamt verantwortlich zu machen und politische Veränderungsenergien in einen Hass auf die Schwachen und Armen zu transformieren und auf diese Weise zu neutralisieren.“

Die primären Erzeuger der Angst erfuhren im Verlaufe des Zivilisationsprozesses eine Anonymisierung, während sich die Bürger und Bürgerinnen zu „gläsernen Menschen“ wandelten, die der ständigen Gewalt ausgesetzt sind. Die Angst vor Strafe und Isolation wiederum führt dazu, dass sie ihre Persönlichkeit dem autoritären Gegenüber anpassen, immer wieder „in eine andere Haut schlüpfen“ und sich als eine andere Person verkaufen müssen, wodurch sich ihr eigenes „Ich“ nicht nur sprichwörtlich in mehrere Persönlichkeiten „aufspaltet“. Die auf diese Weise sich manifestierende Selbstentfremdung hat Mausfeld unter anderem folgendermassen umschrieben:

„Die vorgeblichen Sachzwänge ökonomischer Konkurrenzverhältnisse erzwingen eine Fragmentierung des Selbst in multiple Rollen, die kontinuierlich an Markterfordernisse anzupassen seien. … Das neoliberale Subjekt ist also für sich selbst Kapital, Einkommensquelle und Produzent zugleich; es ist Designer seiner Identität, macht mit sich selbst Zielvorgaben und ist sein eigener Coach. … Der neoliberalen Ideologie des unternehmerischen Selbst zufolge stellen alle sozialen Beziehungen vorrangig Konkurrenzverhältnisse dar. Individuen seien lediglich als Humankapital zu betrachten und somit Kriterien einer Profitmaximierung zu unterwerfen. Da ein jeder ein Unternehmer seiner selbst sei, müsse er durch unermüdliche Anstrengungen die nötigen Anpassungsleistungen erbringen, um auf dem Markt erfolgreich zu sein. Unter dem Einfluss der neoliberalen Ideologie des unternehmerischen Selbst werden Fremdzwänge in Eigenzwänge umgedeutet, und Selbstausbeutung geht paradoxerweise mit dem Gefühl von Freiheit einher. … Die Unsicherheit, ob man in einer konkreten Situation flexibel genug ist, die richtigen Anpassungsleistungen angesichts der Unvorhersehbarkeit des Marktes zu erbringen, führt zu dauerhafter Anspannung und zu einer Intensivierung der Anpassungsanstrengungen. Daher kann eine Person die Haltung eines unternehmerischen Selbst nur um den Preis psychischer Deformationen annehmen. Da die Ideologie des unternehmerischen Selbst auf einem empirisch hochgradig unangemessenen Menschenbild beruht, also der tatsächlichen Beschaffenheit unseres Geistes zuwiderläuft, überrascht es nicht, dass diese Entwicklungen mit zunehmenden narzisstischen und Borderline-Störungen, mit Burn-out, schweren Depressionen und Angststörungen einhergehen.“

Ganz besonders von Angsterkrankungen jeglichen Couleurs betroffen sind die Leute der ebenfalls nur noch pro forma existierenden Mittelschicht, die von den Eliten zumeist mit schönen Worten und Versprechungen hingehalten werden. Vor allem sie, die nur allzu oft als die Handlanger der Gewaltherrschaft auftreten, glauben an das meritokratische Märchen und den traumhaften sozialen Aufstieg. Tatsächlich aber stehen die Mittelständischen sozusagen als lebender Schutzschild zwischen den in der Anonymität lebenden Eliten und den verarmten Massen, damit das Gefüge nicht zusammenbricht. Sie sind es daher auch, von denen aus die modernen Verflechtungszwänge und gesellschaftlichen Ängste eine Verbreitung finden. Dazu Mausfeld:

„Das zunehmende gesellschaftliche Sichtbarwerden von Prekarisierung und ihren Folgen beunruhigt auch die sozioökonomisch mittleren Schichten. Sie erleben eine wachsende materielle Unsicherheit über den Erhalt ihres sozialen Status’ und müssen die damit verbundenen Abstiegsängste psychisch bewältigen. … Die damit verbundenen Psychodynamiken, wie sie in der Traumatisierungsspirale beschrieben sind, lassen sich wiederum für Zwecke einer Machtstabilisierung nutzen. Gerade die Abstiegsängste erhöhen die Neigung der Betroffenen, den jeweiligen Status quo zu rechtfertigen und zu verteidigen.“

„Gerade die Besserweggekommenen sind ängstlich auf die Bewahrung und Verteidigung ihres Status quo fixiert und begegnen allen Bemühungen um die Schaffung einer menschenwürdigeren Gesellschaft mit Misstrauen und Ablehnung“, schreibt Mausfeld weiter. Doch die Leute der Mittelschicht üben nicht nur stellvertretend für die Oberschichten gesellschaftliche und strukturelle Gewalt aus. Die negativen Auswirkungen ihres Anpassungsbemühens offenbaren sich auch besondere oft an den von ihnen begangenen Gewaltanwendungen innerhalb des Privatraums, die ebenfalls eine Atmosphäre der Angst erschaffen. Sie werden in der Forschung zumeist unter den Begriffen der „psychischen“ und „emotionellen“ Gewalt behandelt und spielen sich für gewöhnlich ebenfalls in der Anonymität ab.

 

 

Mangel = Lebensangst
Henry David Thoreau

Abb. 8) Henry David Thoreau (1817-1862): Thoreau war ein amerikanischer Philosoph, Schul- und Fabrikleiter. Bekanntheit erlangte er durch sein Essay „Über die Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat“ (1849) und sein Buch „Walden“ (1854), in dem er sein ungefähr zweijähriges Leben im Wald beschreibt. Sein Aussteigerexperiment sollte unter anderem aufzeigen, wieviel ein Lohnarbeiter verdienen muss, um seine existenziellsten Bedürfnisse decken zu können.

Die Funktion der biologischen Angst ist klar definiert: sie gewährleistet das körperliche und geistige Überleben – nicht mehr und nicht weniger. Die Lebenserwartung ist dem Menschen zwar genetisch einprogrammiert, ob er sie jedoch erreicht, ist in erster Linie abhängig von der Befriedigung seiner Bedürfnisse und Triebe. Erleidet er Mangel, kann sie sich verkürzen. Aus diesem Grunde ist die Angst auch die stärkste Triebkraft des Menschen. Schliesslich tut sie alles, damit ihr Wirtskörper keinen Mangel erleiden muss.

Die Lebensbedingungen, die durch die neoliberale Ideologie geschaffen werden, stellen im Wesentlichen einen erzwungenen Mangelzustand dar. Kaum verwunderlich also, dass der zur Lohnarbeit Gezwungene eher früher als später an ihren biologischen Mechanismen erkrankt. Wie Mausfeld immer wieder betont, ist es die völlige und grundsätzliche Unwissenheit darüber, was die Zukunft bringt, die ihn in ständiger Unruhe und Sorge hält. Denn im heutigen Gesellschaftssystem kann sich niemand mehr in Sicherheit wiegen und Pläne schmieden, niemand kann auf die Befriedigung seiner wirklichen, natürlichen Bedürfnisse hoffen oder hinarbeiten, ist doch alles mit dem Faktor „Arbeitsstellen“ verknüpft – und sie werden in rasantem Tempo abgeschafft. Mausfeld hat die Zustände mit folgenden Worten zusammengefasst:

„Neoliberale Transformationsprozesse brachten eine stetig wachsende Welt von Lebensverhältnissen hervor, die durch eine geringe Sicherheit des Arbeitsplatzes gekennzeichnet sind. … [Sie] zielen darauf, die historisch in langen sozialen Kämpfen errungene stabile Verknüpfung von Lohnarbeit mit starken sozialen Schutzmechanismen aufzulösen und die Grenzen zwischen sicheren und prekären Arbeitsverhältnissen und damit zwischen Armut und Erwerbsarbeit zunehmend fließend werden zu lassen. Berufliche und soziale Unsicherheit sind zu einem Massenphänomen geworden. … Prekär Erwerbstätige müssen ihren Lebensunterhalt in einem sich stetig verändernden unberechenbaren Bereich von befristeten Tätigkeiten, Minijobs, Leiharbeit und Ähnlichem erwerben und leben in der permanenten Bedrohung eines sozialen Abstiegs, da diese Arbeitsverhältnisse jederzeit widerrufen werden können. Eine auf die eigene gesellschaftliche Zukunft ausgerichtete Lebensplanung ist also innerhalb prekärer Arbeits- und Lebensverhältnisse nicht möglich.“

Der Mensch im neoliberalen System wurde zum „Mangelwesen“ (Gottfried Herder) herabgewürdigt, da er sich der von ihm geschaffenen, feindlichen Lebenswelt nicht anpassen kann. Er lebt im Dauerzustand der Angst, den er heute vor allem als „Stress“ betitelt und der ihm zur zweiten Natur geworden ist. Zumeist ist ihm dies aber überhaupt nicht mehr bewusst, da „alle im Stress sind“. Obwohl ständig mit neuen Problemen konfrontiert, kann er ihre wahren Verursacher nicht mehr identifizieren und somit auch nicht mit einem Flucht- oder Angriffsverhalten auf sie reagieren. Auch gegenüber (angeblich) vertrauten Personen kann er seine Befürchtungen nicht artikulieren, warum er auf kein Verständnis hoffen kann und sich aus Scham die Selbstisolierung auferlegt. Dazu Mausfeld:

„Die eigene soziale Lebenswelt wird dabei in grundsätzlicher Weise als undurchschaubar, unvorhersehbar, unberechenbar und durch eigenes Handeln nicht mehr beeinflussbar erklärt. Ein Gefühl des Verlustes von Kontrolle über die eigene gesellschaftliche Situation ist die zwangsläufige Folge. Daraus resultierende gesellschaftliche Ängste können nicht mehr durch eigenes Handeln bewältigt werden oder in einem solidarischen Wir aufgefangen werden. Im Zuge neoliberaler Transformationsprozesse wurden nämlich gerade diejenigen gesellschaftlichen Instanzen systematisch geschwächt oder zerstört, die – auf Anerkennung und Solidarität beruhend – angstreduzierend wirken. Damit sind die Wege zu einer solidarischen Bewältigung der aus diesen Kontrollverlusten resultierenden Ängste verstellt.“

Die Wirtschaftseliten leben ein Leben in fast vollkommener Anonymität. Sie treten nur noch in Form von Regierungen, Grosskonzernen und spezialisierten Institutionen auf. Ihre Macht wiederum üben sie nur noch in Form von intransparenten und komplexen Gesetzesregelungen oder mit Hilfe einer künstlich aufgeblähten Bürokratie aus, die dem Mangel an individuellen Entfaltungsmöglichkeiten, beruflichen Chancen und Arbeitsplätzen Vorschub leisten sollen. Auf diesem Wege, so Mausfeld, versuchen sie „Binnenängste“ auszulösen, die im Gegensatz zur „Realangst“ (Sigmund Freud), weniger konkret hervortreten und vor allem auf psychischer Ebene entstehen:

„Binnenängste lassen sich naturgemäß besonders gut für Machtzwecke ausnutzen. Da im Gegensatz zur Realangst die Binnenangst keinen erkennbaren Bezug mehr zu einem externen angstauslösenden Objekt hat, blockiert sie auch die Möglichkeit, durch aktives Handeln oder durch rationale Verarbeitung die Angst bewältigen zu können. Binnenangst bleibt in der Person gefangen, sie wird als gegenstandslose, kaum konkretisierbare Grundstimmung in das eigene Leben aufgenommen, lähmt die betroffene Person, zehrt ihre Energien auf und verstärkt ihre Neigung zu Rückzug, Isolation und schließlich zu Regression und Apathie. … Die Transformation von Realangst in Binnenangst stellt eine zentrale Herrschaftstechnik dar.“

Empirische Untersuchungen der Neurowissenschaften haben belegt: das Gehirn macht keinen Unterschied zwischen physischer oder psychischer Gewalt. Beide prägen und schädigen sowohl Körper als auch Geist auf irreversible Art und Weise, ohne dass der Mensch etwas dagegen tun kann. Die von den Oberschichten geschürten Ängste, um ihre eigene Furcht vor Prestige- und Machtverzicht zu bewältigen, fanden bereits vor langer Zeit Eingang ins demokratische Kollektivgedächtnis. Sie haben zu einem Mangel an Selbstvertrauen und Entscheidungskraft geführt aber vor allem und ganz besonders zu einer mangelnden Selbstkenntnis, was letztlich in besonderem Masse zur Erkrankung von Psyche und Organismus beiträgt. Dazu Mausfeld:

„Prekäre materielle Lebensbedingungen erzeugen zusammen mit den beiden genannten ideologischen Deutungsrahmen einer grundsätzlichen Undurchschaubarkeit und Unbeeinflussbarkeit der gesellschaftlichen Situation sowie der Ideologie des unternehmerischen Selbst eine sich selbsterhaltende Endlosspirale diffuser Angst, die in besonderer Weise als Psychotechnik der Machtstabilisierung geeignet ist. … Obwohl die Verlierer neoliberaler Transformationsprozesse und diejenigen, die auf diese Umgestaltung von Lebens- und Arbeitsbedingungen mit Abstiegsängsten und Ängsten vor dem Verlust ihres sozialen Status reagieren, nicht einfach Leidtragende von Naturgesetzlichkeiten globalisierter Märkte sind, sondern Opfer konkreter Entscheidungen der Machtausübenden, werden sie durch Psychotechniken, die auf eine Transformation von Angst in Binnenangst zielen, dazu gebracht, ihre Situation als selbst verschuldet anzusehen.“

 

 

Psychotechniken und ihre Schöpfer
Epikur

Abb. 9) Epikur (um 342/41-271/70 v. Chr.): Am Beispiel Epikurs ist die Geschichtsfälschung, die heutzutage in den demokratischen Wissenschaften ausgiebig betrieben wird, gut aufzuzeigen. Er wird als philosophischer Vater des Lustprinzips verkauft, um den radikalen Hedonismus der neoliberalen Gesellschaft zu rechtfertigen. Tatsächlich definierte Epikur jedoch die „Lust“ als die Abwesenheit von Schmerz und Angst. In seiner Lehre stellen Genügsamkeit und Mässigung die höchsten Tugenden dar.

Die hohe Arbeitsbelastung und der psychische Druck von „oben“ gehen nicht nur allzu oft mit psychischen Angststörungen, Depressionen sowie Stresszuständen einher –, die sich insbesondere durch Kopf- und Rückeschmerzen, Schwindel- und Zitteranfälle sowie anhaltende Müdigkeit äussern. Sie werden auch nur allzu gerne mit Suchtmitteln und eigener Gewaltausübung bekämpft. Während die Wirtschaftseliten ihre Profite maximieren und unverdient Privilegien geniessen, werden die „in Furcht Versetzten“ immer kränker. Da die zerstörerischen Effekte des Neoliberalismus‘ der Bevölkerung auf Dauer nicht verborgen bleiben, lässt sich ihr Projekt auf demokratischem Wege nicht ohne eine Manipulation des Bewusstseins durchsetzen.

Der Kognitionsforscher Mausfeld ist einer der wenigen Wissenschaftler, welche die grundlegende Verantwortung und folgenschwere Mitwirkung von Psychologie und Sozialwissenschaft bezüglich der immensen pathologischen Auswirkungen des Neoliberalismus’ in den Mittelpunkt rücken. Schliesslich sind ihre Fachleute nicht nur diejenigen, die den herrschenden Eliten die nötigen Methoden und Fachkenntnisse zur Verfügung stellen, um erfolgreich die Volksmanipulation zu bewerkstelligen und Anpassungszwänge auszuüben. Sie sind auch die Einzigen, die im Gegenzug von denselben offiziell dazu bevollmächtigt werden, die Leute mit Angststörungen oder einer Depression zu behandeln. Dazu Mausfeld:

„Aus machttechnischer Sicht haben Ängste den Vorteil, dass sie leicht zu erzeugen sind und sehr viel tiefergehende psychische Auswirkungen auf unser Handeln und unser Nichthandeln haben als beispielsweise Meinungen. Durch eine systematische Erzeugung geeigneter Ängste lassen sich Denken und Handeln sehr viel wirksamer steuern als mit traditionellen Techniken eines Meinungsmanagements. … Um die kapitalistische Demokratie für die Zentren der Macht risikofrei zu gestalten, wurde Anfang des vergangenen Jahrhunderts in den USA mit hohem Aufwand und unter massiver Beteiligung der Sozialwissenschaften und der Psychologie ein breites Arsenal von Techniken der Meinungs- und Affektmanipulation, der Kontrolle und Zersetzung emanzipatorischer Bewegungen sowie der Begrenzung von Dissens entwickelt. … Zu den Psychotechniken der Angsterzeugung gehört vor allem die propagandistische Erzeugung einer massiven vorgeblichen Bedrohung, die entschlossen zu bekämpfen vordringliche Aufgabe der Bevölkerung ist.“

Als sich die Psychologie im 19. Jahrhundert als Wissenschaft an den Universitäten etablieren konnte, vereinten sich unter ihrem Namen grösstenteils noch sehr neuartige Forschungszweige beziehungsweise die unterschiedlichsten Fachleute (Psychoanalytiker, Psychiater, Nationalökonomen (Soziologen), Neurologen, Physiologen usw.). Sie fokussierten sich erstmals sehr ausführlich auf geistige Aspekte, das heisst auf die Psyche und das Gehirn des Menschen. Denn sie alle wollten vor allem den Geisteskrankheiten und insbesondere dem Phänomen der Neurasthenie auf die Spur kommen, wie die Angsterkrankungen dazumal bezeichnet wurden.

Das damalige Ränkespiel der europäischen Regierungsmächte um die Weltherrschaft und der daraus resultierende Ausbruch des Ersten Weltkriegs (1914-1918) verhalft der aufstrebenden Disziplin zum Durchbruch. Denn um sich öffentlich zu profilieren, stellte sie sich von Anfang an in den Dienst von Politik, Militär, Medizin und Wirtschaft. Daran hat sich bis heute nicht viel verändert. Ein besonders einflussreicher Psychologe zu jener Zeit war der Deutsche Hugo Münsterberg (1863-1916). Er war es, der den Begriff „Psychotechnik“ in die Wissenschaft eingeführt hat.

Münsterberger vertrat natürlich ebenfalls die Überzeugung, dass sich die Psychologie einzig der Politik und Wirtschaft zu verpflichten hätte. Damit die Arbeit der neuen Wissenschaftler erfolgreich sei, so betonte er immer wieder, müssten sie sich vollständig von ihren ethisch-moralischen Grundvorstellungen befreien und ihre Menschlichkeit aussen vor lassen. Denn der „Mensch“ spiele bei der Umsetzung der herrschaftlichen Ziele schliesslich keine Rolle und somit auch nicht der wirtschaftstechnische Psychologe, der die Methoden und Taktiken erfinde, um eine psychische Verhaltens- und Denkkontrolle der Bevölkerung zu gewährleisten. Er müsse nur wissen, wie er die Befehle „von oben“ umsetzen könne.

Sowohl die psychische als auch die biologische Angst suchen sich immer wieder Mittel und Wege der Bewältigung. Sie laufen nicht selten den Wünschen der Angsterzeuger zuwider. Kein Wunder betont auch Mausfeld, dass immer wieder neue und geeignetere Techniken der Propaganda sowie des Meinungs- und Empörungsmanagements entwickelt werden müssen, um die offenkundigen Widersprüche zwischen Kapitalismus und Demokratie auch weiterhin vertuschen und leugnen zu können. Aus diesem Grunde werden die Psychotechniken auch immer wieder aufs Neue systematisch und umfassend ausgebaut, erweitert und hochgradig verfeinert. Des Weiteren führt Mausfeld auf:

„Gesellschaftliche Ängste lassen sich … durch all diejenigen Variablen manipulieren, die angstauslösend wirken, und sie lassen sich dadurch steigern, dass gesellschaftliche Mittel, die einer Angstreduktion dienen, nicht mehr zur Verfügung gestellt werden. … Die durch traditionelle Psychotechniken erzeugte Angst vor einer fiktiven oder realen Bedrohung wurde zur Extremform einer diffusen Bedrohung in Permanenz gesteigert, die sich dann für den weiteren Abbau demokratischer Substanz und für den Umbau des Staates in einen Sicherheits- und Überwachungsstaat nutzen lässt.“

Das „Prinzip Furcht“ ist und war schon immer oberstes Prinzip der „alleinherrschenden Macht“. Dabei ist es völlig egal, ob es sich bei der „Herrschaft“ um eine Person, einen kleinen Personenkreis (wie u.a. die „Männer von 1914“, die den Ersten Weltkrieg zu verantworten haben) oder aber eine Partei handelt, und welche besonderen „Unterstützer“ des öffentlichen Bereichs (u.a. Militär) ihre Macht stabilisieren helfen. In den kapitalistisch-demokratischen Ländern geht die Angst jedoch vom Wirtschaftssektor aus, der existenziell für das Überleben ist. Nur so können unter anderem auch die fast übermenschlichen Leistungen der Lohnarbeiter/innen erklärt werden, die heute aus lauter Angst selbst dann noch weiterarbeiten, wenn sie von ihren Arbeitgebern keinen oder keinen existenzsichernden Lohn mehr erhalten.

Als besonders perfide zu bezeichnen ist der Fakt, dass die Mehrheit nicht nur mittels psychologischer Techniken in Angst versetzt werden, sondern auch durch die Fachleute derjenigen Instanzen, die im Falle einer Angsterkrankung für ihre Behandlung zuständig sind. Denn auch alle Einrichtungen im Gesundheitssektor sind heutzutage natürlich gewinnorientiere Unternehmen, die nur allzu oft finanziell vom Elend der von ihnen Abhängigen profitieren. Ihre Vertreter/innen üben einerseits durch ihre – oft mehrjährigen, teuren – Therapien Anpassungszwänge aus und verabreichen den Patienten Medikamente, die aufgrund ihrer Substanzen nicht selten sowohl suchtfördernd als auch angstauslösend sind. Andererseits üben sie aber auch in Form von Schuldzuweisungen, Gutachten oder Einweisungsverfügungen (u.a. in psychiatrische Kliniken) Gewalt aus und nehmen Einfluss auf ihr Selbstverständnis, ihre Selbstbestimmung und ihre Freiheit.

 

 

Die anonyme Macht „Medien“
Guy de Maupassant (um 1888)

Abb. 10) Guy de Maupassant (1850-1893): Als der moderne Journalismus seinen Durchbruch feierte, schrieb der Schriftsteller und Journalist seine Erzählung „Bel Amie“ (1885). Sie bietet einen realistischen Einblick in die Anfänge und Natur des Metiers, das von Beginn an profitorientiert war und schon damals Falsch- und Desinformationen verbreitete. Seine Geschichte handelt von einem verarmten, ehemaligen Soldaten, der dank seines guten Aussehens, seiner Gewissenlosigkeit und Gewaltbereitschaft Eingang in die höhere Gesellschaft findet.

Die Medien werden heutzutage als die grössten Angstverbreiter betitelt – und auf diese Weise personalisiert. Was jedoch auf keinen Fall vergessen werden darf, ist: schon die Benutzung des Wortes „Medien“ als Bezeichnung für den Angstauslöser stellt ein Vertuschungsversuch dar. Denn schliesslich sind es nicht gebundene Papierseiten, Radiowellen oder Fernseh- und Computerbildschirme, die Ängste schüren und verbreiten wollen. Vielmehr sind es Menschen, die sie zu diesem Zweck missbrauchen. Sie nutzen die Medien aber nicht nur dazu, um anderen die eigenen Anschauungen einzutrichtern, sondern auch andere „Wissende“ zu verleumden und gesichertes „Wissen“ immer wieder zu hinterfragen, zu verfälschen oder zu vernichten.

Vor über zwei Jahrtausenden stritten Sokratiker und Sophisten darüber, ob in Bezug auf das gesellschaftliche und politische Leben die Wahrheit entscheidend wäre oder vielmehr die Meinung, die mit Hilfe der rhetorischen Angst durchgesetzt wird. Daran hat sich bis heute nicht viel geändert. Sowohl die Fülle als auch die systematische Zerstörung und Verfälschung von „Wissen“ machen es dem Medienkonsumenten schwer –, wenn nicht sogar unmöglich, – sich überhaupt noch kritisch mit irgendwelchen Wissensinhalten auseinanderzusetzen. Darüber hinaus hat die Vorstellung davon, was „Wissen“ überhaupt ist, groteske Züge angenommen. Wie Rainer Mausfeld immer wieder herausstellt, besteht der Grossteil des heutzutage medial vermittelten Wissens aus effektstarken, jedoch bedeutungsleeren Worthülsen. Und sie haben nur einen Zweck: von den wirklich wichtigen Inhalten eines Themas abzulenken.

Darüber hinaus führt der Sozialpsychologe auf, dass die heutigen Politiker und Journalisten eine Sprache favorisieren, die „ein tiefer Anti-Intellektualismus und mit ihm eine Geringschätzung, wenn nicht gar eine Verachtung für das Argument überhaupt“ in jede Diskussion und Debatte miteinbringen. „In derartigen Diskurssimulationen, wie sie die Medien tagtäglich inszenieren, gibt es nichts mehr, das sich durch Argumente oder empirische Befunde widerlegen ließe. … Alles ist möglich, alles ist zulässig – nach dem Motto: My ignorance is as good as your knowledge!“ Kein Wunder, wird nicht nur von Politik und Wirtschaft, sondern auch der Gesellschaft heutzutage vor allem der „unwissende“ da „ungebildete“ Mensch als wert- und nutzlos eingestuft. Dies verleitet nicht nur zu Prahlerei, Provokation und Besserwisserei, sondern führte in der Vergangenheit auch zur Herabsetzung der Fähigkeitsanforderung im Bildungsbereich.

Die neoliberale Ideologie hat aus dem Menschen einen Selfmade gemacht, der sich immer wieder aufs Neue den veränderten Gegebenheiten auf dem Arbeitsmarkt anpassen und sich für teures Geld weiterbilden muss, damit er nicht irgendwann im täglichen Konkurrenzkampf unterliegt. Daraus entwickelte sich letztlich auch ein Kampf um das „Wissen“ an sich, das in der Menschheitsgeschichte schon immer als Garant für ein angstloses Leben betrachtet worden ist. Wie die Grossunternehmen muss auch er heute immer „mehr wissen“ und über „mehr Informationen verfügen“ als andere. Aus diesem Grunde heisst es auch: „Wissen ist Macht“. Natürlich aber möchten die besitzenden Eliten diese Macht für sich alleine beanspruchen, warum gebildete jedoch unbequeme Leute durch die Medien heutzutage als „Verschwörungstheoretiker“ diskreditiert werden und „Wissen“ kaum mehr das Produkt profunder Ausbildungen und intensiver Studien ist – und schon gar nichts mehr mit wirklicher „Lebenserfahrung“ oder der „Weisheit des Alters“ zu tun hat.

Der Neoliberalismus hat mit dem meritokratischen Märchen die Chancengleichheit ad absurdum geführt. Der Werbeslogan „Deine Meinung zählt!“ wird als realer Sachverhalt verstanden, und selbst die Jüngsten sind schon davon überzeugt, alleine die Lesefähigkeit berechtige dazu, in allen Themenbereichen mitzureden. Jeder Internetuser und Zeitungsleser ist mittlerweile davon überzeugt, ein universeller Fachspezialist zu sein und seine ganz eigene Meinung kundtun zu müssen. Kein Wunder, nähren die Verfechter/innen des neoliberalen Programms doch ununterbrochen die Illusion, jedermann könne jederzeit mittels Tastendrucks das „Weltwissen“ abrufen und – ohne grosse Anstrengungen und Denkleistung – zum eigenen Vorteil nutzen und so gesellschaftlichen Einfluss ausüben.

Dass in den letzten Jahrzehnten ohne viel Aufmerksamkeit zu erregen, ein Grossteil des Weltwissens gelöscht worden ist, indem man unbequeme Inhalte aus dem Internet entfernte, unzählige Bibliotheken schloss, das Fach Geschichte aus den Schulräumen verbannte und das Verlagswesen dem Monopolismus unterwarf, hat kaum jemandem zu denken gegeben. Auch die zunehmende Machtposition der Bildungs- und Wissenschaftseinrichtungen, die ebenfalls nur noch profitorientierte Institutionen darstellen, hat keine grosse – oder zumindest keine langanhaltende – Empörung ausgelöst. Und dies, obwohl sie in Form des Bildungsmanagements heutzutage insbesondere als Kontroll- und Ausschlussinstanzen von Politik und Wirtschaft fungieren.

In den kapitalistischen Demokratien wird die neoliberale Idee im Moment insbesondere durch die Digitalisierung vorangetrieben, wie Mausfeld betont. Sie hilft nicht nur kräftig dabei mit, die Macht der Wirtschaftselite zu festigen, sondern auch „Wissensinhalte“ für die nächsten Generationen gezielt auszuwählen, zu verändern oder ganz einfach zu eliminieren. In dieser Zeit des Umbruchs erlebt auch die Beschränkung der Meinungsfreiheit wieder eine Blütezeit und mit ihr die Zensur, die heute mittels der Prämisse der „political correctness“ durchgesetzt wird. Wer sie nicht einhält, wird aus dem angeblich seriösen Kreis der „Wissenden“ ausgeschlossen und verliert nicht selten auch seinen Job. Dass fast nur noch emeritierte Professoren oder andere pensionierte Persönlichkeiten sich trauen, „geschmähtes Wissen“ mit der Öffentlichkeit zu teilen, ist ein Symptom dieser Entwicklung.

Um die „Verschwörungstheoretiker“ als Lügner/innen zu entlarven, bedienen sich die Medienleute besonders oft der Desinformation. Sie hat sich Mausfeld zu folge als ein ganz besonders effektives Mittel der Meinungsmanipulation erwiesen, lenkt sie doch gekonnt von der Wahrheit ab. Er warnt davor, diese nicht mit der berühmten Falschinformation (Fake News) zu verwechseln oder sogar gleichzusetzen. Denn bei der Desinformation handelt es sich vielmehr um eine Information, die in Wirklichkeit überhaupt nichts mit dem Thema zu tun hat, das gerade besprochen wird. Bei ihr handelt es sich – und hier zitiert Mausfeld den US-amerikanischen Medienwissenschaftler Neil Postman – um eine „unangebrachte, irrelevante, bruchstückhafte oder oberflächliche Information – Information, die vortäuscht, man wisse etwas, während sie einen in Wirklichkeit vom Wissen weglockt.“

Wie Mausfeld darlegt, geht es in der Medienindustrie heute nicht mehr – wie in der früheren Propaganda – um richtig oder falsch, sondern um mehr oder weniger völlig irrelevante Dinge. Genau dieses Falsch- oder Pseudowissen lenkt von den wahren Problemverursachern ab und verunmöglicht eine Lösung der Probleme. Dieser Umstand führt die Konsumenten am Ende nicht nur gezielt in die Irre, sondern lässt auch Ohnmachtsgefühle aufkommen und erzeugt noch mehr Ängste, anstatt sie zu beschwichtigen. Um jedoch das energetische Potential nutzbar machen zu können, müssen die Verfechter/innen der neoliberalen Idee die Mehrheit zuerst einmal in einen Erregungszustand versetzen, und dazu benötigen sie einen geeigneten Angstauslöser, also einen furchteinflössenden „Feind“. Und diese entscheidende Variabel in der Angstrechnung ist beliebig austauschbar.

 

 

Angsterzeugung durch Feindbilder
Sokrates

Abb. 11) Sokrates (469-399 v. Chr.): Der nach Wahrheit strebende Philosoph, der mit seinen Fragen die Leute zum eigenständigen Denken motivieren wollte, wurde 399 v. Chr. von seiner Herrschaft wegen „Verführung der Jugend“ verurteilt und zum Selbstmord gezwungen. Seine traditionellen Gegner waren die Sophisten, die Erfinder der antiken Rhetorik und Lehrer sowie Erzieher der Elitensprösslinge.

Die Angsterzeugung unterliegt dem Determinismus, widersetzt sich das biologische Angstsystem des Menschen jeder Modifikation. Die physiologischen Voraussetzungen um Angst erleben zu können, haben sich in den letzten Jahrtausenden schliesslich nicht geändert. Was sich aber im Verlaufe der Menschheitsgeschichte immer wieder verändert, sind die Angstvorstellungen (Ängste) und ihre Auslöser. Sie sind unzählbar und ihre unterschiedlichen Formen sprengen jedes Vorstellungsvermögen. Es ist daher kaum verwunderlich, dass die zweite von Mausfeld aufgeführte Herrschaftstaktik, also die propagandistische Erzeugung von angeblichen Bedrohungen (Feindbilder) schon immer erfolgreich war – und auch zukünftig sein wird.

Die herrschaftliche Angstverbreitung kam in der Menschheitsgeschichte noch nie ohne Feindbild und Darstellung eines möglichen Gefahrenszenarios aus. Die „Herrschaft“ legitimiert sich schliesslich in erster Linie durch ihre Funktion als Warner und Retter eines Volkes. Egal, was sich gerade dem Zeitgeist entsprechend anbietet, kann der Feind mal der Teufel, der Umweltsünder, ein gegnerischer Soldat, ein Virus, die untreue Ehefrau, die Hitze der Sonne, ein zugewanderter Käfer oder eine Reihe roter Zahlen in der Bilanz sein. Wichtig ist letztlich nur, wieviel Abwehrenergie mit einer Angstvorstellung erzeugt werden kann.

Besonders beliebte Feindbezeichnungen sind gegenwärtig Verschwörungstheoretiker, Terroristen und Rechtspopulisten. Vor allem Letztere machten in den letzten Monaten wieder einmal Schlagzeilen, da die Angst vor dem Feind stets mit der Angst vor dem Fremden einher geht. Der Erfolg der rechtspopulistischen Parteien in Europa ist jedoch in erster Linie mit der weitverbreiteten, existenziellen Angst zu erklären, die Arbeitsstelle und seinen Wohn- bzw. Lebensraum zu verlieren. Die Nutzniesser des neoliberalen Programms wiederum, welche die Bevölkerungsverdrängung zwecks Profitmaximierung betreiben, werfen der Bevölkerung Ausländerfeindlichkeit vor, um sie zu disziplinieren. Mausfeld macht daher auch darauf aufmerksam, dass es insbesondere sie sind, die immer wieder systematisch sozialdarwinistische Anschauungen in die Köpfe der Wähler/innen pflanzen – gleichzeitig jedoch die Prinzipien des Sozialdarwinismus als rechtspopulistische Geisteskrankheit verdammen und so die Existenzängste der wirtschaftlich Verdrängten verhöhnen.

Das „Feindbild“ dient aber auch seit jeher als Mittel zur Selbstverherrlichung, um an seinem Beispiel die eigene moralische, physische, militärische oder kulturelle Überlegenheit zu demonstrieren, sowie als Rechtfertigung für die Anwendung von Gewalt, die sich gegen andere Nationalitäten genauso wie gegen die unangepassten Leute in der eigenen Bevölkerung wendet. Ausserdem wird mit seiner Hilfe immer auch ein selbst ausgeführter präventiver Angriffsakt legitimiert, der eine angebliche Gefahr abwendet soll, bevor sie Realität annimmt. Dazu Mausfeld:

„Manifeste Angst in der Bevölkerung kann besonders wirksam durch die massenmediale Propagierung tatsächlicher oder vermeintlicher Gefahren gesteigert werden. Historische und aktuelle Beispiele dazu gibt es im Überfluss. … Die Geschichte hat immer wieder gezeigt, dass sich durch die Projektion eigener Motive auf »den Feind« – die man dann beim Feind bekämpfen kann – die Duldung oder Zustimmung der Bevölkerung für einen geplanten Angriffskrieg gewinnen lässt. Der Angriffskrieg wird dann einfach deklariert als Verteidigungskrieg gegen einen mächtigen Aggressor, der »uns« und »unsere Werte« zu zerstören drohe. … Demselben Zweck einer Verdeckung eigener Ziele und Absichten dient eine Angsterzeugung durch propagandistische Deklaration einer großen Gefahr X, der die Bevölkerung durch einen »Kampf gegen X« entschlossen entgegentreten müsse. … X kann dabei so ziemlich alles sein, was sich irgendwie wirksam zur Angsterzeugung nutzen lässt. … Durch die propagandistische Ausrufung eines »Kampfes gegen X« lassen sich in »kapitalistischen Demokratien« gleichzeitig mehrere von den Zentren der Macht gewünschte Ziele erreichen: Zum einen wird der für Machtzwecke nutzbare Rohstoff »Angst« produziert, zudem lässt sich die Aufmerksamkeit sehr wirksam auf Ablenkziele richten, und schließlich lassen sich unter dem Vorwand eines Kampfes gegen X demokratische Strukturen abbauen und auf allen Ebenen der Exekutive und Legislative autoritäre Strukturen etablieren.“

Die Grenze zwischen inneren und äusseren Feinden ist immer fliessend, kann eine Herrschaft immer mehrfach von der Feindesbekämpfung profitieren. Der grösste Gegner der Herrschaft ist seit jeher das eigene Volk und damit die eigenen Bürger/innen, die sich dem herrschaftlichen „System“ nicht anpassen wollen. Besonders beliebte Angriffsziele für sie wiederum stellen die zugewanderten Ausländer dar, für die ihre nicht greifbaren Politiker und Wirtschaftsvertreter selbst aus profitorientierten und/oder prestigeträchtigen aussenpolitischen Gründen die Grenzen öffnen. Beliebte Feindbilder beider Parteien sind die schwächsten und rechtlosesten Mitglieder der Gesellschaft, die Arbeitslosen, Armen, chronisch Kranken und Alten, sowie andererseits die Angehörigen anderer Nationen, die zumeist weit entfernt leben und ihre Herrschaftsmacht zerschlagen oder die eigenen Handelsinteressen boykottieren könnten.

Spätestens seit Beginn des 21. Jahrhunderts sind es vor allem der ominöse Terrorist und seine dunklen Absichten, die immer wieder aufs Neue in den Fokus des Interesses gerückt werden. Er symbolisiert schliesslich auch den „Andersgläubigen“, der danach trachtet, die in anderen Ländern herrschenden Ideologien und ihre allzu menschlichen Regierungen von ihrem mächtigen Sockel zu stossen und wieder eine göttergläubige Religion einzuführen. In diesem Vorstellungskonzept spielt auch die Angst vor Rache eine bedeutende Rolle, hat der exportierte Neoliberalismus nicht nur den kapitalistischen Demokratien seinen Stempel aufgedrückt. Wie bereits erwähnt, ist die Variable „Feind“ jedoch letztlich beliebig austauschbar – und seine Fähigkeiten und Absichten immer auch auf andere Gegner übertragbar. Dazu Mausfeld:

„Der von oben verordnete Kampf gegen den Rechtspopulismus dient wesentlich zur Erzeugung von Angst, die sich dann – vor allem bei Wahlen – für politische Belange einer Stabilitätssicherung herrschender politsicher Gruppierungen nutzen lässt. Nicht weniger heuchlerisch, doch als Mittel der Herrschaftssicherung durch Angsterzeugung sehr viel wirkungsvoller ist ein »Kampf gegen den Terror«, da sich hinter dieser Fassade sehr wirksam ein Abbau demokratischer Substanz und ein Umbau des Staates zu einem Überwachungs- und Sicherheitssaat betreiben lässt. … In einem Kampf gegen X geht es gar nicht um X; vielmehr wird die Verwerflichkeit und Destruktivität eigenen politischen Handelns auf den vermeintlichen oder tatsächlichen Feind projiziert, um politisch nutzbare Angst in der Bevölkerung zu erzeugen. All das, was hier als Kampf gegen eine Bedrohung verkauft wird, darf gar nicht erfolgreich sein, weil sein Erfolg für die ökonomischen und politischen Zentren der Macht gerade darin liegt, nicht erfolgreich zu sein und als Mittel der Angsterzeugung und Herrschaftssicherung erhalten zu bleiben.“

Die Angst vor Spionen beherrschte das gesamte 20. Jahrhundert. Sie wurde in den letzten Jahrzehnten von der Angst vor Terroristen abgelöst, die den Prozess der staatlichen Einschränkung von Menschen-, Grund- und Bürgerechten sogar noch beschleunigte und die demokratischen Verfassungen bis heute aushöhlt. Kaum verwunderlich, bietet das terroristische Feindbild einerseits einen globalen Spielraum, um nicht nur einzelne, unbeliebte Personen, sondern gleich die Bevölkerungen ganzer Nationen als „Staatsfeinde“ zu denunzieren. Andererseits sind der Zahl an möglichen Gefahrenszenarien, die mit ihm assoziiert werden, nach oben hin kaum Grenzen gesetzt. Der Feindesvorstellung nach kann der böse Terrorist schliesslich überall und jederzeit seine grausamen Taten begehen, warum auch nie irgendjemand vor ihm sicher sein kann.

Der Begriff „Terrorismus“ beschrieb ursprünglich die Schreckensherrschaft einer Regierung, erst später eine extremistisch-radikale Phase vor der gewaltsamen Machtergreifung, falls eine solche der Regierungsbildung vorausging. Darüber hinaus wird der Staatsterror beziehungsweise die extremen Mittel revolutionärer und totalitärer Systeme zur Bekämpfung ihrer Gegner als „Terror“ bezeichnet. Heutzutage aber, nach der herrschaftlichen Umdeutung des Begriffs, werden neu die (möglichen) Regierungsgegner als „Terroristen“ betitelt und präventiv festgesetzt oder sogar eliminiert. Rainer Mausfeld zeigt das herrschaftliche Vorgehen und die rechtsstaatlichen Auswirkungen gegen diese mutmasslichen Terroristen unter anderem am Beispiel der USA auf, die Europa einst den Kapitalismus und den Konsum verordneten:

„Der sogenannte »Kampf gegen den Terror« ist ein konstitutiver Teil der Geschichte der USA und diente immer wieder dazu, das grundlegende Spannungsverhältnis zwischen Demokratie und Kapitalismus zu verdecken. Seit jeher richtet sich dieser »Kampf gegen den Terror« innenpolitisch gegen jede Art fundamentaler Opposition und außenpolitisch gegen praktizierte Alternativen zum US-Kapitalismus. In der Zeit von 1918 bis 1921 fand er seinen Ausdruck in einer Hetzkampagne gegen US-Bürger und Einwanderer, denen eine kommunistische und sozialistische Einstellung unterstellt wurde. … Im Rahmen ihres »Kampfes gegen den Terror« haben die USA seit 2001 eine gigantische Umverteilung durchgeführt, bei der mehr als 5.000 Milliarden Dollar an Steuergeldern überwiegend in die Kriegs- und Sicherheitsindustrie geflossen sind. Sie haben das Völkerrecht außer Kraft gesetzt, Bürgerrechte massiv eingeschränkt, den Überwachungsstaat ausgebaut und Folter und massenhafte gezielte Tötungen von Zivilisten wieder zur normalen politischen Praxis gemacht – alles mit Duldung, Billigung oder gar dem Beifall weiter Teile der Medien.“

 

„Orwell fürchtete diejenigen, die Bücher verbieten. Huxley fürchtete, daβ es eines Tages keinen Grund mehr geben könnte, Bücher zu verbieten, weil keiner mehr da ist, der Bücher lesen will. Orwell fürchtete jene, die uns Informationen vorenthalten. Huxley fürchtete jene, die uns mit Informationen so sehr überhäufen, daβ wir uns vor ihnen nur in Passivität und Selbstbespiegelung retten können. Orwell befürchtete, daβ die Wahrheit vor uns verheimlicht werden könnte. Huxley fürchtete, daβ die Wahrheit in einem Meer von Belanglosigkeiten untergehen könnte.“

Neil Postman (1931-2003)

 

Die Geschichte hat eine ganze Reihe von Denkern und Denkerinnen hervorgebracht, die sich mit den negativen Auswirkungen von Absolutismus, Kapitalismus, Liberalismus, Neoliberalismus oder Sozialdarwinismus auseinandergesetzt haben. Zu ihnen zählen unter anderem der wichtigste geistige Vater der amerikanischen Verfassung Charles-Louis de Montesquieu, aber auch der Begründer der gesellschaftlichen Psychoanalyse Erich Fromm und der Soziologe Norbert Elias, die das totalitäre Regime der Nationalsozialisten selbst miterlebt haben. Alle ihre Forschungserkenntnisse werden von dem deutschen Sozialpsychologen und Wahrnehmungsforscher Rainer Mausfeld übernommen und auf die Gegenwart übertragen.

Die Überzeugungen, die Rainer Mausfeld in seinen Fachbeiträgen und insbesondere in seinem Buch Angst und Macht (2019) darlegt, sind alle nicht neu und basieren fast ausschliesslich auf altem Wissensgut. Sein Beitrag zur Angst-Geschichte ist jedoch vor allem an zweierlei Aspekten zu messen: 1) an seinem Bemühen, das überlieferte Angstwissen ins 21. Jahrhundert zu überführen, mit modernem Vokabular auszustatten und die Erkenntnisse zum Thema mit weiterem Belegmaterial und Nachweisen zu untermauern, und 2) an seinem Mut, öffentlich über die negativen Folgen des Neoliberalismus’ zu informieren, die neuesten sozialpolitischen Entwicklungen zu beleuchten sowie die psychologisch-sozialwissenschaftlichen Methoden der Angsterzeugung detailliert aufzuzeigen, deren sich Politik und Wirtschaft dank der instrumentalisierten Wissenschaft bedienen.

Seine Frage, ob sich der moderne Mensch gewollt, also aus freien Stücken in die „freiwillige Knechtschaft“ (Étienne de la Boétie) begeben hat, um dank Konsumismus seine grenzenlosen Gelüste ausleben und ein Leben in infantiler, doch glücklicher Unmündigkeit führen zu dürfen, bleibt offen. Ebenso die Frage, ob es das Ziel der herrschaftlichen Psychotechniken ist, die Bevölkerung mittels ihrer Manipulationspraktiken in den Zustand der Apathie zu versetzen oder doch vielmehr ihre Befähigung zu zerstören, überhaupt irgendwelche Überzeugungen ausbilden zu können, wie schon die Philosophin Hannah Arendt postuliert hat. Unbestritten bleibt jedoch die Tatsache, dass die Menschen, die sich einer angsterzeugenden Herrschaft unterwerfen und im Gegenzug dafür – zumeist erfolglos – den Schutz vor Schmerz, Krankheit und Tod einfordern, einen sehr hohen Preis für ihr illusionäres Sicherheitsgefühl und ihre kurzfristen Lustbefriedigungen bezahlen.

Wie Rainer Mausfeld immer wieder aufführt, ist der Neoliberalismus nicht nur ein politisches Programm, das die Rentabilität des Kapitals steigern und die Macht der besitzenden Eliten sichern soll. Er ist auch das Zwangsmittel, mit dem eine neue Gesellschaft geschaffen wird, deren Mitglieder alle kulturellen, sozialen, rechtlichen und politischen Errungenschaften aufgeben, angefangen mit ihrer Freiheit, ihrer Selbständigkeit und ihrem eigenständigen Denken. Rainer Mausfeld ist aber auch überzeugt, dass nicht nur die Bürger und Bürgerinnen demokratischer Länder, sondern auch die Mitglieder der Wirtschaftselite mittlerweile an eine Alternativlosigkeit der vorherrschenden Zustände glauben –, auch wenn dies nur am Rande erwähnt wird.

Die neoliberale Ideologie ist zweifellos die Ausgeburt eines von pathologischer Furcht beherrschten Geistes, der sich seiner Sterblichkeit und der ständigen Krisenzeiten nur allzu bewusst ist. Sie ist als das Gedankenkonstrukt einer zu Tode geängstigten Minderheit zu werten, deren Furch im exzessiven Horten von Finanzdaten, im Raubbau knapper werdenden Ressourcen und vor allem auch in einer schier unersättlichen Gier nach Lebensenergie anderer ihren Ausdruck findet. Darüber hinaus ist das neoliberale Programm – wie einst das Vorstellungkonzept der „Weltangst“ – eine Kriegserklärung an die angsteinflössende „feindliche Welt“, der man gewaltsam die eigene Herrschaft aufzuzwingen versucht. Um die ständig nagende Todesangst zu bewältigen, wird aber vielmehr die eigene Lebenszeit verkürzt.

Dass sich der moderne Mensch unentwegt seine Vergänglichkeit vor Augen führt und fast alle seine Gedanken von diesem Wissen überschattet werden, spricht schon für sich Bände. Die manipulierte und ausgebeutete Mehrheit, die selbst pausenlos manipuliert, ausbeutet und ebenso häufig anonyme Gewalt auslebt, muss schon längst nicht mehr durch die Medien angestachelt werden, sind die Elitenängste bereits vollständig verinnerlicht und werden brav an die nächste Generation weitergegeben. Mit einer Vehemenz, die nicht selten ans Hysterische grenzt, propagieren die bereits unmündig Gewordenen ihren bevorstehenden Untergang – und konsumieren artig weiter. Anstatt der neoliberalen Ideologie abzuschwören und sich ihrer Knechtschaft zu entledigen, warnen sie lieber vor selbstproduzierten Bedrohungen, die „ihre Umwelt“ zerstören oder „ihrer Gesundheit“ schaden könnten.

Die philosophisch-politische Auffassung von der Alleinherrschaft wurde im Altertum entwickelt und hat in den letzten zwei Jahrtausenden verschiedene Formen angenommen, die je nach Regierungstypus mal als Prinzipat, Despotismus, Absolutismus, Diktatur oder Totalitarismus bezeichnet worden sind. Im antiken Rom war der ursprüngliche Grund für ihre Etablierung eine Krisenzeit, in der zu viele Männer um die Regierungsmacht kämpften. Ihr Zweck: Ein Einzelner sollte kurzzeitig die absolute Macht über Land und Volk erhalten und alle politischen Entscheidungen treffen, bis der Frieden wieder einkehrte. Danach sollte er die Regierungsmacht wieder dem Volk und seinem Senat übergeben. Doch wer von der Macht gekostet hat, gibt sie nicht wieder gerne her, wie uns die Geschichte lehrt.

Wie ungeheuer machtvoll das Prinzip „Furcht“ und wie wertvoll der Rohstoff „Angst“ ist, um eine Herrschaft durchzusetzen, zu legitimieren und zu erhalten, offenbart sich epochenübergreifend an etlichen Beispielen der Menschheitsgeschichte. Rainer Mausfeld beschreibt die heutige Wirtschaftselite als Täter und stellt sie als Volksverräter dar, die nur an ihrem eigenen Überleben interessiert sind –, womit er vermutlich grundsätzlich Recht hat. Doch erst wenn die Mehrheit ihre Opferperspektive aufgibt und sich ihre eigene Täterschaft eingesteht, wird sich wohl auch etwas an den heutigen Lebenszuständen ändern. Bis es aber soweit ist, herrscht die Angst in den Demokratien – und das Angstniveau steigt weiter an.

 

„Viele Psychologen, Soziologen, Ökonomen und andere Kabbalisten der neueren Zeit lassen sich die Wahrheit von ihren Zahlen sagen, und wenn diese stumm bleiben, stehen sie mit leeren Händen da.“

Neil Postman (1931-2003)

 

 

Zitate: Mausfeld, Rainer: Angst und Macht. Herrschaftstechniken der Angsterzeugung in kapitalistischen Demokratien, Frankfurt a. M. 2019. Des Weiteren: Carey, Alex: Taking the Risk Out of Democracy: Corporate Propaganda Versus Freedom and Liberty, University of Illinois Press, 1997; Elias, Norbert: Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen. Wandlungen der Gesellschaft. Entwurf zu einer Theorie der Zivilisation, Bd. 2. Amsterdam 1997; Montesquieu De, Charles-Louis: Vom Geist der Gesetze, Bd. I. und II. hg. v. Ernst Forsthoff, Tübingen 1951; Postman, Neil: Wir amüsieren uns zu Tode. Urteilsbildung im Zeitalter der Unterhaltungsindustrie, 7. Auflage, Frankfurt a.M. 1985.

Literatur: Mausfeld, Rainer: Angst und Macht. Herrschaftstechniken der Angsterzeugung in kapitalistischen Demokratien, Frankfurt a. M. 2019; Ders.: Warum schweigen die Lämmer? Wie Elitendemokratie und Neoliberalismus unsere Gesellschaft und unsere Lebensgrundlagen zerstören, Frankfurt a. M. 2015. Des Weiteren: Ash, Mitchel G. und Geuter, Ulfried (Hg.): Geschichte der deutschen Psychologie im 20. Jahrhundert. Ein Überblick, in: WV-Studium, Bd. 128, Opladen 1985; Fuchs, Konrad und Raab, Heribert (Hg.): Wörterbuch Geschichte. 12. Auflage. München 2001; Münsterberg, Hugo: Grundzüge der Psychotechnik, Barth 1914.

Website: OEDC: Rising informal employment will increase poverty (04/2009). URL: http://www.oecd.org/development/risinginformalemploymentwillincreasepoverty.htm. (05/2021).

Bildernachweise: Titelbild) Dai-heidelberg.de; Abb. 1, 7-11) Wikipedia.org; Abb. 2, 6) Biogaphy.com; Abb. 3) Neh.gov; Abb. 4) Senate.gov; Abb. 5) Themoviebd.org.

 

By |2024-10-08T04:53:37+00:00September 14th, 2024|AnGSt|0 Comments
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