Die Furcht vor dem Bösen Blick

Der „Böse Blick“ ist eine unverfälschte Kampfansage, die ohne Worte auskommt. Der Glaube an seine Macht ist so alt wie die Menschheit selbst. Bereits die frühsten uns bekannten Hochkulturen fürchteten ihn. Seit jeher versuchen Betroffene sich mit Hilfe von Amuletten und zeremoniellen Abwehrritualen vor ihm zu schützen – aber auch mit dem Wunschgedanken, eine besonders beneidenswerte Person zu sein.

 

Kapitel: Vorchristliche Vorstellungswelt – Plutarch und seine Theorien – Tod den bösen Augen! – Neue Zeiten–Alte Theorien – Herrenblick: Der Gefahr ins Auge sehen – Emotionale Ursachen

 

Vorchristliche Vorstellungswelt
Nazar Amulett

Abb. 1) Amulette mit Augensymbolen sollen in erster Linie den Bösen Blick einer Person ablenken. Sie sollen jedoch auch provozieren, indem sie den böse Blickenden selbst „ins Visier“ nehmen. Das Bild zeigt ein „Nazar“-Amulett, das vor allem in den orientalischen Ländern verbreitet ist.

Das Auge und die Angst haben eine gemeinsame Geschichte, die Jahrtausende zurückreicht. Da der Mensch bekanntlich zwei davon hat, wird diese seit jeher auch von der Dualität geprägt. Der uralte Augenkult und somit auch der Böse Blick wurden schon immer mit dem Glauben an die Macht der Zwillinge, an Doppelwesen, janusartige Doppelköpfe oder Zwei-Gesichtige in Verbindung gebracht. Sie alle stehen für das Gute und Böse, Helle und Dunkle, Gesunde und Kranke oder für Vergangenes und Zukünftiges.

Doppeldeutig wie die Angst sind also auch das Augensymbol und seine Blickbotschaften. Seit jeher dient das Auge als Abwehrbild, um Flüchen und Unheil entgegenzuwirken und insbesondere den Bösen Blick abzulenken. Auf der anderen Seite stellt es jedoch auch ein Hilfsmittel des Anvisierten dar, der durch ein Zurücksehen die Herausforderung zum Kampf annimmt. Für viele Wissenschaftler/innen ist der Böse Blick daher auch in erster Linie Ausdruck der sozialen Lebensangst, die sich insbesondere in der Vorstellung von Ehre sowie in der Selbst- und Fremdbeurteilung offenbart.

Das Auge zählt zu den ältesten Herrschaftsymbolen überhaupt. Es versinnbildlicht in sämtlichen Kulturen – und dies epochenübergreifend – die Macht von Göttern oder Herrschern über Leben und Tod. Der frühste Beleg für eine religiöse Verehrung des „Auges“ findet sich im 5. Jahrtausend v. Chr. im alten Elam, wo es den „höchsten Gott“ verkörperte. Spuren dieses namenlosen Augengotts finden sich unter anderem im Reich der Sumerer, Hethiter, Babylonier, Troianer und Thessalier wie auch der Syrer, Ägypter und Griechen.

Das sagenumwobene, südmesopotamische Volk der Sumerer (ca. 3. Jahrtausend v. Chr.), die nicht nur die Keilschrift erfanden, sondern auch die Kulturväter der grossen Babylonier sind, nannten den Bösen Blick „igi-hul“ (= „Auge böse“). Die Hethiter wiederum, die ungefähr tausend Jahre später im nördlichen Anatolien ihr Grossreich errichteten, gaben ihm den Namen „idalu sakuwa“ (= „böse Augen“). Dass der Böse Blick Einfluss auf andere ausüben kann, davon waren also schon die ältesten uns bekannten Kulturvölker überzeugt. Kaum verwunderlich, gehört es zur ältesten Sitte, vor einem Gott oder Herrscher seinen Kopf und somit seinen Blick zu senken, um ein direktes Ansehen zu verunmöglichen.

Schon immer diskutierten die Gelehrten darüber, ob der Böse Blick überhaupt existiert oder nicht vielmehr einer krankhaften Angst oder aber einer Sinnesstäuschung entspringt. Diejenigen, die sein Vorkommen nicht bezweifelten, haben sich wiederum immer wieder dieselben Fragen gestellt: Ist der Böse Blick angeboren oder erlernt? Hat er eine körperliche oder geistige Ursache? Bezweckt derjenige, der anderen böse Blicke zuwirft, etwas ganz Spezielles mit seinem Verhalten? Und besonders häufig fragten sie sich: Welche Emotion durchlebt derjenige gerade, der andere böse anschaut?

Die grossen Denker kamen fast alle auf dieselben Antworten, wenn es um die letzte Frage ging. Zu den wichtigsten Gefühlen zählten sie das Übelwollen bzw. der Neid und die Sehnsucht bzw. das Verlangen. Dass der Böse Blick der Angst entspringt, zeigt sich folglich auch sprachlich, bedeutet doch das Wort „Angst“ nicht nur die Enge, sondern ebenso Begierde, Sehnsucht und Verlangen. Am Beispiel der Redewendungen ist ihr Doppelcharakter gleichfalls nachvollziehbar, „können Blicke“ schliesslich nicht nur „töten“, man „verschlingt“ auch das, was man begehrt „mit den Augen“.

 

„Ich glaube nicht daran, aber es gibt den Bösen Blick.“

Neapolitanisches Sprichwort

 

 

Plutarch und seine Theorien
Boeser Blick - Antikes Relief

Abb. 2) Der Böse Blick – und was gegen ihn hilft. Kopie eines antiken Reliefs (Woburn).

Der Glaube an die Macht des Bösen Blicks war natürlich auch während des griechisch-römischen Altertums verbreitet. Manche Philosophen verneinten seine Existenz und hielten ihn für ein Hirngespinst. Andere wiederum versuchten ihn wissenschaftlich zu belegen, wobei sie sich zu jener Zeit vor allem auf den Atomismus beziehungsweise die beliebten Theorien des Demokrit (460/59 – um 370 v. Chr.) beriefen. Da der Zeitgeist jedoch gerade darauf eingestellt war, die Götter- und Todesangst zu bekämpfen, bestritten diejenigen Gelehrten, die etwas auf sich hielten, dass es ihn gäbe.

Zu ihnen gehörte auch der griechische Philosoph Plutarchos (um 45 – nach 120). In Rom, wo man ihn Plutarch nannte, kam er dank seines Ansehens als populärer Schriftsteller in engen Kontakt mit mächtigen Männern. Zu ihnen zählte unter anderem Vespasian und L. Mestrius Florus, der ein guter Freund von ihm wurde und ihm zum römischen Bürgerrecht verhalf. Plutarch vergalt es ihm, indem er Florus in seinen Dialogen immer wieder als Redner auftreten lässt, so auch in seinem „Symposiaka“ (Tischgespräche), in dem er den Bösen Blick erwähnt.

In diesem behauptet Plutarch zwar, nicht an die Existenz des Bösen Blicks zu glauben, gleichzeitig jedoch stellt er Theorien auf, die sein Vorkommen erklären sollen – und die für die nächsten zweieinhalb Jahrtausende die Gelehrtenmeinungen zum Thema prägen werden. Plutarch sieht einerseits im Neid die Ursache für den Bösen Blick, da dieser den menschlichen Körper besonders stark zu reizen versteht. – Die moderne Neurowissenschaft kam zum selben Ergebnis! Seiner Überzeugung nach entwickelt der Organismus aber aufgrund der starken Reizung auch schädliche Ausdünstungen, die vor allem durch die Augen austreten, wodurch der Blick entstehe.

Um seine Anschauungen zu verdeutlichen, bezieht sich Plutarch auf seine Strahlentheorie des Sehens, die er dazumal gerade erst entwickelt hatte. Dieser zufolge wird das Sehen mit Hilfe von Strahlen bewerkstelligt, welche die Objekte gewissermassen abtasten. Am Beispiel der Liebe präzisiert Plutarchs schliesslich seine Ansicht, nach der sowohl der Blick von Verliebten als auch der Böse Blick auf dieselbe Strahlkraft der Augen zurückzuführen ist. Obwohl seine Ausführungen bestimmt noch mehr Gesprächsstoff geboten hätten, nimmt das Tischgespräch an dieser Stelle ein sehr abruptes Ende. Plutarch selbst erklärt das Ende der Diskussion damit, dass er seine Gäste mit dem Gerede über den Bösen Blick in Angst versetzt hätte.

 

„Die Leuchte deines Leibes ist dein Auge, ist nun dein Auge klar, wird dein ganzer Leib im Lichte sein; ist aber dein Auge schlecht, wird dein ganzer Leib im Finstern sein. Wenn darum das Licht, das in dir ist, Finsternis ist, was mag das für eine Finsternis sein!“

Bibel, Matthäus 6,22-23

 

 

Tod den bösen Augen!
Medusa

Abb. 3) In der griechischen Mythologie wird von der Gorgone „Medusa“ berichtet, die jeden mit nur einem einzigen Blick in Stein verwandeln kann -, warum die Medusa auf dem abgebildeten Stirnziegel vermutlich auch die Augen geschlossen hat. Der Ziegel selbst entstand ungefähr 480 v. Chr.

Die Furcht vor dem Bösen Blick war schon immer sehr gross, da er ein Unheil ankündigt, das eintreten kann aber nicht muss. Vor allem dieser Schwebezustand macht den Betroffenen seit jeher zu schaffen, wissen sie doch nicht, ob sie tatsächlich in Gefahr bzw. ein „Objekt der Begierde“ sind. Doch auch der böse Schauende wird von so manchem Theoretiker seit jeher als Opfer betrachtet, das seiner natürlichen Veranlagung oder dem Willensakt seiner Seele ausgeliefert ist oder aber unter dem Einfluss spezieller Sternenkonstellationen zu leiden hat.

Die Grenze zwischen Täter und Opfer beziehungsweise Schuld und Unschuld blieben jedoch immer fliessend. Schon im 4. Jahrhundert entwickelten die frühen Kirchenväter wie unter anderem Johannes Chrysostomos von Antiochia (344/49 – 407) und Tertullian aus Karthago (nach 150 – nach 220) modifizierte, das heisst dem Zeitgeist angepasste Vorstellungen vom Bösen Blick. Mit Aufkommen des Christentums gerieten schliesslich die Sünder und ihre sündigen Seelen in ihren Fokus. Fortan setzte die Kirche den Bösen Blick mit dem Wirken dämonischer Kräfte in Beziehung.

Plutarch hatte noch versucht, die Angst seiner Gäste vor dem Bösen Blick mit einem Themenwechsel und dem Ausschank von Wein zu besänftigen. Die ersten Christen bewältigten ihre Furcht, indem sie die böse Blickenden vor Gericht zerrten und auf dem Scheiterhaufen verbrannten. Den Weg dazu geebnet hat der berühmte Kirchenvater Augustinus von Hippo (354 – 430), der seine Lehre auf der Vorstellung von der „Weltangst“ aufbaute, den Glauben an Ketzer und Hexen religiös manifestierte und ihre Verfolgung rechtlich legitimierte.

Augustinus propagierte, dass die gottlosen Häretiker ihre Mitmenschen besonders oft durch den Bösen Blick schädigen würden. Aus diesem Grunde nahm er im Katalog des rituellen Schadenzaubers auch eine sehr wichtige Stellung ein. Augustinus’ Überzeugung nach entstand mit dem Bösen Blick schliesslich eine direkte, negative Beeinflussung des Opfers durch das Böse. Obwohl seine Anschauung letztlich umstritten blieb, vertraten viele Theologen wie auch Juristen und Mediziner noch jahrhundertelange dieselbe Auffassung.

Besonders dazu beigetragen hat die Veröffentlichung des „Malleus maleficarum“ (1487), der als führende Vorlage in den kirchlichen wie auch weltlichen Prozessverfahren gegen die Andersgläubigen zur Anwendung kam. Im Malleus, der auch unter dem deutschen Namen „Hexenhammer“ bekannt wurde, wird der Böse Blick mit dem Dämonenpakt in Verbindung gebracht und der böse Schauende eindeutig als ein Verbrecher definiert, der Zauberei betreibt. Als sein Hauptverfasser gilt der Dominikaner Heinrich Institoris (Kramer), der den Vorgang schon fast rational-psychologisch erklärte. Er beschrieb die angebliche Ansteckung mit dem Bösen folgendermassen:

„Wie lässt sie [Verzauberung] sich ohne Annahme dämonischen Einwirkens erklären? Durch den Blick kann die Luft zwischen dem Schauenden und dem Angeschauten verändert werden; diese Veränderung wirkt sich dann aber negativ auf den Angeschauten aus, der dem Einfluss der veränderten Luft durch seine eigenen Augen hindurch unterliegt; dabei spielt noch die Einbildungskraft (die Vorstellung, durch den Blick eines anderen krank zu werden) mit. Es handelt sich also um eine Art von indirekter Kettenreaktion, keineswegs um eine direkte Ursache-Wirkung-Kausalität zwischen dem, der blickt, und dem Objekt seines Sehens.“

Im Malleus wird erwähnt, dass manche Wölfe und auch Fabelwesen mit ihrem Bösen Blick töten könnten. Zu letzteren zählt altem Glauben nach zum Beispiel der Basilisk. Besonders häufig erwähnt wird hier jedoch der Böse Blick alter Frauen, die vor allem Knaben mit ihm schädigen. Dass die bösen Blicke von Alten in erster Linie Kinder treffen, war jedoch schon während der Antike verbreitet, und auch Plutarch nahm auf diese Überzeugung Bezug. Kaum verwunderlich, brachte man später insbesondere die alten Hexen mit dem Bösen Blick in Verbindung.

Zur Zeit der Hexenprozesse schenkte die Justiz den Augen der Angeklagten ganz besondere Aufmerksamkeit. Waren die Augäpfel oder Lider der Verdächtigen rötlicher Farbe, besassen sie Triefaugen, schielte oder funkelten die Augen oder aber wiesen sie abnorme Formen auf, betrachteten die Richter den Verdacht als gerechtfertigt. Umgaben sie „Narben“ und kamen weitere Hinweise wie beispielsweise ein auffällig „gebrechlicher“ Gang dazu, so nahm man dies oft als ein sicheres Zeichen dafür, eine Hexe vor sich zu haben. Auch war es Sitte, die Hexen rücklings in den Gerichtssaal zu führen, um sich vor ihrem ersten Bösen Blick zu schützen, und spezielle Talismane während der Verhandlung zu tragen.

 

„Blinder Mann, kein Auge ist immer noch besser als ein böses!“

Charles Dickens (1812-1870)

 

 

Neue Zeiten – Alte Theorien
Maloccio_Römisches Mosaik

Abb. 4) In den romanischen Ländern nennt man den Bösen Blick für gewöhnlich „malocchio“ (= schlechtes Auge). Das Bild zeigt ein römisches Mosaik aus Antiochia (2. Jahrhundert). Vor allem in den Südländern ist auch heute noch der Glaube an den Bösen Blick sehr verbreitet.

Auch nach Plutarch und Augustinus haben sich viele kluge Köpfe Theorien zurechtgelegt, um den Bösen Blick erklären oder seine Existenz widerlegen zu können. Zu ihnen zählen unter anderem Gelehrte wie Avicenna (980-1037), Alexander Neckam (1157-1217), Albertus Magnus (um 1200-1280), Thomas von Cantimpré (1201-1270/72), Engelbert von Admont (um 1250-1331), Nicolas Oresme (1330-1382), Paracelsus (1493/94-1541) oder Tommaso Campanella (1568-1639).

Die späteren Aufklärer wandten sich ebenfalls dem Studium des Bösen Blicks zu, der von nun an dem Volks- und somit dem Aberglauben zugeordnet wurde. Kein Wunder, nahm seine Anschauung letztlich insbesondere auf die neuartigen parapsychologisch-esoterischen Lehren Einfluss. Doch zu den bestehenden Hypothesen, die seine Ursache oder das Verhalten des böse Dreinschauenden erklären sollten, kamen keine wirklich neuen hinzu. Vielmehr griff man auf die alten Vorstellungen zurück, passte sie den eigenen Ansichten an oder aber rückte zuvor weniger beachtete in den Mittelpunkt.

Wichtige Eckpfeiler der aufgeklärten Geisteshaltung waren die Erziehung und Bildung. Daher wurde der Glaube an den Bösen Blick oft auf eine übertriebene Ängstlichkeit oder aber auf die biologische Veranlagung des böse Schauenden beziehungsweise seine Charakterschwäche zurückgeführt. Da aber auch die Bedeutung der Wissenschaften und Universitäten zunahm, waren natürlich auch die Strahlentheorie und mit ihr die Vorstellung von den Augen, die negative Kraftströme aussenden und andere beeinflussen, ein grosses Thema. Der deutsche Arzt Franz Anton Mesmer (1734-1815) beispielsweise, der den „animalischen Magnetismus“ begründete, unternahm gleichfalls den Versuch, die Macht des Bösen Blicks mit Hilfe einer Strahlentheorie naturwissenschaftlich nachzuweisen.

Aufmerksamkeit schenkte man jedoch besonders der Auffassung von den sozialpsychologischen Mechanismen (Suggestionen), die im menschlichen Geist aufgrund des Glaubens an den Bösen Blick ihre Wirkung tun. Kaum verwunderlich, machten die schon bald aufkommenden Neurologen, Psychoanalytiker und Hypnotiseure nicht nur die Angst, sondern auch den Bösen Blick zu einem ihrer Hauptthemen, um das Denken und Handeln von Neurasthenikern oder Hysterikern beziehungsweise ihre (angeblich) vorliegende Geistesverwirrung oder Geisteskrankheit zu erklären.

In Italien basiert der Glaube an „malocchio“ (= „schlechtes Auge“) auf uralten Überzeugungen und ist bis heute weit verbreitet. Emilio Servadio (1904-1995), der Psychoanalytiker und Schüler Freuds war und sich letztlich als Parapsychologe einen Namen machte, brachte eine scheinbar neue Theorie ins Spiel. Sie begründete das Vorkommen des Bösen Blicks mit der Kastrationsangst des Mannes. Doch auch diese Erklärung war nicht wirklich neu. Bereits im Malleus maleficarum wird sehr umfassend beschrieben, wie die Hexen die Penisse von Männern sammeln und sie – gleich Haustieren – hüten, füttern und in ihren Schränken aufbewahren, um sie schliesslich für den Schadenzauber einzusetzen.

 

„Wenn ein Schaden entsteht, dann muβst du geben Leben um Leben; Auge um Auge, Zahn um Zahn, Hand um Hand, Fuβ um Fuβ“.

Bibel; Exodus 21,23-24

 

 

Herrenblick: Der Gefahr ins Auge sehen
Hitler - Herrenblick

Abb. 5) Die grösste Angst der Herrschaft ist die vor dem Volk. Hitler glaubte wie viele andere Herrscher an den mächtigen Blick des politischen Führers. Das Bild zeigt ihn beim Üben des sogenannten „Herrenblicks“.

Den Bösen Blick eines anderen mit „eigenem Blick“ abzulenken gelingt den meisten nicht, da sie sich zu sehr vor seinem Einfluss fürchten. Aus diesem Grunde erfand der geängstigte Mensch wohl auch die Augenamulette, die diese Aufgabe übernehmen sollten. Zwar wurden in der Vergangenheit manchmal andere Hilfsmittel herangezogen um ihn abzuwenden wie unter anderem Penisamulette, Teufelsdreck („Asafoetida“) oder sogar die Zähne von Toten („dens hominis mortui“). Doch die Amulette mit Augensymbolen blieben ganz besonders beliebt.

Der deutsche Augenarzt Siegfried Seligmann (1870-1926), der eine der wichtigsten modernen Abhandlungen zum Bösen Blick verfasste, hat sich ebenfalls nicht nur mit ihm, sondern auch mit Schutzamuletten beschäftigt. Seligmann wollte den Glauben an ihn widerlegen, obwohl er selbst nicht ganz frei vom Aberglauben war, war er doch von der positiven Wirkung von Schutzamuletten überzeugt. Er ging davon aus, dass die Angst vor dem Bösen Blick durch verbale und visuelle Suggestionen, durch die Fehldeutung von Unglücksfällen oder – und insbesondere – durch die sogenannte neurotische Blickfurcht (Ophtalmophobie) ausgelöst werde.

Der Böse Blick markiert andere als Angriffsziel. Wer andere „ins Visier“ oder „aufs Korn nimmt“ ist daher auch von seinen aussergewöhnlichen Kräften überzeugt. Will man den Bann brechen, ist es nötig, den böse Schauenden selbst mit einem bedrohlichen Blick in die Schranken zu weisen. Wer zurückblickt, betrachtet sich daher für gewöhnlich ebenfalls als besonders mutig. Dieser Auffassung entsprang wohl auch die weitverbreitete Überzeugung, der böse Blickende müsse auf die Stärken und somit die Macht desjenigen, den er anstiert, neidisch sein. Doch entspricht die Auffassung wirklich einer Tatsache oder ist sie vielmehr ein Wunschgedanke, der die eigene Furcht bewältigen helfen soll?

Sigmund Freud (1856-1939), der Vater der Psychoanalyse, begründete den Glauben an die Wirkung des Bösen Blicks mit einer narzisstischen Störung. Unter dem Begriff „Narzissmus“ verstand er jedoch nicht die krankhafte „Selbstliebe“ bzw. „Selbstsucht“, als die er heutzutage fälschlicherweise oftmals ausgelegt wird. Freud definierte ihn vielmehr als eine psychische Störung, die durch ein falsches Selbstbild hervorgerufen wird. Betroffene versuchen es mit allen Mitteln aufrechterhalten, um die Selbsterkenntnis beziehungsweise die Angst, andere könnten es durchschauen, zu unterdrücken, was sich letztlich in einem irrationalen Denken und Verhalten zeigt.

Freud ordnete den Bösen Blick dem Animismus zu (Vorstellung von der Allmacht der Gedanken) und betitelt den Glauben an ihn als eine narzisstische Eigenüberschätzung. Der Animismus geht nämlich davon aus, dass – wie der Magieglaube es lehrt – allein ein Gedanke die Macht besässe, Personen oder Gegenstände lenken zu können. Nach Freunds Anschauung ist der böse Schauende davon überzeugt, jemand anderes alleine durch sein Anstarren wieder in ein Kindheitsstadium zurückversetzen zu können, wodurch er dem anvisierten Opfer als besonders bedrohlich und übermächtig erscheine.

Im Mittelpunkt Freuds Überlegungen stand insbesondere die beliebte Vorstellung vom sogenannten „Herrenblick“. Dabei handelt es sich um den Glauben, ein grosser Anführer könne alleine durch einen hypnotischen Blick den Untertanen seinen Willen aufzwingen. Freuds Meinung nach löst der Herrenblick sowohl Angst als auch Bewunderung aus, warum der Glaube an seine Kraft vor allem auch bei wichtigen einflussreichen Königen, Kaisern, Päpsten und anderen Regierungsherrschern anzutreffen sei wie unter anderem bei den französischen Königen Louis XIV. und Napoleon III. oder auch Kaiser Wilhelm II.

 

„Was aus dem Menschen herauskommt, das verunreinigt den Menschen. Denn von innen, aus dem Herzen der Menschen, kommen die bösen Gedanken, Unzucht, Diebstahl, Mord, Ehebruch, Habsucht, Bosheit, Hinterlist, Ausschweifung, Böser Blick, Lästerung, Hochmut und Maβlosigkeit.“

Bibel; Markus 7,20-22

 

 

Emotionale Ursachen
Hand der Fatima

Abb. 6) Die „Hand der Fatima“ soll ebenfalls gegen den Bösen Blick schützen (Nordafrika und Naher Osten).

Die Augen sind bekanntlich das „Fenster zur Seele“, ist an ihnen doch abzulesen, welche Gefühle ein Mensch gerade durchlebt. Auch glaubte man – und glaubt auch heute noch –, dass die negative Gemütslage einer Person auf das Glück und die Gesundheit anderer Einfluss nehmen könne und ganz besonders die Augen das Organ seien, durch das diese Wirkung ausgeübt werde.

Seit jeher gehen die Gelehrten davon aus, dass spezielle Emotionen die Ursache für den Bösen Blick seien. Besonders oft in den Schriftquellen genannt werden einerseits der Neid und die Missgunst. Ihre modernen Deutungen entsprechen jedoch ebenfalls nicht den überlieferten Vorstellungen. Denn unter dem „Neid“ wird heutzutage ein Eifersüchtig-Sein auf Besitz, Ansehen oder spezielle Sonderrechte verstanden. Über zweitausend Jahre lang jedoch stand das Wort für den „Hass“, „Groll“ und eine „feindliche Gesinnung“.

Dasselbe gilt für die Missgunst, die jahrhundertelang das Missgönnen von Privilegien und Vorrechten beschrieb. Sie beziehungsweise das Wort wurde erst sehr viel später mit der „Eifersucht“ gleichgesetzt, die man ebenfalls erst viele Jahrhunderte später auf die Bereiche „Liebe“ und „Beziehung“ beschränkte. Der Begriff Eifersucht weist zwar auch heute noch immer sehr entschieden auf seine ursprüngliche Bedeutung hin, doch den meisten ist auch sie unbekannt.

Andererseits wurden schon immer Verlangen und Begehren als emotionelle Ursachen des Bösen Blicks betrachtet. Der italienische Dominikaner und Philosoph Tommaso Campanella (1568-1639) nahm beispielsweise in seinem Werk „De sensu rerum et magia“ Bezug auf sie. Ausserdem erklärte er den speziellen Blick gleichfalls mit einer Strahlentheorie. Er schrieb: „am leichtesten finden diese Augenstrahlen ihren Ausweg bei Bewundern und beim Loben einer schönen Sache, denn dabei pflegt man seine Augenbrauen hochzugeben und die Augen weit zu öffnen, so daβ die Geister ungehindert ausströmen können.“

Die Deutung des Bösen Blicks war schon immer wandelbar, wie sich sowohl an sprachlichen wie auch moralischen Aspekten aufzeigen lässt. Spätestens ab dem 18. Jahrhundert und mit Aufkommen bzw. Durchsetzen von Aufklärung, Bürgertum und Kapitalismus veränderten sich viele Wortbedeutungen. Viele Begriffe wurden dem Besitzdenken und Arbeitsethos angepasst und auch neuen Vorstellungen von Ehe und Liebesbeziehung. Nachvollziehbar ist dies auch am Beispiel des Juristen Nicola Valletta (1750-1814), der als Begründung für den Bösen Blick im neusten Sinne sowohl den Hass als auch den Neid sowie die Liebe und das ästhetische Empfinden nennt. Der Böse Blick wurde jedoch bereits bei den Sumerern vor über fünftausend Jahren mit dem Verlangen nach etwas/jemanden in Verbindung gebracht sowie mit der sexuellen Begierde von Männern, die Frauen mit ihren Blicken nachstellen! – Und sie werden vom weiblichen Geschlecht seit jeher und zumeist als grosse Bedrohung empfunden.

 

 

Augensymbole

 

 

Die Jahrtausende umfassende Geschichte von Angst, Auge und Böser Blick ist aus Sicht der Geisteswissenschaft in erster Linie eine Herrschafts- und Schöpfungsgeschichte. Nachvollziehbar ist dies auch am uralten elamischen Augengott, der zu Beginn des 5. Jahrtausends v. Chr. überall im mesopotamischen Raum verehrt wurde und seinen Weg schliesslich bis nach Griechenland fand. Die Sumerer gaben ihm den Namen „En-ki“ (Herr der Erde) sowie den Beinamen „Nin-igi-ku“ (Gott „mit dem strahlenden Auge“).

In Babylonien verschmolz der Schöpfergott und Beherrscher von Leben und Tod letztlich mit der Göttergestalt „Ea“, die im ältesten Heldenepos Gilgamesch erwähnt wird (ca. 3 Jahrtausend v. Chr.). Die Geschichte berichtet vom gleichnamigen sumerischen König von Uruk, der am Anfang der Geschichte sein Recht auf „primae noctis“ (das Recht, bei Heirat seiner Untertanen die erste Nacht mit der Braut zu verbringen) gewaltsam einfordern will. Im Mittelpunkt steht jedoch schliesslich seine Angst vor dem Tod und seine Suche nach einer Möglichkeit, die Unsterblichkeit zu erlangen.

Die moderne Naturwissenschaft und insbesondere die Neurowissenschaft liefert eine weit nüchternere Begründung für den Bösen Blick. Sie macht unter anderem darauf aufmerksam, dass die Gesichtszüge des Menschen seit Jahrtausenden der Kommunikation dienen. Gesteuert werden sie durch die Amygdala. Mimisch-emotionale Reizsignale wie der Böse Blick huschen zumeist unbewusst und für gewöhnlich nur kurz über das Gesicht und signalisieren anderen auf nicht verbaler Ebene, welches Gefühl jemand gerade durchlebt.

Der Mensch kann nur mit einem Angriffs- oder Fluchtverhalten auf seine Angst reagieren. Der Böse Blick signalisiert ohne Worte einen möglichen Angriff. Er nimmt also tatsächlich Einfluss auf die Gemütsverfassung anderer, sendet er doch seinerseits wieder einen starken Reiz aus, der bei anderen den Angstmechanismus im Gehirn aktivieren kann. Das Angriffsverhalten hat jedoch nicht nur den Zweck, Gefahren abzuwenden oder eine angebliche Bedrohung auszuschalten. Es wird auch aktiviert, wenn die Amygdala etwas oder jemanden als „nützlich“ einstuft. Und als nützlich bewertet wird von ihr nur, was/wer dem Überleben und der Fortpflanzung dienlich ist.

 

Zitate: Malleus Maleficarum von Heinrich Institoris (alias Kramer) unter Mithilfe Jakob Sprengers aufgrund der dämonologischen Tradition zusammengestellt, hg. v. Ulrich Müller, Franz Hundsnurscher und Cornelius Sommer, Göppingen 1993; Hauschild, Thomas: Der Böse Blick. Ideengeschichtliche und sozialpsychologische Untersuchungen, 2. Auflage, Berlin 1982 (Campanella).

Literatur: Dettling: Alois: Die Hexenprozesse im Kanton Schwyz. Schwyz 1907; Déveraux, Georges: Angst und Methode in den Verhaltenswissenschaften, München 1967; Dundes, Alan (Hg.): The Evil Eye. A Folklore Casebook, New York 1981; Freud, Sigmund: Das Unheimliche, in: Gesammelte Werke, 12. Band, Werke aus den Jahren 1917-1920, Frankfurt a. M. 1966; Halloran, John Alan (Hg.): Sumerian Lexicon. A Dictionary Guide to the Ancient Sumerian Language, Los Angeles 2006; Hauschild, Thomas: Der Böse Blick. Ideengeschichtliche und sozialpsychologische Untersuchungen, 2. Auflage, Berlin 1982; Herkunftswörterbuch. Etymologie der deutschen Sprache, hg. v. Wissenschaftlicher Rat der Dudenredaktion, Bd.7, Aufl. 3, Mannheim/Leipzig/Wien/Zürich 2001; Jahn, Otto: Über den Aberglauben des bösen Blickes bei den Alten. Bericht über die Verhandlungen der Kgl. Sächsischen Gesellschaft der Wissenschaften zu Leipzig, Philologisch-Historische Classe, Bd. VII, Leipzig 1855; Koenig, Otto: Urmotiv Auge, München 1975; Malleus Maleficarum von Heinrich Institoris (alias Kramer) unter Mithilfe Jakob Sprengers aufgrund der dämonologischen Tradition zusammengestellt, hg. v. Ulrich Müller, Franz Hundsnurscher und Cornelius Sommer, Göppingen 1993; Plutarch: Tischgespräche (Symposiaka), übersetzt von Kaltwasser, in: Vermischte Schriften, hg. v. Heinrich Conrad, 1. Bd. München/Leipzig 1911; Riemschneider, Margarete: Augengott und Heilige Hochzeit, Leipzig 1953; Schacher, Joseph: Das Hexenwesen im Kanton Luzern nach den Prozessen von Luzern und Sursee 1400-1675, Luzern 1947; Seligmann, Siegfried: Der böse Blick und Verwandtes. Ein Beitrag zur Geschichte des Aberglaubens aller Zeiten und Völker, Bd. 1 und 2, Berlin 1909; Ders.: Die Zauberkraft des Auges und das Berufen. Ein Kapitel aus der Geschichte des Aberglaubens, Hamburg 1922; Servadio, Emilio: Die Angst vor dem bösen Blick, Imago XXII, o.O. 1936, S. 396-408; Soldan-Heppe: Geschichte der Hexenprozesse, hg. v. Max Bauer, Bd. I. München 1912; Spooner, Brian: The Evil Eye in the Middle East, in: Witchcraft Confessions and Accusations, Association of Social Anthropologists Monograph no. 9, hg. v. Mary Douglas, London 1970, S. 311-319; Tischler, Johann: Hethitisches Handwörterbuch. Mit dem Wortschatz der Nachbarsprachen, 2. Auflage, Innsbruck 2008.

Bildernachweise: Titelbild) Ikwilfilmskijken.com (Filmplakat „Cape Fear“, 1991); Abb. 1, 6) Pixabay.de; Abb. 2, 5) Hauschild, Thomas: Der Böse Blick. Ideengeschichtliche und sozialpsychologische Untersuchungen, 2. Auflage, Berlin 1982; Abb. 3) Blog.landesmuseum-stuttgart.de; Abb. 4) Commons.wikimedia.org; Abb. 7) Designbundels.com.

 

By |2024-01-16T17:15:25+00:00Januar 13th, 2024|AnGSt|0 Comments
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