Naturfurcht und Umweltkatastrophen (2) – Gewässer

Der Frühmensch glaubte noch, dass die Natur von unzähligen Göttern und anderen übersinnlichen Wesen bevölkert wird. Die ungeheuerlichsten, blutrünstigsten und fresswütigsten unter ihnen lebten seiner Überzeugung nach am liebsten an den Wasserstellen, die er schon immer aufsuchen musste, um überleben zu können. Es gibt kaum Orte, welche die Angstphantasie des Menschen mehr beschäftigt haben, als die wilden Flüsse, nebligen Moore, tiefgründigen Seen, grauenerregenden Meere – und die Frage, was sich in ihnen verbarg. Denn wer von ihnen verschlungen wurde, der war zumeist nie mehr wieder gesehen.

 

Kapitel: Urelement „Wasser“ – Auslöschung der Existenz und Identität – Gefährliche Seereisen – Teuflische Kapitäne und Geisterschiffe – Gottesstrafe „Ertrinken“

 

Urelement „Wasser“
Seemonster, Conrad Gesner (Gessner) 1560

Abb. 1) Ein Seemonster in der Pose der „Meeresjungfrau“. Gezeichnet hat das Bild der Schweizer Naturforscher und Arzt Conrad Gessner/Gesner (1560).

Wer sich mit der Naturfurcht auseinandersetzt, der stellt sich schnell einmal die grundsätzliche Frage: Was ist die „Natur“ überhaupt? Thales (ca. 625/24-545 v. Chr.) aus der ionischen Seestadt Milet, der älteste uns bekannte „Philosoph“ und „Vater der Wissenschaft“, hat sich diese Frage ebenfalls gestellt. Er konnte zwar noch keine konkrete Antwort auf sie geben – tatsächlich wurde erst im Verlaufe der Epochen eine Grundvorstellung von ihr entwickelt und bis heute existiert keine einheitliche, unumstrittene Definition für sie –, doch Thales war nachweislich der erste, der die Meinung vertrat: alles Leben entstand aus dem Wasser.

Nicht nur die Erdoberfläche ist zu zwei Dritteln mit Wasser bedeckt. Auch der Körper des Menschen besteht zu zwei Dritteln aus Wasser, das er sich tagtäglich zuführen muss, um weiterbestehen zu können. Uraltem Volksglauben zufolge wird sein Lebenselixier von mythischen Elementargeistern und Göttern beherrscht, deren Existenz sich ihm nur in ihrem Wirken offenbart. Kaum verwunderlich, stellen Gewässer auch die ältesten Orte dar, an denen er mit seinesgleichen zusammenkam, um solche übernatürlichen Wesen zu zelebrieren und zu ihren Ehren religiös-kultische Rituale durchzuführen.

Spezielle Gebote sollten die göttlichen Beherrscher von Quellen, Mooren, Flüssen, Teichen, Bächen, Seen oder Meeren günstig stimmen und den Menschen vor Strafe und Tod bewahren. Um ihre Gunst nicht zu verlieren, war es in vielen Kulturen daher auch ein Tabu, als heilig angesehene Gewässer zu betreten oder aus ihnen zu trinken. Von den katholischen Kirchenvätern wurden solche Orte später zu Gefahrenorten und die alten Gottheiten zu bösen Mächten umgedeutet, um ihre religiöse Verehrung zu unterbinden. Wie sich an den Märchen und Wandersagen nachvollziehen lässt, zeigen derartige Glaubensvorstellungen jedoch bis heute ihre Wirkung; man denke nur an die Brunnen oder Abwasserkanäle, wo angeblich verwunschene Prinzen in Froschgestalt oder bösartige Krokodile hausen.

Vor rund zweieinhalb Jahrtausenden versuchten Naturphilosophen wie Thales ihre Landsleute von der Götterfurcht zu befreien, die ja eine eigentliche Naturfurcht war. Für die Anhänger des Mythos’ verkörperten aber noch lange die Götter alle Naturerscheinungen und ihre physikalischen Gesetze. Im alten Griechenland beispielsweise hiess der Gott des Meeres Poseidon, und er war es, der ihrer Überzeugung nach mit Hilfe seines Dreizacks die Seebeben auslöste. Zwar glaubten die späteren Seefahrer nicht mehr an die uralten Götter, doch auch sie beschrieben bis weit in die Neuzeit hinein das Meer, als ob es ein eigenständiges Lebewesen wäre, das mal zornig oder wütend ist, mal grollt oder sich der Raserei hingibt.

 

 

Auslöschung der Existenz und Identität
Moorleiche, Tollung-Mann, Daenemark

Abb. 2) Das Wasser gibt Leben und nimmt es wieder. Das Bild zeigt den sog. „Tollund-Mann“ aus Dänemark (ca. 5./4. Jahrhundert v. Chr.), der zu den am besten erhaltenen Moorleichen zählt. Die Forschung geht davon aus, dass er von den eigenen Leuten getötet und als Menschenopfer dargebracht worden ist.

In der Schrifttradition wird das flüssige Element seit jeher mit Chaos, Wahnsinn, Unvernunft und Selbstzerstörung in Verbindung gebracht. Gemeinsam in Beziehung gesetzt werden sie bereits in den Schriften des Homer (ca. 8. Jahrhundert v. Chr.) sowie in der Erzählung „Tristan und Isolde“, deren Ursprung vermutlich bis in die Antike zurückreicht. Später findet man sie unter anderem auch gemeinsam dargestellt in „Das Narrenschiff“ von Sebastian Brant (1457/58-1521) oder aber bei William Shakespeare (1564-1616) in „Der Sturm“. Das Wasser und insbesondere das Meer waren darüber hinaus aber natürlich auch schon immer Sinnbilder für den Tod.

Für Thales stellt das Wasser und alle seine Erscheinungsformen nicht nur den Ursprung des Lebens dar, sondern auch die Ursubstanz, in die alles Lebendige nach seinem Hinscheiden wieder zur Einheit zusammenfällt. Kaum verwunderlich, wird es insbesondere in den religiösen Anschauungen immer wieder mit dem Sterben in Verbindung gebracht. Bei den alten Griechen beispielsweise finden sich die finsteren Flüsse der Unterwelt, darunter Styx, Lethe und Acheron, auf dem der alte Fährmann Charon die Toten für eine „Obolus“-Münze ins Totenreich fährt. Das Totenschiff selbst findet auch bei den Römern und darüber hinaus in keltischen sowie fernöstlichen Legenden Erwähnung.

Bereits Homer und später auch der römische Epiker Vergil (70-19 v. Chr.) vertraten die Meinung, dass von den Fluten in die Tiefe gerissen zu werden und ertrinken zu müssen mit Abstand die schlimmste Art zu sterben sei. Dieselbe Überzeugung kommt auch in unzähligen Geschichten zum Ausdruck, in denen von kaltblütigen und gefrässigen Wasserwesen berichtet wird, die den Menschen an den Kragen wollen. Dabei spielt in den Sagen, Mythen und Mähren vor allem das unsagbare Grauen davor, mit Haut und Haaren verschluckt zu werden, eine wichtige Rolle. Der historische Angstforscher Jean Delumeau (1923-2020) hat es folgendermassen formuliert:

„Tiefe Gewässer, ob nun Meer, Fluβ oder See, wurden als gierige Abgründe betrachtet, stets bereit, die Lebenden zu verschlingen. … Polyphem, Skylla, Circe, die Sirenen, die Laistrygonen, Leviathan, die Lorelei: lauter bedrohliche Wesen, die im oder am Wasser leben. Sie haben alle nur ein Ziel: Menschen einzufangen, sie zu verschlingen oder ihnen wenigstens, wie Circe, ihre menschliche Identität zu rauben. Deshalb muβ man dem Meer, um es zu besänftigen, lebende Wesen opfern, die vielleicht seinen ungeheuren Appetit stillen werden.“

 

 

Gefährliche Seereisen

Die biologische Angst treibt den Menschen dazu an, sich in Bewegung zu setzen, die Welt zu erkunden, sich zu nehmen, was er braucht, und sich an diejenigen Orte zu erinnern, wo Nützliches oder Schädliches auf ihn wartet. Nur das Überleben kann schliesslich den Tod besiegen. Wird sie jedoch an der Erfüllung ihrer Aufgaben gehindert und der Überlebenskampf des Menschen erschwert, kann es passieren, dass sie sich gegen ihn selbst wendet und Wahnsinn und Selbstzerstörung ihren Anfang nehmen. Dieselben Funktionen und Mechanismen spielen auch in den Beschreibungen der Naturängste immer wieder eine Hauptrolle.

Ein gutes Beispiel stellt der griechische Menschenheld Odysseus dar, dessen Geschichte vom sagenumwobenen Homer verfasst worden ist. Der König von Ithaka erlebt in dieser viele Abenteuer auf seiner zehnjährigen Irrfahrt über das Meer, das nach Homer „so groβ ist und furchtbar“, dass nicht einmal die Vögle noch im selben Jahr zurückkehren können. Am Beispiel des Odysseus’ werden lebensgefährliche Naturgefahren aufgezeigt und wie man sie bewältigt. Der verwegene Seefahrer, der sich nicht nur der Circe und den wahnsinnig machenden Sirenen erwehren, sondern auch gegen den Meeresgott Poseidon durchsetzen muss, überwindet schliesslich dank Vernunft und List alle Widerstände und geht als eine der glorreichsten Figuren in das griechische Kollektivgedächtnis ein.

Wie prägend die Erfahrungen der wahren Seemänner waren, hat unter anderem der römische Dichter Publius Ovidius Naso (43 v. Chr. – 17 n. Chr.) mit den weisen Worten zusammengefasst: „Ein Schiffbrüchiger hat Angst auch vor ruhiger See.“ Sie versuchten in der Vergangenheit ihre Furcht vor den gefährlichen Seereisen ebenfalls mit Hilfe spezieller Rituale, Segen und Beschwörungen in Zaum zu halten, warum sie auch als besonders abergläubische Männer in die Geschichte eingingen. Vor allem seit der Renaissance, als Schifffahrt und Handel an Bedeutung zunahmen, und mit Aufkommen der sogenannten Entdeckungsfahrten im 15. Jahrhundert wurde die Angst vor dem Meer jedoch im grossen Umfang zu unterdrücken versucht.

 

Walfang

Abb. 3) Die Neuzeit zeichnet sich durch ein immenses Interesse an den Ozeanen und ihren Schätzen aus, wodurch auch deren Zerstörung ihren Anfang nahm. Der Walfang beispielsweise führte innert kürzester Zeit beinahe zur vollständigen Ausrottung der Tiere. Ihr Tran wurde u.a. als Lampenöl, Medizin wie auch als Mittel zur Wollreinigung genutzt, ihre Barten (Fischbein) wiederum für die Herstellung von Korsetten, Rockreifen und Schirmen.

 

Die Erfahrung wusste die Naturängste nicht nur potenziell zu vergrössern, sondern oft auch abzuschwächen. Nachvollziehbar ist dies unter anderem an einem Bericht von Thomas Platter (1499-1582), der selbst auf dem rauen Land aufwuchs. Er bereiste einst mit seinem Studienfreund Heinrich Billing aus Basel die Alte Eidgenossenschaft. Die Bildungsreise musste immer wieder unterbrochen und umorganisiert werden, da Platters städtischer Freund von der Naturfurcht gepackt wurde. Als sie beispielsweise einmal Richtung Uri zogen und den grossen See überqueren wollten, wurde auch dieses Unterfangen abgebrochen, weil sich Heinrich zu sehr vor dem Wasser und dem Wind fürchtete.

Wie Thomas Platter erzählt, war dem Urner Schiffsmann, der die beiden über das Wasser führen sollte, die Furcht des Städters sehr suspekt. Er konnte das ganze Drama überhaupt nicht nachvollziehen. Und doch ist in den Reiseberichten von sehr erfahrenen Seemännern auch immer wieder die Ehrfurcht vor den Gewässern und ebenso oft das Entsetzen spürbar, das bei Stürmen oder Windflauten aufkam. Ihre Angst und die Vorstellung vom personifizierten Meer in Worte gefasst hat unter anderem der schottische Schriftsteller Robert Louis Stevenson (1850-1894), der selbst weit gereist ist und zu einer Zeit lebte, als die Schifffahrt auf ihrem Höhepunkt stand:

„Hättet Ihr es so lange befahren wie ich, Ihr würdet den Gedanken an das Meer hassen, wie ich es tue. Hättet Ihr Euch der Augen bedient, die Euch, der Herrgott gegeben, Ihr wäret der Bosheit jenes falschen, bitteren, kalten, unsteten Geschöpfes und alles dessen, was nach Gottes Ratschluβ in ihm lebt, inne geworden: Hummer und Krebse und dergleichen, die von den Toten leben; und mächtige, groβmäulige, schnaubende Wale, und die Fische samt all’ ihresgleichen – kaltblütiges, blindäugiges, unheimliches Gezücht. Oh … oh über das Grauen – das Grauen des Meeres!“

 

 

Teuflische Kapitäne und Geisterschiffe
Davy Jones, Fluch der Karibik

Abb. 4) Die Sage vom „Fliegenden Holländer“ berichtet von einem verfluchten Kapitän, der mit seinem Geisterschiff auf den Meeren umherirrt. Sie gab das Vorbild ab für den teuflischen Kapitän Davy Jones (Bild) und seine Dämonen im Film „Fluch der Karibik“ (2006).

Es gibt unzählige Schauergeschichten und Legenden über die Seefahrt. Die allermeisten berichten von schrecklichen, nie zuvor gesehenen Ungeheuern, grausigen Dämonen und verlorenen Seelen, die den nassen Tod erleiden mussten. Kein Wunder, wurden die Ozeane in früheren Zeiten doch als das Reich des Bösen betrachtet, warum der Teufel auch zumeist höchstpersönlich in der Rolle des Kapitäns der sogenannten Geisterschiffe auftritt. Sie wurden schliesslich als die Hölle der Seeleute betrachtet und haben die Angstphantasie der Küstenbewohner ganz besonders genährt. Noch im 17. Jahrhundert war der Glaube verbreitet, Teufel, Dämonen und andere boshafte Kreaturen würden bevorzugt eine Reiseroute über die Meere wählen, da sie sich hier besonders heimisch fühlten.

Für Teufelswerk und Vorzeichen drohenden Unheils hielt man auch die sogenannten Elmsfeuer sowie die auf den Wellen tanzende Irrlichter, und dies, obwohl erfahrene Kapitäne wie Christoph Kolumbus (um 1451-1506), Vasco da Gama (1469-1524) und Ferdinand Magellan (um 1485-1521) erstere als Zeichen einer baldigen Beruhigung der stürmischen See zu deuten wussten. Die einfachen Matrosen bewerteten einen Sturm schliesslich nicht als eine natürliche Erscheinung, sondern als ein böses Omen, das Unheil ankündigt. Viele von ihnen versuchten die Lichter daher auch mit Gewehrschüssen und sonstigem Lärm sowie durch das Nachahmen von schweinischem Grunzen zu vertreiben, da das Schwein als teuflisches Tier galt.

Wer sich mit der Naturfurcht auseinandersetzt, der stösst früher oder später immer wieder auf den Glauben an Zauberer und Hexen, die von ihren Mitmenschen als Verursacher von Naturereignissen bezichtigt worden sind. Sie wurden natürlich auch häufig für die Meeresstürme verantwortlich gemacht. Als beispielsweise zwischen 1589 und 1591 auf der Nordsee ununterbrochen schwere Stürme tobten und König Jakob VI. von Schottland gemeinsam mit Prinzessin Anne immer wieder an der Überquerung gehindert wurde, gab man ebenfalls Hexen und Hexenmeistern die Schuld an der wütenden See. Damals kam man zu der festen Überzeugung, dass sie eine Katze im Meer ertränkt und es auf diese Weise verhext hätten.

In den Akten der Hexenprozesse wiederum wird die Wetterhexerei besonders oft als Grund für Stürme und Überschwemmungen genannt. Im Jahre 1629 beispielsweise trat die Laui, ein Fluss im schweizerischen Kanton Obwalden, über die Ufer. Dreiunddreissig Personen wurden daraufhin wegen Hexerei hingerichtet. Der Krien wiederum, ein Waldbach bei Luzern, trat zwischen 1333 und 1823 ungefähr sechzehnmal über die Ufer. Von den Überflutungen immer wieder betroffen waren die Gemeinden Willisau und Entlebuch, warum auch die meisten Hexen des Kantons hier angeklagt und zum Tode verurteilt worden sind.

 

 

Gottesstrafe „Ertrinken“
Jule Vernes - 20.000 Meilen unter den Meeren

Abb. 5) Bild aus Jules Vernes „20’000 Meilen unter den Meeren“ (1869-70).

Das Ertrinken im kühlen Nass galt schon immer als göttliche Strafe, warum Gewässer natürlich auch seit jeher mit der Sündenvorstellung in Verbindung gebracht werden. In den mittelalterlichen Romanen zum Beispiel wird immer wieder erzählt, wie sich während eines Sturms die Wellen erheben, um die Sünder an Bord eines Schiffes über die Reling zu werfen und sie mit dem Ertrinkungstod zu bestrafen.

Ungerechterweise wurden vor allem die Seeleute wegen ihrer ständigen Nähe zum Wasser als schwere Sünder betrachtet, warum der Glaube an die „Verunreinigung“ durch das Böse auch in ihrem Fall eine wichtige Rolle gespielt zu haben scheint. Obwohl sie zumeist christliche Votivtafeln auf ihren Fahrten mitführten, um sich vor dem Bösen zu schützen, und sogar Wallfahrten unternahmen, standen sie schon immer im Ruf, sogar ein ganz besonders lasterhaftes Leben zu führen. Solch’ böse Menschen vom Erdboden getilgt hat bekanntlich auch Gottes Sintflut, die in der Heiligen Schrift Erwähnung findet. Der berühmte italienische Universalgelehrte Leonardo da Vinci (1452-1519) hat sie unter anderem mit folgenden Worten beschrieben:

„Die angeschwollenen Flüsse traten über die Ufer und überschwemmten alles umliegende Land und seine Bewohner. Auf den Gipfeln der Berge konnte man alle Arten erschreckter Tiere und Haustiere sehen, zusammen mit Männern und Frauen, die sich mit ihren Kindern dorthin geflüchtet hatten. Auf den Wogen, die das Land überfluteten, erkannte man Tische, Bettgestelle, Kähne und behelfsmäβige Boote jeder Art, ersonnen in Not und Todesangst, beladen mit wehklagenden Männern, Frauen und Kindern, voller Entsetzen angesichts des Orkans, der die tosenden Fluten mit den Leichen der Ertrunkenen dahinwälzte. … Man sah umgestürzte Boote, noch unbeschädigt oder geborsten, unter denen Menschen verzweifelt gegen einen entsetzlichen Tod ankämpften.“

Ob die Erzählung von der Sintflut auf einem historischen Ereignis basiert, ist bis heute umstritten. Unumstritten ist jedoch die Tatsache, dass es in der Menschheitsgeschichte immer wieder schlimme Naturkatastrophen gegeben hat, die sehr viele Leben gekostet haben. Ihnen folgte nicht selten ein neues Welt- und Menschenbild auf dem Fusse nach. Während der Spätantike beispielsweise leugneten die Vertreter der damals noch jungen katholischen Kirche den Glauben an die Zauberei. Im Verlaufe des 14. Jahrhunderts aber leiteten sie die ersten grossen Ketzer- und Zaubereiverfolgungen ein, womit sie den Grundstein für die Ausbildung des neuzeitlichen Hexenbilds legten. Den Ereignissen voraus ging ein Klimawandel, der etliche Stürme, Überschwemmungen und Meeresüberflutungen zur Folge hatte. Der Historiker Harry Kühnel (1927-1995) hat die bekannten Daten zusammengefasst:

„Die historische Klimaforschung setzt für den Zeitraum von 950/1000 bis 1300 für den europäischen Raum eine »Warmzeit« an, die bewirkte, daβ auf den im 9. und 10. Jahrhundert von den Wikingern besiedelten Island sowie in Norwegen Getreide angebaut werden konnte. Die Anbaugrenzen von den Alpen bis Schottland und Norwegen lagen ca. 200 m höher. Diese Phase milden Klimas erklärt den Nachweis von Weinanbau in Ostpreuβen, Pommern und Südschottland. … Während die Wärmephase in Grönland ihren Höhepunkt im 12. Jahrhundert bereits überschritten hatte, bildeten im nördlichen Europa häufiger und stärker auftretende Stürme und Überschwemmungen im 13. Jahrhundert die ersten Anzeichen für eine Klimaverschlechterung. Bei mindestens vier Meeresüberflutungen an den niederländischen und deutschen Küsten wird die Anzahl der Todesopfer auf über 100 000 geschätzt. 1240 und 1362 fielen 60 Pfarrbezirke, die mehr als die Hälfte der landwirtschaftlichen Erträge des Bistums Schleswig erbrachten, den Überschwemmungen zum Opfer. … Der Meeresspiegel war seit dem 12. Jahrhundert um 1,60 bis 3,20 m angestiegen. Signifikant für die Klimaveränderung war das sehr abrupte Auftreten der Kaltphase zwischen 1310 und 1330. Naβkalte Sommer, in denen das Getreide nicht ausreifte und die daraus resultierende schwerste Hungersnot in weiten Teilen Europas um 1315/16 war die Folge. Die Auswirkungen der fortschreitenden Abkühlung waren das Zufrieren der Ostsee im Winter 1322/23 und ein Gletscherhochstand im südlichen Mitteleuropa. Nach einer Reihe schwerer Überschwemmungen trat 1331 der Po erneut über die Ufer und richtete im Umland von Mantua und Ferrara gröβten Schaden an: über 10 000 Menschen kamen in den Fluten ums Leben. … Das Zusammenwirken der negativen Auswirkungen der Kolonisation und der Klimaverschlechterung machte immer neue Reaktionen zum Schutz der von den Menschen neu geschaffenen oder veränderten Ordnung in seiner Umwelt erforderlich, um seinen Lebensraum bewahren zu können.“

 

Wickiana - Von einer schrecklichen Ueberschwemmung

Abb. 6) Wickiana, „Von einer schrecklichen Überschwemmung“ (1562).

 

Der Mensch ist zwar auch heutzutage vom Lebenselixier „Wasser“ abhängig, seine Ehrfurcht vor den Wasserstellen jedoch hat sich dank jahrhundertelangem Kampf gegen seine Naturangst verflüchtigt. Sie fristet ihr Dasein im Schatten des Fortschrittswahns, der Profitgier und des irrationalen Übermuts, die ihre Kräfte aus dem Glauben an die Technologisierung beziehen. Chaotische und selbstzerstörerische Zustände sind die Folge: Süsswasservorräte werden aufgrund der Verschmutzung und Übersäuerung immer knapper; Ozeane, Seen und Flüsse werden überfischt, gnadenlos dem „Fracking“ unterzogen oder als Mülldepots missbraucht. Zu ihnen zählt auch der Rhein, dessen Fischbestand aufgrund der freigesetzten chemischen Schadstoffe und Hormone durch die Abfälle der Chemie- und Pharmaunternehmen kaum noch vorhanden ist. Er gilt heute als der am stärksten mit Mikroplastikpartikeln („Weichmachern“) verseuchte Fluss der Welt. Sie verändern nicht nur die DNA des Menschen, sondern fördern auch Krebserkrankungen und Unfruchtbarkeit. Zwar werden seit Jahrzehnten immer wieder Organisationen und kulturelle Bewegungen ins Leben gerufen, um die Gewässer vor der Willkür zu schützen. Noch immer aber leben zu viele Menschen nach dem Motto: „Nach uns die Sintflut!“ 

 

Zitate: Delumeau, Jean: Angst im Abendland. Die Geschichte kollektiver Ängste im Europa des 14. bis 18. Jahrhunderts, Reinbek bei Hamburg 1985 (+ Leonardo Da Vinci); Homer: Odyssee, übersetzt von Roland Hampe, Stuttgart 1979; Kühnel, Harry: Natur/Umwelt Mittelalter, in: Europäische Mentalitätsgeschichte. Hauptthemen in Einzeldarstellungen, hg. v. Peter Dinzelbacher, Stuttgart 1993, S. 562-580; Ovid/Publius Ovidius Naso: Briefe aus der Verbannung. Tristia – Epistulae ex Ponto (Briefe vom Schwarzen Meer). Übersetzt von Wilhelm Willige, Eingeleitet und erläutert von Niklas Holzberg, Frankfurt a.M. 1993; Stevenson, Robert Louis: Die Tollen Männer, in: Unheimliche Geschichten II, Ausgewählt und herausgegeben von Manfred Kluge, München 1986; Die Wickiana. Johann Jakob Wicks Nachrichtensammlung aus dem 16. Jahrhundert. Texte und Bilder zu den Jahren 1560-1571, hg. v. Matthias Senn, Küsnacht-Zürich 1975.

Literatur: Begemann, Christian: Furcht und Angst im Prozeß der Aufklärung. Zu Literatur und Bewußtseinsgeschichte des 18. Jahrhunderts, Frankfurt a.M. 1987; Borst, Arno: Barbaren, Ketzer und Artisten. Welten des Mittelalters, München 1988; Capelle, Wilhelm (Hg.): Die Vorsokratiker. Die Fragmente und Quellenberichte übersetzt und eingeleitet von Wilhelm Capelle, Stuttgart 1968; Delumeau, Jean: Angst im Abendland. Die Geschichte kollektiver Ängste im Europa des 14. bis 18. Jahrhunderts, Reinbek bei Hamburg 1985; Diethelm, Caspar: Die Hexenprozesse im Kanton Obwalden, Sarnen 1925; Dinzelbacher, Peter (Hg.): Europäische Mentalitätsgeschichte, Stuttgart 1993; Ders.: Angst im Mittelalter. Teufels-, Todes- und Gotteserfahrung: Mentalitätsgeschichte und Ikonographie, Paderborn/München/Wien/Zürich 1996; Homer: Odyssee, übersetzt von Roland Hampe, Stuttgart 1979; Kortüm, Hans-Henning: Menschen und Mentalitäten. Einführung in Vorstellungswelten des Mittelalters, Berlin 1996; Kühnel, Harry: Natur/Umwelt Mittelalter, in: Europäische Mentalitätsgeschichte. Hauptthemen in Einzeldarstellungen, hg. v. Peter Dinzelbacher, Stuttgart 1993, S. 562-580; Platter, Thomas: Lebenserinnerungen, Basel 1969; Schacher, Joseph: Das Hexenwesen im Kanton Luzern nach den Prozessen von Luzern und Sursee 1400-1675, Luzern 1947; Soldan-Heppe: Geschichte der Hexenprozesse, hg. v. Max Bauer, Bd. I. München 1912; Thüry, Günther E.: Natur/Umwelt Antike, in: Europäische Mentalitätsgeschichte. Hauptthemen in Einzeldarstellungen, hg. v. Peter Dinzelbacher, Stuttgart 1993, S. 556-562; Vocelka, Karl: Ängste und Hoffnungen, in: Europäische Mentalitätsgeschichte. Hauptthemen in Einzeldarstellungen, hg. v. Peter Dinzelbacher, Stuttgart 1993, S. 295-301; Die Wickiana. Johann Jakob Wicks Nachrichtensammlung aus dem 16. Jahrhundert. Texte und Bilder zu den Jahren 1560-1571, hg. v. Matthias Senn, Küsnacht-Zürich 1975.

Bildernachweise: Titelbild) Pinterest.de; Abb. 1) Pixels.com (Paul D. Stewart); Abb. 2) Planet-wissen.de; Abb. 3) Spiegel.de; Abb. 4) Fluchderkaribik.fandom.de; Abb. 5) Common.wikimedia.org (Alphonse-Marie-Adolphe De Neuville); Abb. 6) Die Wickiana. Johann Jakob Wicks Nachrichtensammlung aus dem 16. Jahrhundert. Texte und Bilder zu den Jahren 1560-1571, hg. v. Matthias Senn, Küsnacht-Zürich 1975.

 

By |2023-12-16T05:07:35+00:00Mai 2nd, 2023|AnGSt|0 Comments
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