Naturfurcht und Umweltkatastrophen (1) – Unwetter

Lebensfeindliche Landschaften und die elementaren Kräfte von Wind, Erde, Wasser und Feuer lehren den Menschen seit jeher das Fürchten. Kein Wunder, ist sein Verhältnis zur Natur ambivalent. Zwar empfindet er Ehrfurcht vor ihrer Macht und Schönheit, doch ängstigt er sich auch vor ihrer zerstörerischen Kraft und zwingt ihr gewaltsam seine Herrschaft auf. Die Zwiespältigkeit, die seine Beziehung zu ihr prägt, spiegelt sich in allen seinen Naturvorstellungen wider und darüber hinaus auch in seinem Abwehrverhalten, das nur allzu oft dieselbe Vernichtungswut aufzeigt.

 

Kapitel: Kein Entkommen vor der Naturfurcht – Die allgegenwärtige Angst vor Unwettern – Verursacher von Wetterkatastrophen – Gewitterfurcht als Herrschaftstugend – Befreiung von der Natur- und Unwetterfurcht

 

Kein Entkommen vor der Naturfurcht
Schwarze Wolke

Abb. 1) Die „Wolke über dem Kopf“ symbolisiert seit jeher die vielen verschiedenen Ausdrucksformen der Angst wie u.a. Sorgen, Befürchtungen, Depression, Schmerz, Stress, schwarze Gedanken, Unglück oder Einsamkeit.

Naturphänomene sind Angstauslöser. Reagieren kann der Mensch auf die Auslöser nur mit einem Angriffs- oder Fluchtverhalten. Hier liegt der Knackpunkt seiner problematischen Beziehung zur Natur. Denn aus seiner natürlichen Umwelt flüchten kann der Mensch nicht. Zwar ist es ihm manchmal möglich, sich dank seines Ideenreichtums, seiner Erfahrung oder seiner technischen Errungenschaften den Todesgefahren zu entziehen, die sie für ihn bereithält. Er bleibt jedoch Zeit seines Lebens ihren Launen ausgeliefert. Will er seinen Lebensraum nicht zerstören, bleibt ihm nichts anderes übrig, als sich ihrem Diktat zu unterwerfen.

Aus anthropologischer Sicht besteht eine Hassliebe zwischen dem Menschen und seiner Lebenswelt. Einerseits verehrt er sie, betrachtet er sie doch seit alters her als ein magischer Ort, wo göttliche Wesen hausen und Wunder geschehen. Denn nur so kann er den Gefahren, die hier auf ihn lauern, ihren bedrohlichen Charakter nehmen und ein Sicherheits- und Dazugehörigkeitsgefühl aufbauen. Andererseits wird er von einem Herrschaftsdrang ihr gegenüber beseelt, der diesen bösen und ihm feindlich gesinnten Raum den eigenen Bedürfnissen entsprechend verändern und kontrollieren will.

Aus Sicht der historischen Angstgeschichte sind beide Denk- und Verhaltensweisen Ausdruck der Überlebensangst, die danach strebt, den Tod zu überwinden. Sie äussert sich auf der einen Seite in der Entdeckung, Bewegung und Vereinnahmung. Die Hauptfunktion der biologischen Angst ist es schliesslich, den Menschen dazu anzutreiben, neues Terrain aufmerksam zu erforschen und Nützliches für sich in Anspruch zu nehmen, um Hunger und Durst zu stillen, sich vor Kälte oder Hitze in Sicherheit zu bringen oder aber um sich fortzupflanzen.

Auf der anderen Seite kommt die Angstenergie aber natürlich auch dann zum Einsatz, wenn der Mensch räumlich eingeengt, also in seiner Bewegungsfreiheit beschränkt oder sogar zum Stillstand gezwungen wird und daher Mangel erleiden muss. In solchen Situationen wird die Amygdala nämlich ganz besonders stark gereizt und reagiert mit einer übermässigen Energiekonzentration, die wir als „Aggression“ bezeichnen. Sie ermöglicht es ihm, unmittelbare Widerstände unverzüglich aus dem Wege zu räumen oder eine Konkurrenz zu eliminieren. Wird dieser Verteidigungsakt behindert, kennt die Vernichtungswut der Angst oft keine Grenzen mehr und schreckt nicht einmal vor der Selbstzerstörung zurück.

In der menschlichen Vorstellungswelt symbolisieren die Auslöser der Naturfurcht zumeist das Spirituelle und den Drang zur Gemeinsamkeit und ebenso oft die Suche nach dem Sinn des Lebens und der individuellen Identifikation. Der Mensch wird sich schliesslich auch erst im Moment der Gefahr oder der Demut wirklich seiner Existenz bewusst. Dass mit der Furcht wiederum fast immer Neugier und Faszination einhergehen, hat biologische Gründe. Lust und Unlust werden schliesslich gleichfalls durch die Amygdala gesteuert. Daher wird auch die Angst vor der Natur nicht selten als ein lustvolles Erleben wahrgenommen und in Literatur, Kunst oder in der Sportwelt idealisiert.

Die Bewertung und Interpretation der Naturphänomene sowie die Abwehrmittel, mit deren Hilfe die Angst vor ihnen überwunden werden soll, wandeln sich im Verlaufe der Menschheitsgeschichte immer wieder. Einst wurden die Unwetterphänomene beispielsweise mit der Existenz übersinnlicher Mächte (Dämonen, Hexen usw.) erklärt, die untrennbar mit dem Glauben an die Zauberei und Magie verbunden sind. Heute werden sie von den einen als Gefahr für Eigentum, Leib und Leben eingestuft, von anderen wiederum als willkommener Nervenkitzel. Letztere bezahlen ihre Respektlosigkeit vor den Naturgewalten oftmals mit ihrem Leben, wie sich jedes Jahr aufs Neue an den Unfallstatistiken ablesen lässt.

 

 

Die allgegenwärtige Angst vor Unwettern
Frankenstein 1931 - Boris Karloff

Abb. 2) In der berühmten Schauergeschichte „Frankenstein“ finden die Angst und das Naturphänomen „Blitz“ in der Gestalt eines Monsters eine gemeinsame Verkörperung. Mary Shelley verfasste die Erzählung im sogenannten „Jahr ohne Sommer“ (1816), als eine riesige Aschewolke weltweit die Atmosphäre verdunkelte und unzählige Unwetterkatastrophen auslöste. Ursache war der Ausbruch des Vulkans „Tambora“ ein Jahr zuvor. Das Bild zeigt den Darsteller Boris Karloff in der Verfilmung von 1931.

Unwetter sind in der Menschheitsgeschichte omnipräsent und mit Abstand die bedeutendsten Angstauslöser, wenn es um die Naturphänomene geht. Sie stellen schliesslich eine konstante Bedrohung dar, kann sich die Wetterlage jederzeit verändern. Auch weisen sie bedingt durch ihre Formenvielfalt eine grosse Anzahl von Gefahren auf, die sich aus den unterschiedlichen Aggregatszuständen des Wassers und der elementaren Kräfte des Windes ergeben. Hinzu kommt die grundsätzliche Abhängigkeit des Menschen von Wetter und Klima, entscheiden diese doch unter anderem über das Gedeihen der Nahrung und die herrschenden Temperaturen.

In der Vergangenheit glaubten die Menschen auch an eine Omnipräsenz übersinnlicher Wesen und Götter, die sie für die Phänomene verantwortlich machten. Vor allem in den Religionen nehmen Unwetter daher als Sinnbilder für göttliche Botschaften, Strafen und Vorzeichen (insb. Apokalypse) eine ganz besonders wichtige Stellung ein. Doch mit der passiven Hinnahme und dem Verweilen in der Todesangst hatte der Mensch schon immer seine Probleme. Schliesslich wirkt sich die Angst immer aktivierend auf ihn aus. Aus diesem Grunde stehen Gewittererscheinungen symbolgeschichtlich auch für gottgleiche Macht und übermenschliche Kräfte sowie für „gute“ Überzeugungen und das „richtige“ Verhalten.

Als das Christentum aufkam, richteten die Kleriker die allgemeine Lebensgestaltung der Gläubigen ganz auf den Tag des „Jüngsten Gerichts“ aus, das sich dem Glauben nach durch ungewöhnliche Naturereignisse ankündigt. Die Vorstellung vom bevorstehenden Weltuntergang sollte das Volk die nötige Demut vor dem Christentum lehren und dieses wiederum seine Überlebens- und Todesangst bewältigen helfen. Die Naturfurcht versuchte man daher auch in erster Linie mit religiösen Mitteln abzuwehren. Während des 14. Jahrhunderts beispielsweise war es in Luzern Brauch, Wetterprozessionen und Wettersegen abzuhalten und dabei das heilige Sakrament mitzuführen.

Es gibt sehr viele traditionelle Riten und Verhaltensweisen, die helfen sollten, die Angst vor den Naturphänomenen zu meistern. Die ältesten und in der Volkskultur am häufigsten angewandten Abwehrrituale besitzen spiegelnden Charakter. Bis weit in die Neuzeit war es zum Beispiel üblich, bei Unwetter Lärm zu veranstalten, zu heulen, zu schreien und herum zu poltern. Zur Zeit der Aufklärung galt dieses Verhalten natürlich als besonders unbürgerlich. Die Ruhe des aufgeklärten Hausherrn, der gegenüber der Naturgewalt gefasst blieb, empfand das damals noch immer sehr kirchentreue Volk wiederum als Blasphemie. Aus diesem Grunde zeigte es sich oft desinteressiert an den neuen Erkenntnissen und war gegen die Einsetzung von wissenschaftlichen Errungenschaften (u.a. Blitzableiter).

Die Bedeutung der Gewitterfurcht ist heutzutage vor allem auch an der Sprache nachzuvollziehen. Viele Redewendungen und Sinnsprüche nutzen nämlich Unwetterbeschreibungen, um einen Angstzustand darzustellen. Jemand, der einen Schock erleidet oder plötzlich stehen bleibt, weil ihm etwas/jemand besonders reizvolles aufgefallen ist, der wurde „vom Donner gerührt“ oder „vom Blitz getroffen“ heisst es unter anderem. Wer jemand anderes wiederum „im Regen stehen lässt“, der verweigert seine Hilfe in der Not, und wer traurig, enttäuscht oder beschimpft worden ist, der sieht für gewöhnlich wie ein „begossener Pudel“ aus. Und wer sich erschreckt oder aber überrascht oder plötzlich wütend wird, der gab früher schon mal ein lautes „Donnerwetter!“ von sich.

 

 

Verursacher von Wetterkatastrophen
Burt Lancaster - The Rainmaker 1956

Abb. 3) „The Rainmaker“ (1956). Das Bild zeigt Burt Lancaster in der Rolle eines betrügerischen Regenmachers. Heute werden in den USA Politiker, Juristen und Geschäftsmänner, die sich besonders teuer verkaufen können, als „rainmaker“ betitelt.

Wetterkatastrophen und andere Naturereignisse werden von den Menschen seit jeher als übernatürliche Botschaften interpretiert, mit denen die Götter oder andere magische Wesen ihren Unmut oder ihr Wohlwollen zum Ausdruck bringen. Über viele Jahrtausende galten sie als die Verursache von Donner, Blitzen, Regen, Hagel, Überschwemmungen, Schnee- und Wirbelstürmen. Daran änderte auch der Ein-Gott-Glaube der katholischen Kirche nichts. Die Angst hat den Menschen jedoch auch schon immer dazu angetrieben, die Naturphänomene zu beobachten, zu studieren und die auslösenden Kräfte dahinter zu erklären. Und immer wieder kam es vor, dass die Erklärungen, die sie sich ausdachten, andere Menschen für die Wetterveränderungen verantwortlich machten.

Die Klimaforschung konnte belegen, dass während des Mittelalters eine Klimaveränderung eintrat und Naturkatastrophen sich häuften. Mit der Krise einher ging eine Materialisierung der Angst. – Der Mensch kann schliesslich nur bekämpfen, was er sieht. Die übernatürlichen Kreaturen und Götter, deren Existenz sich nur in ihrem Wirken dem Menschen offenbarten, nahmen plötzlich Gestalt an. Spätestens seit dem Spätmittelalter und bis weit in die Neuzeit hinein waren Klerus und Volk davon überzeugt, dass ein Witterungsumschlag das Werk von Zauberern und Hexen sein müsse. Die Wetterhexerei gehörte am Ende nebst Unzucht und Diebstahl zu den meistgenannten Gründen für eine Hexenanklage.

Die Erntezeit war immer auch eine Zeit der Wetterfurcht. Die allermeisten Hexenprozesse wurden ebenfalls während des Sommers durchgeführt. Auch stand ihre Anzahl zumeist im Verhältnis zu den Naturkatastrophen, welche die Bevölkerung erleiden musste. Von der Angst betroffen waren aber auch die angeblichen Täter/innen. Die als Wetterhexe verschriene Anna Stäger von Hergiswil beispielsweise sagte 1657 in einem Verhör aus, dass sie sich ohne Unterlass vor Schlechtwetterphasen fürchte. Denn sie müsse ständig damit rechnen, von der Obrigkeit verhaftet und nach Luzern zum Verhör abgeführt zu werden.

In der Bibel der Christen findet sich die Geschichte von Noah und der grossen Sintflut, die als Gottesstrafe ausgelegt wird, sollte sie doch die Welt vom Bösen säubern. Der mittelalterliche Klimawandel äusserte sich ebenfalls in einer Zunahme an Überschwemmungen. Zu seiner Zeit sorgten jedoch vor allem die Menschenstrafen für Aufregung, nahmen doch die Prozesse gegen Häretiker, Ketzer, Zauberer und Hexen ihren Anfang. In der sogenannten Wickiana wiederum, einer illustrierten Nachrichtensammlung aus dem 16. Jahrhundert, findet sich ein Eintrag, der auch ohne Schuldzuweisung auskommt. Er trägt den Titel „Über ein heftiges Gewitter“:

„Als dieser Windsturm mit dem Hagelschlag sich bei uns am 6. Juli [1561] ereignete, fügte er auch in Straβburg den Leuten groβen Schaden zu; vor allem etwas geschah, was greulich zu hören aber durchaus wahr ist. An jenem Tag fuhr nämlich ein Burger der Stadt Straβburg auf einem Hauderwägelchen (wie sie es nennen) zusammen mit seiner Frau, drei Kindern und der Magd auf sein Gut hinaus. Als er gegen Abend wieder heimkehren wollte und auf die Rheinbrücke kam, fuhr der Windsturm so stark daher, daβ er Pferd und Mann, Weib und Kinder mit dem Wägelchen in den Rhein warf und sie nie mehr gesehen wurden.“

 

Wickiana - Ueber ein heftiges Gewitter 1561

Abb. 4) Wickiana, „Über ein heftiges Gewitter“ (1561).

 

 

Gewitterfurcht als Herrschaftstugend

Die Naturfurcht war schon immer in erster Linie eine Gottesfurcht. Kaum verwunderlich, zählen die Gewittergötter zu den ältesten uns bekannten Gottheiten. Im frühen Europa verehrte man vor allem den keltischen Donnergott „Taranis“ (auch „Taran“ oder „Torann“ genannt). Er fand später als „Donar“ (oder „Thor“) bei den Alemannen, als „Jupiter“ bei den Römern und schliesslich in der Gestalt von „St. Petrus“ bei den Christen Eingang in deren Glaubenswelt.

Die Überzeugung von aussergewöhnlichen, von den Göttern auserwählten Menschen, auf die spezielle Himmelserscheinungen hindeuten, findet sich ebenfalls schon bei den ältesten Hochkulturen. Zur vorchristlichen Zeit war der Glaube verbreitet, dass diese Erwählten an ihrer Gewitterfurcht zu erkennen seien. Aus diesem Grunde wurden die ersten Alleinherrscher in der politisch-religiösen Propaganda und somit auch in der Literatur und Kunst als Personen dargestellt, die unter ihr leiden.

Die Angst vor Unwettern sollte dem Volk vor Augen führen, dass die Herrscher nicht nur dieselben Götter verehren, sondern auch dieselbe religiöse Demut vor ihnen empfanden. Nur auf diesem Wege konnte sie schliesslich ihre Regierung als gottgewollt ausweisen und ihre besondere Stellung legitimieren. Zu ihnen zählen unter anderem die römischen Despoten Augustus, Tiberius und Caligula. Die zeitgenössischen Berichte, die ihre Furcht vor den Unwettern überlieferten, fasste der historische Verhaltensforscher August Nitschke (1926-2019) folgendermassen zusammen:

„Augustus hatte eine übertriebene Furcht vor Donner und Blitz und verbarg sich bei jedem Anzeichen eines etwas stärkeren Gewitters in einem tiefen festgemauerten Keller. Tiberius jagten »Gewitter einen groβen Schreck ein«. Er pflegte sich, um vor Blitzen geschützt zu sein, einen Lorbeerkrank aufzusetzen. Caligula gar kroch bei heftigem Donner unter seine Bettstatt.“

 

Dicke Bertha - 1. Weltkrieg

Abb. 5) Die alten Chinesen haben nicht nur das Schiesspulver erfunden, sondern auch das Feuerwerk, das künstliche Blitze an den Himmel zaubert. Kanonen hatten ebenfalls die Natur zum Vorbild. Dank ihrer Erfindung konnten spätere Machtherrscher gleichfalls Donner erzeugen und Zerstörung schaffen. Das Bild zeigt die sogenannte Dicke Bertha (42-cm-Mörser), die während des 1. Weltkriegs zum Einsatz kam.

 

Die späteren Kirchenväter benutzten die Gewitterangst schliesslich ebenfalls als ein propagandistisches Mittel zur Darstellung ihres „Gut-“ und „Erwählt-Seins“ sowie um ihre Gottestreue zu demonstrieren. In etlichen Legenden werden Episoden erzählt, in denen die Heiligen oder andere auserwählte Gläubige mit ihrer Furcht vor Unwettern zu kämpfen haben und errettet werden. Selbst Martin Luthers (1483-1546) Bekehrung zum Geistlichen wird mit ihr erklärt. Er soll 1505, nach einem Besuch bei seinen Eltern, bei Stotternheim (Mansfeld) in ein schreckliches Gewitter geraten sein und durch einen Blitzeinschlag in Todesangst versetzt Gott geschworen haben, zum Mönch zu werden, würde er ihn verschonen. Keine zwei Wochen später trat der damals 22jähige in den Bettlerorden der Augustinereremiten ein.

Die Ritter, die während der Kreuzzüge (11.-13. Jahrhundert) ihr grösstes Ansehen genossen, betonten ihre Gewitterfurcht ebenfalls, um ihre Kirchentreue und religiöse Hingabe zum Ausdruck zu bringen. Die Gewitterangst als Zeichen der Gottesfürchtigkeit und somit der „richtigen“ Denk- und Lebensweise konnte sich in der Schrifttradition bis weit in die Neuzeit hinein erhalten. So heisst es unter anderem auch noch in der Erzählung „Die schwarze Spinne“ (1842) von Jeremias Gotthelf (1797-1854): „Während dem fürchterlichen Ungewitter bebten die Menschen in den Schrecken des Todes, denn ihre Herzen wuβten wohl, wenn Gottes Hand vernichtend über sie komme, so sei es mehr als wohlverdient.“

 

 

Befreiung von der Natur- und Unwetterfurcht
Gene Kelly - Singin' In The Rain - 1952

Abb. 6) „Singin‘ In The Rain“ (1952). Das Bild zeigt Gene Kelly in der Rolle des verliebten und unbeschwerten Don Lockwood. Spätestens seit dieser berühmten Tanzaufführung von Kelly wird der Regen, der ja auch ein Gefühl der „Isolierung von der Welt“ vermitteln kann, mit der Romantik in Verbindung gebracht.

Es gab natürlich schon immer kritische Stimmen, welche die Überzeugungen und Voraussagen der Kirche in Frage stellten und Naturphänomene als natürliche Erscheinungen bewerteten. Die Erfahrung hatte schliesslich immer wieder gezeigt, dass nicht jedes Unwetter als Strafe zu werten war oder den Weltuntergang bedeutete. Auch ein Tagebucheintrag des schweizerischen Arztes Felix Platter (1536-1614) offenbart seinen Argwohn gegenüber ihrem Vorzeichencharakter: „Es ging zuvor ein Geschrei aus, auf Magdalenentag, den 22. Juli, würde der jüngste Tag kommen, was die Angst desto größer machte bei denen, die glaubten, diese Wetter wären die Vorboten“.

Während des Altertums bekämpften die griechischen Naturphilosophen die Götter- und Naturfurcht, um ein rationales Welt- und Menschenbild durchzusetzen. Als die Kirche ihre politische Macht einzubüssen begann, unternahmen die Aufklärer denselben Versuch. Spätestens seit dem 17. Jahrhundert waren sie es, welche die Befreiung des Menschen von seiner Naturfurcht anstrebten. Die religiöse Vormundschaft abzuschütteln und dem Vernunftdenken den Weg zu ebnen war schliesslich gleichfalls eines ihrer Hauptziele. Das gebildete Bürgertum, das dank der Aufklärung in der Gesellschaftshierarchie nach oben katapultiert wurde, war aufgrund seiner erklärten Ziele natürlich insbesondere an einem Prestigegewinn der Naturwissenschaften interessiert.

Die gelehrten Aufklärer leugneten fortan den göttlichen Vorzeichencharakter aussergewöhnlicher Naturerscheinungen, auch wenn die Naturvorstellungen selbst bei ihnen weiterhin religiöse Züge trugen. Ausserdem hoben sie die positiven Aspekte eines Unwetters für den Menschen und die Natur hervor (Fruchtbarkeit, Reinigung der Atmosphäre usw.) und brüsteten sich mit allerlei Erfindungen, die der Angst und den zerstörerischen Kräften der Unwetter Einhalt gebieten sollten. Die konträren Ansichten führten aber natürlich zu vielen Diskussionen und religiösen Auseinandersetzungen. Die Kirchenträger und vor allem auch die Gelehrten reagierten auf die Glaubenskrise mit einer veränderten Gottvorstellung. Spätestens seit dem 18. Jahrhundert bemühten sie sich, in der Bevölkerung die Auffassung eines gütigen, nachsichtigen und gerechten Gottes durchzusetzen.

Die Nachsicht und das Wohlwollen der aufstrebenden Aufklärer hingegen fanden jedoch sehr schnell ihre Grenzen. Zwar wollten die Erneuerer selbst nicht von Kirche und tyrannischem Staat bevormundet werden, sie schreckten jedoch nicht davor zurück, die einfache Bevölkerung einer radikalen Bevormundung zu unterwerfen. Wer sich nicht ihren Ansichten anschloss und ihr Welt- und Menschenbild zu verinnerlichen gewillt war, der wurde einfach für rückständig, unbelehrbar oder psychisch krank erklärt.

Wie einst die alten Griechen beschimpften schliesslich auch die Verteidiger des aufgeklärten Gedankenguts die Naturfurcht als eine Ausgeburt der Unwissenheit und deuteten sie zur Krankheit um. Zu ihnen zählt auch der deutsche Naturforscher und Physiker Georg Christoph Lichtenberg (1742-1799). Er forderte ebenfalls, man solle die Patienten, die unter der Angst vor Naturphänomenen leiden, gefälligst über deren wahre Entstehung aufklären. Nichtsdestotrotz blieben jedoch auch die ärztlichen Ratschläge religiös gefärbt. Besonders häufig erwähnt wird der Rat, die Kranken sollten während eines Gewitters singen und beten, da sich dies beruhigend auf ihr Gemüt auswirke.

 

„Zu jener Zeit fürchtete ich alles, was mich aus dem Gleichgewicht werfen konnte, Wetterumschläge zum Beispiel, die mich rastlos und erregt werden lieβen. Einmal, mitten in der Nacht, brach ein orkanartiges Gewitter los; es rüttelte uns aus unseren Betten. Angstvoll scharten sich die Mädchen um das Licht mitten im Zimmer und beteten zitternd zu ihren Heiligen.“

Charlotte Brontë (1816-1855)

 

In der Wissenschaftsliteratur und vor allem in den Medien ist immer wieder zu lesen, dass bereits im Frühmittelalter die Natur- und damit auch die Unwetterfurcht abzunehmen begann und Naturereignisse spätestens seit dem 18. Jahrhundert nicht mehr als göttliche Botschaften, Vorzeichen oder Strafen interpretiert worden seien. Doch wer sich genauer mit dem Thema auseinandersetzt, der wird schon bald bemerken: dieselben Denkmuster beherrschen auch heutzutage die Vorstellungswelt. Die „Klimawandel“-Debatte bietet unzählige Beispiele dafür, auch wenn nicht mehr von „göttlichen“, sondern auf der einen Seite von „menschlichen“ und auf der Gegenseite von „natürlichen“ Verursachern die Reden ist.

Die traditionelle Deutung des Wettergeschehens zeigt ebenfalls seit jeher nicht nur religiöse, sondern auch ganz praktische Züge auf. Egal, ob Schafhirt im alten Griechenland, mittelalterlicher Bauer, Universalgelehrter oder bürgerlicher Kaufmann der Neuzeit, sehr viele von ihnen vertraten die Meinung, dass schon die kleinsten Naturvorgänge nützliche Informationen für zukünftige Prognosen liefern könnten. Aus dieser Überzeugung hervorgegangen ist bekanntlich auch die moderne Wissenschaft der Meteorologie, deren Voraussagen heute noch zumeist so unbeständig und unzuverlässig sind wie das Wetter selbst.

 

Zitate: Die Wickiana. Johann Jakob Wicks Nachrichtensammlung aus dem 16. Jahrhundert. Texte und Bilder zu den Jahren 1560-1571, hg. v. Matthias Senn, Küsnacht-Zürich 1975; Nitschke, August: Wandlungen der Angst, in: Die politische und gesellschaftliche Rolle der Angst, hg. v. Heinz Wiesbrock, Frankfurt a.M. 1967, S. 22-35; Gotthelf, Jeremias: Die schwarze Spinne, Stuttgart 1966; Platter, Felix: Tagebuchblätter aus dem Jugendleben eines deutschen Arztes des 16. Jahrhunderts, hg. v. Horst Kohl, Leipzig 1913.

Literatur: Begemann, Christian: Furcht und Angst im Prozeß der Aufklärung. Zu Literatur und Bewußtseinsgeschichte des 18. Jahrhunderts, Frankfurt a.M. 1987; Borst, Arno: Barbaren, Ketzer und Artisten. Welten des Mittelalters, München 1988; Delumeau, Jean: Angst im Abendland. Die Geschichte kollektiver Ängste im Europa des 14. bis 18. Jahrhunderts, Reinbek bei Hamburg 1985; Diethelm, Caspar: Die Hexenprozesse im Kanton Obwalden, Sarnen 1925; Dinzelbacher, Peter: Angst im Mittelalter. Teufels-, Todes- und Gotteserfahrung: Mentalitätsgeschichte und Ikonographie, Paderborn/München/Wien/Zürich 1996; Ebeling, Gerhard: Lehre und Leben in Luthers Theologie (Vortrag G 270), in: Rheinisch-Westfälische Akademie der Wissenschaften (Düsseldorf) Vortrage/Geisteswissenschaften (Hg.), Opladen 1983; Fischer, Friedrich: Die Basler Hexenprozesse in dem 16ten und 17ten Jahrhundert, Basel 1840; Gotthelf, Jeremias: Die schwarze Spinne, Stuttgart 1966; Kortüm, Hans-Henning: Menschen und Mentalitäten. Einführung in Vorstellungswelten des Mittelalters, Berlin 1996; Kühnel, Harry: Natur/Umwelt Mittelalter, in: Europäische Mentalitätsgeschichte. Hauptthemen in Einzeldarstellungen, hg. v. Peter Dinzelbacher, Stuttgart 1993, S. 562-580; Lefebvre, Georges: Die Große Furcht von 1789, in: Geburt der bürgerlichen Gesellschaft: 1789, hg. v. Irmgard A. Hartig, Frankfurt a.M. 1979, S. 88-135; Nitschke, August: Wandlungen der Angst, in: Die politische und gesellschaftliche Rolle der Angst, hg. v. Heinz Wiesbrock, Frankfurt a.M. 1967, S. 22-35; Pfister, Christian: Bevölkerungsgeschichte und historische Demographie 1500-1800, München 1994; Platter, Felix: Tagebuchblätter aus dem Jugendleben eines deutschen Arztes des 16. Jahrhunderts, hg. v. Horst Kohl, Leipzig 1913; Schacher, Joseph: Das Hexenwesen im Kanton Luzern nach den Prozessen von Luzern und Sursee 1400-1675, Luzern 1947; Schiess, Emil: Das Gerichtswesen und die Hexenprozesse in Appenzell, Bern 1919; Trechsel, Friedrich: Das Hexenwesen im Kanton Bern. Bern 1870; Vocelka, Karl: Ängste und Hoffnungen, in: Europäische Mentalitätsgeschichte. Hauptthemen in Einzeldarstellungen, hg. v. Peter Dinzelbacher, Stuttgart 1993, S. 295-301; Weitnauer, Alfred: Keltisches Erbe in Schwaben und Baiern. Kempten (Allgäu) 1965; Wiesbrock, Heinz (Hg.): Die politische und gesellschaftliche Rolle der Angst. Einführung in die Thematik des Bandes, Frankfurt a.M. 1967; Die Wickiana. Johann Jakob Wicks Nachrichtensammlung aus dem 16. Jahrhundert. Texte und Bilder zu den Jahren 1560-1571, hg. v. Matthias Senn, Küsnacht-Zürich 1975.

Bildernachweise: Titelbild) Pixabay.de; Abb. 1) Activerain.com; Abb. 2) Sites.google.com; Abb. 3) Fineartamerica.com; Abb. 4) Die Wickiana. Johann Jakob Wicks Nachrichtensammlung aus dem 16. Jahrhundert. Texte und Bilder zu den Jahren 1560-1571, hg. v. Matthias Senn, Küsnacht-Zürich 1975; Abb. 5) Hirschfeld, Gerhard (Hg. u.a.): Enzyklopädie Erster Weltkrieg, Paderborn 2003; Abb. 6) Pgm.de.

 

By |2023-11-10T16:51:57+00:00April 13th, 2023|AnGSt|0 Comments
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