Symbole der Angst (6) – Die Gans

Angstsymbole versinnbildlichen Ängste, Befürchtungen und Sorgen – und darüber hinaus auch ihre Verursacher. Die Gans warnt den Menschen seit jeher vor Gefahren. Denn ihr ohrenbetäubendes Geschnatter löst bei ihm nicht nur eine „Gänsehaut“ aus, sondern aktiviert auch sein Überlebenssystem. Kaum alarmiert, überkommen ihn dann nur allzu oft böse Ahnungen und das Gefühl, dass gerade „eine Gans über sein Grab gewatschelt ist“. Doch manchmal ist die Warnung unbegründet, und er wird umsonst zum „Gänseprediger“. Steckt er dann andere mit seiner Furcht an, kann es plötzlich närrisch zugehen oder auch hässlich werden.

 

Kapitel: Name und Herkunft – Zweideutiges und zwielichtiges Geschöpf – Prophet und Unheilverkünder – „Dumme Gänse“ – Sinnbild der Hässlichkeit – Sinnbild der Unkeuschheit – Falsche Propheten und Rachsüchtige – Spielvögel und kalte Füsse

 

 

Name und Herkunft
Haus- und Wildgans

Abb. 1) Haus- und Wildgänse versinnbildlichen seit jeher die Angst des Menschen vor dem Tod aber auch vor dem Leben.

Seit Jahrtausenden kann der Mensch dank der Gans (Ganz, Gantz) seine elementarsten Ängste vor Hunger, Kälte, Feinden und Unheil beschwichtigen. Denn seit jeher nutzt er sie als Fleisch- und Federnlieferant wie auch als Alarm- und Orakeltier. Es ist also kaum verwunderlich, dass die Gans bereits in den ältesten Schriften Erwähnung findet und ihr Name – wie der des Hasen und der Katze – eine Verwandtschaft zum Wort „Angst“ aufweist.

Bereits die Ägypter haben vor über viertausend Jahren Gänse gezähmt und sie als Nutz- und Haustiere gehalten. In den Aufzeichnungen der alten Griechen wird besonders ihre Rolle als Opfertier betont. Der römische Naturkundler Plinius (23-79 n. Chr.) wiederum berichtet, die Gänse („ganzae“) kämen aus Germanien, wo sie in erster Linie im Rheinland in grosser Zahl gezüchtet werden. Vor allem die Angehörigen des Morini-Stamms sollen sie herdenweise bis in die italienische Hauptstadt getrieben oder auch nur ihr Gefieder hierher transportiert haben.

Der Name Gans entspringt einem tonalen Klangbild, das ihr oft hysterisch anmutendes „Trompeten“ nachahmt. Ihre deutsche Benennung leitet sich unter anderem von den Worten „gans“ (mhd./ahd.) und „gōs“ (mnd.) her. Sie beide gehen auf das indogermanische (indoeuropäische) „ĝhans“ zurück, das zumeist für die Haus- aber auch die Wildgans stehen kann. Als weitere Vorläufer gelten die irisch-gälischen Bezeichnungen „gédh“ und „géadh“ sowie die kornischen (keltischen) Worte „gûdh“ und „guit“.

Die Wildgans besitzt seit jeher auch eigene Namen, die alle auf ihre dunkle Farbe anspielen. Auf sie verweisen beispielsweise die lateinische Bezeichnung „anser“ sowie die altdeutschen Benennungen „aucer“ und „ags“. Ihre etymologische Verwandtschaft zum „Wort Angst“ ist ebenfalls problemlos nachvollziehbar, so unter anderem am Beispiel des italienischen „ansia“ (Angst, Beklemmung, Sorge, Sehnsucht, Begehren) oder dem gleichbedeutenden, spanischen „angustia“.

In diesem Sinne besonders interessant ist auch das Wort gänseln. Es benennt nämlich emotionale und physiologische Angstreaktionen. Besonders oft wird es mit „in die Enge treiben“, „quälen“, „etwas in Bewegung setzen“ oder auch „riechen“ und „schmecken“ (Schweiz) übersetzt. Ausserdem kann der Ausdruck für eine „erregte“ Person stehen, die „albern rumschäkert “, „unsinnig schwatzt“ oder einfach nur „dämlich aussieht“.

Erregt sind normalerweise auch Verliebte und Sexwillige, die ihre Liebes- bzw. Lustobjekte ins Auge gefasst haben. Kein Wunder, kontrolliert die biologische Angst schliesslich auch die menschliche Sexualität. Das Verb gansen (oder gänsern) ist diesbezüglich besonders aussagekräftig, bedeutet es nicht nur „äffen“, „narren“, „spotten“ sowie (Gänse) „jagen“ und „fangen“, sondern auch „kokettieren“, „liebäugeln“ und „liebemachen“. Überhaupt versinnbildlicht die Gans seit vielen Jahrhunderten nicht nur die Liebesangst oder die Furcht vor der Unfruchtbarkeit und erzwungenen Enthaltsamkeit. Sie ging auch als göttliches Liebes- und Fruchtbarkeitstier in die Geschichte ein.

 

 

Zweideutiges und zwielichtiges Geschöpf

Die Gans personifiziert seit jeher die Angst, warum ihre Deutungen ebenfalls immer wieder zweideutig sind. In den frühsten Schriften wird oft erwähnt, dass die Hausgans (altn. „heimgâs“) zwar angst- und sorglos lebt, am Ende jedoch dafür mit ihrem Schlachttod bezahlen muss; die Wildgans hingegen zwar frei doch der ständigen Gefahr ausgesetzt ist. Aus zoologischer Sicht ist die Gans sowohl mit dem „schönen“ Schwan als auch dem „hässlichen“ Entlein verwandt. Wie sie ist auch die Gans ein typischer Schwimmvogel, der jedoch einen Grossteil seines Lebens an Land verbringt.

Hexe und Gans

Abb. 2) In den alten Volkssagen aber auch in modernen Kindergeschichten spielt die Gans vor allem als fliegendes Transportmittel von Zauberinnen, Hexen und anderen Märchengestalten eine wichtige Rolle.

Doppeldeutig ist auch der Name der Gans. Denn strenggenommen steht er zwar für das Weibchen, doch kann er ebenso für das Männchen herangezogen werden –, das eigentlich als „Gänserich“, „Ganser“ oder „Ganter“ bezeichnet wird. Dieselbe Doppelnatur weist auch ihr lateinisch-maskuliner Name anser auf, der sowohl die männliche als auch weibliche Wildgans benennt.

Unterschiedlich beurteilt werden oft auch ihre Charakterzüge, ihr Verhalten und ihre Funktionen für den Menschen. Im Gegensatz zur gezähmten Hausgans, die fast immer weisser gezüchteten wird und sehr viel grösser ist, wird der Wildgans zumeist misstraut. Sie kommt schliesslich für gewöhnlich in den Farben grau, braun und/oder schwarz daher, die seit jeher das Zauberische und Böse kennzeichnen. Die dunklen Wildgänse wurden aufgrund ihres Kolorits und ihres ungezähmten Naturells daher schon immer als magische Tiere betrachtet.

Ihrem Ruf in späterer Zeit geschadet hat den Gänsen aber auch ihrer Nähe zu den heidnischen Göttern und Göttinnen, als deren Attributtiere sie oft auftreten. Besonders erwähnenswert ist an dieser Stelle die römische Juno, die mit der griechischen Hauptgöttin Hera (Göttin u.a. der Frauen und der Ehe) gleichgesetzt wird. Ihr Name sowie der der Hekate werden in der Sprachforschung als Vorläufer der „Hexen“-Bezeichnung gewertet. Hekate ist dem Mythos zufolge die Gebieterin über die Unterwelt und die Mutter der Zauberei und Geisterbeschwörung. Es erstaunt daher kaum, dass die Gans in den alten Mythen, Hexensagen und Märchen als Begleit- und Hilfstier der Zauberinnen und Hexen Erwähnung findet – wie auch die dunklen Katzen und Hasen.

Beiden Göttinnen gemeinsam ist wiederum eine Verbindung zur germanischen Frühlingsgöttin Freya (Freia), die ebenfalls als Totengöttin und Lehrmeisterin der Zauberei verehrt wurde. Altnordische Glaubensvorstellungen wiederum bringen die Gans mit der „Wilden Jagd“ (oder „Wilde Schar“) in Verbindung, einem Heer von Totenseelen, Dämonen oder sonstigen Spukgestalten, die während der Raunächte ihr Unwesen treiben.

Manchmal werden die Gänse aber auch als Ausgeburt des Teufels beschrieben –, der übrigens in den Akten der Hexenprozesse hin und wieder als weiblicher Beelzebub auftritt! Der schweizerische Humanist Thomas Platter (1499-1582), der in seiner Kindheit als Hirtenjunge sein Brot verdienen musste, hat eine solche Beschreibung überliefert. Über seine erste Begegnung mit den Tieren berichtete er: „Am Morgen sah ich Gänse, deren ich nie gesehen hatte; da meint` ich, da sie mich anschnatterten, es wäre der Teufel und wollte mich fressen; ich floh und schrie.“

 

 

Prophet und Unheilverkünder
Wildgans

Abb. 3) Die freien Wildgänse personifizierten schon immer das Übersinnliche – und wegen ihrem Ungezähmt-Sein und ihrer dunklen Farbe auch das Böse. Oft werden sie auch als heilige Geister oder unsichtbare Berater beschrieben, die über die Köpfe der Menschen hinwegfliegen.

Vor allem die Wildgans wird seit jeher als ein unheimliches Wesen beschrieben, das die Angst vor dem Tod aber auch vor dem Leben symbolisiert. Besonders häufig findet sie nämlich als Mittler zwischen dem Dies- und Jenseits Erwähnung oder als eine Art Beichtvater, der sich die Klagen verängstigter und besorgter Menschen anhört. Die Schamanen der sibirischen Stämme beispielsweise glaubten, sie könnten im Trancezustand und durch das Nachahmen ihres Schreis mit dem Übersinnlichen in Kontakt treten.

Weit praktischer gestaltet sich ihre Rolle als Alarmtier, das bevorstehende Gefahren ankündigt. In vorchristlicher Zeit galt die Gans als ein heiliges Tier. Zu ihren altertümlichen Patroninnen bzw. Patronen zählten insbesondere Venus, Amor, der Fruchtbarkeitsgottes Priapus und auch der Kriegsgott Mars. Im alten Rom waren die Gänse vor allem als Begleittiere der Juno bekannt. Sie galt als die Schirmherrin der Hauptstadt und gehörte nebst ihrem Göttergatten Jupiter und Minerva zu den drei wichtigsten Gottheiten Roms (Kapitolinische Trias). Aus diesem Grunde wurden die Tiere auch in der Nähe ihres Tempels auf dem Kapitol gehalten. Ende des 4. Jahrhunderts v. Chr. versuchten die gallischen Kelten das Kapitol zu erobern. Es stellte dazumal das religiös-politische Zentrum des Römischen Reichs dar und war darüber hinaus auch der wichtigste Zufluchtsort der Römer. Ganze sieben Monate lang belagerten die Kelten erfolglos die heilige Stätte. Dann, eines Nachts, versuchten einige Krieger des Senonen-Stamms es zu stürmen, doch die dort gehaltenen Gänse schlugen Alarm und vereitelten das Unternehmen.

Die mittelalterlichen Kreuzfahrer sollen ebenfalls Gänse mit sich geführt haben, da sie in ihnen den Heiligen Geist verkörpert sahen. Überhaupt spielen die Tiere in den christlichen Erzählungen eine besonders wichtige Rolle. Hier wird besonders oft ihr „trompetendes geschrei’’ erwähnt, das als Warnsignal und wichtige Botschaft interpretiert wird. Kaum verwunderlich, erinnern die oft weissgekleideten und mit weitgeöffneten Mündern dargestellten Engelsboten auf den Heiligenbildern an die weissen, zumeist als reine Seelen interpretierten Hausgänse.

Eine wichtige Rolle spielen die Gänse aber nicht nur als Orakel- und Opfertiere im religiös-kultischen Bereich. Für die Seeleute und somit auch die Kreuzfahrer, die erst das Meer überqueren mussten, um ins Heilige Land zu gelangen, waren sie vor allem als Wetterpropheten von grosser Bedeutung. In den Seemannsgeschichten wird immer wieder erwähnt, dass Gänse heftige Unwetter und schwere Stürme voraussagten. Der Mensch, der eine Überraschung erlebt, steht „wie eine gans wenns donnert“ da, besagt daher auch eine altüberlieferte Redewendung. In diesem Kontext ist auch der Begriff Gänseblick erwähnenswert, der „überrascht schauen“ oder „verdutzt sein“ bedeuten kann.

 

 

„Dumme Gänse“
Gans mit Zylinder

Abb. 4) Vor allem die politischen und religiösen Autoritäten bedienten sich schon immer gerne des Gänse-Vergleichs, um das Volk als dumm und unwissend hinzustellen. Aber auch Frauen und Männer bedienen sich seit Jahrhunderten seiner, um andere zu beschimpfen und diskreditieren.

Von der Kirche wurde die Gans im Verlaufe der Christianisierung gemeinsam mit unzähligen anderen göttlichen oder heiligen Gestalten (u.a. Perchta) dämonisiert und abgewertet. Immer häufiger legte man ihr warnendes Geschnatter als Falschmeldung und albernes Getue aus. Die Gans wurde zur Witzfigur umgedeutet, ihr Name zum Schimpfwort und sie selbst zum Sinnbild der Feigheit, Naivität, Dummheit, Hässlichkeit und Unkeuschheit.

Sehr viele Ausdrücke und Redewendungen aus dieser Zeit dichten dem Menschen gänseartige Charakterzüge und Verhaltensweisen an, um ihn blosszustellen. Sie wurden von alten Volkskundlern wie den Gebrüdern Grimm (18./19. Jahrhundert) gesammelt und interpretiert. Als Gänsekopf beispielsweise wird jemand betitelt, der nicht viel im Gehirn hat, also ein Schwach- oder Dummkopf ist. Aber auch einer, der lieber denkt als handelt, „die kostbare zeit mit versemachen“ vergeudet oder aber keinen Alkohol verträgt, wird als solcher veräppelt.

Als „Gänsekopf“ beschimpft wird jedoch auch das angeblich „dumme frauenzimmer“. Vor allem ständig plappernde Frauen, die sich gegenseitig mit ihrem Gerede anstecken, und Dummschwätzerinnen stehen in den Gänse-Witzen im Mittelpunkt. Sie sollen beispielsweise wie die Gänse „pfeifen“ und „zischen“, wenn ihnen jemand zu nahekommt, den sie nicht leiden können. In alten Redewendungen heisst es daher auch: „ir geschwetz achten wir als wan uns ein gans anpfiff“ oder „es ist mir so viel als pfiffe mich eine gans an“. Ein weiterer fieser Spruch besagt: „Drei Frauen, drei Gänse und drei Frösche machen einen Jahrmarkt“. Und Martin Luther (1483-1546) meinte, scheinheilige Frauen würden sich vor allem durch ihr gänseartiges Verhalten verraten, denn „wenn sie andechtig sein wöllen, werfen sie den kopf zu beiden seiten, wie eine gans“. Und auch Friedrich Schiller (1759-1805) meinte: „Das Weib ist eine alberne Gans“.

Das Wort Gansin bzw. Gans wird seit Jahrhunderten als ein entwürdigender Kraftausdruck verwendet, um Frauen und insbesondere junge Mädchen zu diffamieren. Es soll andeuten, dass das weibliche Geschlecht über kein Gehirn verfügt oder höchstens das einer Gans habe. Als Gänschen oder Gänslein (kleine Gans) wiederum werden in erster Linie Mädchen betitelt, um ihre Dämlichkeit, ihre Eitelkeit und ihr kindisches Getue hervorzuheben. Kaum verwunderlich, bedeuten auch die Worte gänsig oder gänsehaft „närrisch“, „einfältig“ und „albern“.

In einer ganzen Reihe von Gänse-Witzen steht aber auch die männliche Naivität, Ängstlichkeit, Feigheit und Gedankenlosigkeit im Mittelpunkt. Die Furcht des Mannes (vor allem des jungen Mannes) wird besonders gerne am Beispiel des Nicht-Rasierens vor Augen geführt. Denn wenn sich einer nicht rasierte und Bartstoppeln zum Vorschein kamen, hänselte man ihn mit dem Spruch, dass ihn „die gänse beiszen“ würden oder er mit „gänsen im krieg“ läge. Beide Redewendungen galten als besondere Ehrbeleidigungen, unterstellen sie dem Manne doch Angst vor dem Bluten zu haben (durch eine ungeschickte Rasur) und ausserdem an der Vergesslichkeit (sich zu rasieren) zu leiden.

Die Wildgans musste vor allem als Sinnbild des unbelehrbaren und geistig beschränkten Mannes herhalten. Denn sie steht oft für einen, der flügge wird, in die grosse, weite Welt rausgeht –, doch am Ende wieder ebenso unklug und naiv nach Hause kommt. Der Ausdruck Gänseseele wiederum beschreibt jemanden, der von seinen Ängsten beherrscht wird. Voller Verachtung auf die „gänseseelen in menschlicher gestalt“ (souls of geese) eingegangen ist beispielsweise William Shakespeare (1564-1616) in seinem Coriolanus.

 

 

Sinnbild der Hässlichkeit
Gans und Schwan

Abb. 5) Seit Jahrhunderten wird der Gans in Fabeln, Volkssagen und Märchen aber auch in moralischen und pädagogischen Schriften der schöne und daher auch gute Schwan als Gegenpart gegenübergestellt. Aus diesem Grunde nimmt sie in diesen Vergleichen immer die Rolle des Hässlichen und Bösen ein.

Aus Sicht der Sprachwissenschaften haben sich Wortbildungen wie „Horror“, „Schock“, „Qual“ und „Drohung“ aber auch „Peinlichkeit“ und „Schüchternheit“ aus dem uralten Angstwort entwickelt, und auch die Bezeichnung Hässlichkeit ist nur ein anderes Wort für die „Angst“. Schliesslich erschreckt das Hässliche, stösst ab, weckt die Aggression und leitet automatisch die Abwehr ein. Aus diesem Grunde droht ihm auch ständig die Blossstellung, Beschimpfung, Misshandlung und damit Schmerz und Schädigung.

Das Unschöne ist immer gezwungen sich zu verbergen, um dem Volkszorn zu entgehen. Darum wird den angeblichen Feinden oder Konkurrenten seit jeher auch vorgeworfen, hässlich zu sein. Die Gans wandelte sich im Verlaufe der mittelalterlichen Christianisierung zum Symbolträger der Hässlichkeit, die mit dem Bösen, mit Tod, Krankheit, Unvernunft, Unsittlichkeit, Feigheit oder Trägheit gleichgesetzt wird. Ihr Aussehen, Verhalten, Charakter und Nutzen wurde zunehmend in Frage gestellt und ihre einstige Bedeutung für nichtig erklärt.

In den Sagen, Fabeln und Märchen wurde der Gans schon bald der „schöne“ Schwan als Gegenpart gegenübergestellt. Die Ungläubige unter den reinen, guten Christen sei wie eine „gans unter den schwanen“, hiess es daher auch. Die üble Nachrede löst aber bekanntlich nicht selten wieder ein schlechtes Gewissen und somit die Angst vor Rache aus. Um ihr entgegenzuwirken, wurden deshalb auch weitere Redewendungen ersonnen, wie zum Beispiel: „ein gans schnattert übel unter den schwanen“ oder „kan ich nicht singen wie ein schwan, so mag ich mit den märtensgänsen schnattern oder zischen“.

Die Angst vor der Unansehnlichkeit steht auch im Mittelpunkt des Märchens vom Hässlichen Entlein, das am Ende zum schönen Schwan mutiert. Die Erfolgschancen, sich fortpflanzen zu können und/oder jemanden in sich verliebt zu machen, werden schliesslich seit jeher nur den „Schönen“ zuerkannt. Kein Wunder, spielt also auch bei diesem Thema die Hässlichkeit eine sehr bedeutende Rolle. Im realen Leben wandelte sich die Gans vor allem wegen ihres Dickseins und ihres ungelenken, bummeligen Watschelgangs zum Sinnbild der äusserlichen Unvollkommenheit.

 

 

Sinnbild der Unkeuschheit
Frau mit Gans

Abb. 6) Im alten Griechenland und Rom waren die Gänse vor allem als Begleittiere von Liebes- und Fruchtbarkeitsgottheiten bekannt.

In vorchristlicher Zeit fand die Gans als Liebesgeschenk, Verkörperung der Liebesangst und als Tierattribut von Fruchtbarkeitsgottheiten Erwähnung. Da man sie als magisches Tier betrachtete, nutzten Heiler und Apotheker sie aber darüber hinaus auch zur Herstellung potenzsteigernder Mittel. Vom Gänsefleisch wurde beispielsweise angenommen, dass es die Liebeslust steigern würde, und auch die Gänsegalle galt als Aphrodisiakum. Als das Christentums Einzug hielt, erklärten die Kirchenväter die sexuelle Enthaltsamkeit jedoch zur Tugend und die Gans wurde zum Gegenstand „unzüchtiger“ Sprüche und „dreckiger“ Witze.

Seit dem 15. Jahrhundert wird jemand als Gänselöffel beschimpft, der zu grosse Angst davor hat, sich gegen Hänseleien und sonstige verbale Angriffe zu wehren. Das Wort weist jedoch auch zur Sehnsucht und dem Begehren hin, also zu weiteren wichtigen Hauptbedeutungen des Angstwortes. Besonders junge Frauen sollen sich gerne des Begriffs bedient haben, um einem törichten (da unerfahrenen) Mann exemplarisch „ihr begehren aufs deutlichste“ beizubringen, wie im Wörterbuch der Grimmbrüder schamhaft erklärt wird. Für die weibliche Scham wiederum stehen unter anderem das altnordische „gâs“ sowie das isländische „gás“, die natürlich beide „Gans“ bedeuten.

Im anrüchigen Sinne gedeutet wird auch das sogenannte Gänsespiel, das einerseits als „kegel schiben“ oder „kreisz schiszen“ umschrieben wird und den Sexualakt andeutet. – Heute würde man wohl eher davon sprechen, eine „Nummer zu schieben“ oder derb ausgedrückt: „einen wegzustecken“. Andererseits wird mit dem Ausdruck darauf hingewiesen, dass man – oder vielmehr „Mann“ – nicht „ans Ziel gelangt ist“. Auch was heute im Jargon gerne als „vögeln“ umschrieben wird, wurde früher zumeist als gänsern tituliert.

Die Überzeugung, dass die Gänse sexgierige Tiere seien, wird im grimmschen Wörterbuch mit den folgenden Worten umschrieben: „die gans ist ein unkeuscher vogel, der sogar im wasser die unkeuschheit treibt“. Friedrich Schiller seinerseits deutet die beschränkte Männervorstellung von der „Heiligen oder Hure“ an, wenn er schreibt: „entweder sei sie eine Gans, sich davor zu fürchten, oder ein Luderchen“. Im Tirol wird letzteres, also das kokette Weibsbild, das für das sexuelle Vergnügen leicht zu haben ist, noch heute als Gans resp. Gansl bezeichnet.

Das mitteldeutsche Adjektiv gansig heisst „kindisch“ oder „gefallsüchtig“ und wird zumeist mit einem Mädchen in Beziehung gesetzt. Das gleichbedeutende, niederdeutsche gôsig kann darüber hinaus aber auch mit „kränklich“ oder „blass“ übersetzt werden. Als Gänseblümchen beschimpft man (und vor allem „Mann“) schon seit etlichen Zeiten ein Mädchen oder eine Frau, die sich aus moralisch-religiösen Gründen dem ausserehelichen Geschlechtsverkehr verweigert und/oder enthaltsam lebt. Bösen Zungen unterstellen ihm seit jeher, hässlich, geistig labil und kränklich zu sein.

 

 

Falsche Propheten und Rachsüchtige

Wer sich seinen Freiern und Verehrern entzieht oder im Konkurrenzkampf als schöner, gewandter, klüger oder gerissener betrachtet wird, löst immer Furcht aus. Und wer verängstigt ist, der mutiert für gewöhnlich zum Angstverbreiter. Seit Jahrtausenden versetzt die selbst erschreckte Gans den Menschen in Alarmbereitschaft. Kaum verwunderlich, steht die lautschnatternde Gans nicht nur symbolisch für die Warner vor Gefahren und die Redseligen, sondern auch für die Aufwiegler und Rachsüchtigen –, wie auch das oberdeutsche Wort ganserle belegt, das „ausplaudern“ und „aufhetzen“ bedeutet.

Gans

Abb. 7) Gänse sind nicht nur sehr mutige, sondern auch sehr angriffs- und streitlustige Tiere. Kein Wunder, haben sie den Menschen immer wieder in Angst versetzt und in die Flucht geschlagen.

Klatsch und üble Nachrede werden ebenfalls seit jeher durch den Gänse-Vergleich symbolisiert, wie sich vor allem am Bild eines Menschen, der ohne nachzudenken sein Maul aufreisst, nachvollziehen lässt. Ein politischer Spruch besagte daher auch: „Denn wo keine Leute sind, da setzt man Gänse auf die Bank“. Als Gänsehörnlein wiederum wird etwas Unsinniges bezeichnet –, ohne zu wissen, ob es wirklich unsinnig ist,– oder aber eine Person beschrieben, die etwas sucht und dabei in die Irre geführt wird. Und die Gänsejagd umschreibt eine sinnlose (da aussichtslose) Jagd, also eine vergebliche Bemühung.

Als die katholische Kirche in die Krise geriet und sich erste reformatorische Bewegungen ankündigten, kam auch der Begriff des Gänsepredigers auf. Er benennt jemanden, der von der Kanzel aus Unwahrheiten verbreitet und die Ängstlichen und Leichtsinnigen für sich einzunehmen versucht. So heisst es unter anderem auch bei Martin Luther, der sich den Vorwurf der religiösen Verirrung nicht gefallen lassen wollte: „wir sind allhie nicht so grobe esel, gense oder enten, die von den papisten erst erlernen müsten das man eid und pflicht halten müsse.“

Besonders oft mit dem Ganssymbol gleichgesetzt wurde der böhmische Reformator Johannes Hus (1370-1415), der wegen Ketzerei auf dem Scheiterhaufen verbrannt worden ist. Hus’ Nachnahme bedeutet schliesslich übersetzt ebenfalls „Gans“. Er selbst benutzte ihn als Wortspiel, um seine Glaubenslehre zu propagieren. In einem seiner letzten Schreiben aus der Gefangenschaft prophezeite er, dass nun zwar eine Gans gebraten werde, „aber über hundert jar werden sie einen schwanen singen hören, den sollen sie leiden“.

Hus’ Gegner in Deutschland wiederum definierten den „Gänseprediger“ als jemanden, „der wie für gänse predigt, ohne aussicht auf wirkung oder auch albern als hätte er gänse vor sich“. Dieselben beschimpften Hus’ Lehre auch als Gänseglaube. Das Wort kann einerseits für den Aberglauben, eine noch nicht eingetroffene Weissagung oder eine unsichere Informationsquelle stehen. Andererseits benennt es die religiösen Überzeugungen einer stupiden oder gottlosen (da ketzerischen) Person.

Schon vor Hus und Luther mussten gläubige Männer ihre religiösen Ansichten verteidigen. Die Kirche erklärte einige von ihnen später zu Heiligen. Zu ihnen zählt auch der irische Wandermönch Sankt Gallus (550-620/50), nach dem die Gallusgans benannt worden ist. Er wird besonders oft als der Hirt von heiligen Gänsen beschrieben – wobei seine Gegner vielmehr davon überzeugt waren, dass sie symbolisch für die „dummen menschen“ stehen. Vielleicht verliehen die Leute in Niederbayern einem sehr gefährlichen Räuber, der hier 1873 sein Unwesen trieb, deshalb auch den Übernamen Gänsewürger.

Ein ganz realer Gänsewürger war der Heilige Martin von Tours (316/17-397). Er soll der Legende nach einst eine Gans vor einem Wolf gerettet haben –, um sie selbst zu verspeisen und nicht verhungern zu müssen. (Deshalb wird sie auch als Opfertier gedeutet.) Über den frommen Martin, der gleichfalls häufig als Gänsehirt dargestellt wird, existieren natürlich noch weitere Heiligengeschichten. Eine berichtet von seinem Versuch, sich vor der Bischofsweihe zu drücken, indem er sich im Gänsestall versteckte. Das aufgeregte Trompeten der Tiere jedoch verriet ihn, warum das traditionelle Essen der Martinsgans auch als ein Racheakt interpretiert wird.

 

„Was haben doch die gense getan, dasz so viel müssens leben lan? Die gens mit irem dadern, sant Martin han verraten, darumb tut man sie braten.“

(Auszug aus einer mittelalterlichen Version des Martinslieds)

 

 

Spielvögel und kalte Füsse
Gans und Fuchs

Abb. 8) Ein weiterer Widersacher der Gans war schon immer der Fuchs. Ernst Anschütz verewigte ihre Feindschaft in dem berühmten Lied „Fuchs, du hast die Gans gestohlen“ (1824).

Seit jeher wird der Teufel als der „Vater der Lüge“ bezeichnet, doch spätestens seit dem 15./16. Jahrhundert machte ihm die Gans Konkurrenz. Sie wandelte sich nämlich zu dieser Zeit ebenfalls zum Sinnbild der Lügenmärchen, warum Lug und Trug auch in sehr vielen Gänse-Begriffen angedeutet werden. Der Gänsewein zum Beispiel ist ein scherzhafter Ausdruck für „Wasser“, und beim Gänsewitz handelt es sich um einen „schlechten Witz“, also eine Information, die absurd erscheint und kaum zu glauben ist.

Mit Betrügereien, Irreführungen, lautem Geschwätz, Naivität und Gedankenlosigkeit in Verbindung gebracht wird auch das Spiel, das seit Jahrtausenden die Angst vor der Langenweile bewältigen soll. Der Ausdruck Gänse beschlagen, der in manchen Gegenden im nördlichen Europa geläufig war, bedeutet wohl deshalb auch „Unnützes tun“. In der Vergangenheit wurden etliche Spiele erfunden, in denen die Gans eine wichtige Rolle einnimmt. Doch auch hier wird sie oft als die Dumme hingestellt, werden ihr Fuchs- und Wolfsfiguren als ihre Gegenspieler gegenübergestellt, denen Schlauheit und Gerissenheit nachgesagt werden.

Das Gansreiten (oder auch Gansschlagen genannt) zählt zu den ältesten Volksbelustigungen und wurde besonders oft zur Zeit des Erntefests, der Fastnacht oder einer Kirmes gespielt. Dazu verband man einem Reiter die Augen, der dann mit einem Säbel ein Seil durchzuhauen versuchte, an dem eine Gans hing. Nebst vielen weiteren Glücks-, Geld- und Geschicklichkeitsspielen, denen sie ihren Namen gab, waren sehr oft auch die verschiedenen Spieltafeln und Brettspiele mit Gänsebildern verziert. Seltsamerweise wurden auf diesen manchmal die Spieler selbst als Gänse dargestellt. Wollte der Hersteller damit vielleicht auf ihre mögliche Rolle als Pechvögel hinweisen?

Mit einem ganz anderen, nämlich dem dunklen-teerartigen Pech wurden im britischen Wales oft die Watschelfüsschen der Gänse bezogen, die über weite Strecken getrieben und geschont werden sollten. Die eigentümliche da vielzelebrierte Sorge um der Schuhlosigkeit der Gänse kommt unter anderem auch in dem folgenden, altüberlieferten Kinderreim zum Ausdruck: „Eia popeia, was raschelt im stroh? / es sein die kleinen gänschen, sie haben keine schuh, / der schuster hat leider, kein leisten dazu“. Es gibt viele Redensarten und Reime, die sich mit den blossen Gänsefüssen beschäftigen und unterstellen, die Gans ginge nur sehr „ungern barfusz“. Fast alle kamen während des Mittelalters auf, der krisenreichsten aber auch fortschrittlichsten Epoche der Menschheitsgeschichte. Unzählige schutzsuchende Menschen bevölkerten dazumal die Strassen Europas. Sie alle waren auf der Flucht vor dem Elend und auf der Suche nach Nahrung, Arbeit und einer neuen Heimat. Einer der ältesten Sinnsprüche besagt daher auch: Wen die Angst packt, der „bekommt kalte Füsse“.

 

Zitate: Grimm, Jacob und Wilhelm: Deutsches Wörterbuch, Leipzig 1877 (+ Martin Luther); Platter, Thomas: Lebenserinnerungen, Basel 1969; Schiller, Friedrich: Wallenstein II, Stuttgart 2000.

Literatur: Biedermann, Hans (Hg.): Knaurs Lexikon der Symbole, München 1989; Borst, Arno: Barbaren, Ketzer und Artisten. Welten des Mittelalters, München 1988; Der neue Brockhaus. Allbuch in fünf Bänden und einem Atlas, 3. Auflage, Zweiter Band (E-I), Wiesbaden 1958; Grimm, Jacob und Wilhelm: Deutsches Wörterbuch, Leipzig 1877; Grimm, Jacob: Deutsche Mythologie, 3. Ausgabe, Göttingen 1854; Herkunftswörterbuch. Etymologie der deutschen Sprache, hg. v. Wissenschaftlicher Rat der Dudenredaktion, Bd.7, Auflage 3, Mannheim/Leipzig/Wien/Zürich 2001; Hoffmann-Krayer, Eduard (Hg.): Luzerner Akten zum Hexen- und Zaubererwesen. I.-IV. Aus: Schweizerisches Archiv für Volkskunde, 3. Jahrgang, Zürich 1899; Ders.: Handwörterbuch des Deutschen Aberglaubens, Bd. III. Berlin/Leipzig 1930/31 und Bd. IV. Berlin und Leipzig 1931/1932; Pekrun, Richard: Das Deutsche Wort. Ein umfassendes Nachschlagewerk des deutschen und eingedeutschten Sprachschatzes, Zürich1963; Platter, Thomas: Lebenserinnerungen, Basel 1969; Schiller, Friedrich: Wallenstein II, Stuttgart 2000; Wandruszka, Mario: Angst und Mut, Stuttgart 1981; Wittenwiler, Heinrich: Der Ring, hg. v. Helmut Birkhan, Wien 1983.

Bildernachweise: Titelbild) Kartenkaufhaus.de; Abb. 1-6, 8) Pixabay.de; Abb. 7) Prospeciarara.ch.

 

By |2023-11-16T16:50:21+00:00Dezember 14th, 2022|AnGSt|0 Comments
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