Über die manipulative Angst vor der Dunkelheit

Die Angst vor der Dunkelheit ist im Leben des Menschen omnipräsent. Ihr Einfluss auf seinen Organismus und seine Psyche sind grundlegend. Die Dunkelangst hat nicht nur sein dualistisches Gedankensystem hervorgebracht und damit das geistige Fundament aller Angstvorstellungen gelegt – und aller Feindbilder. Sie nimmt in diesem System auch den Part des Negativums ein und symbolisiert die Lebensgefahr, die nur allzu oft zu spät erkannt wird.

 

Kapitel: Natürliche und kulturelle Dunkelangst – Die „Dunkelheit“ und ihre Vorstellungskonzepte – Lichtlosigkeit und Menschenopfer – Die Lichtscheuen und ihre Opfer – „Dunkle“ Eigenschafts- und Erkennungsmerkmale – Schatten der Vergangenheit und Erinnerungsträger – Lichtschäden und Fall in ein „schwarzes Loch“ – Moderne Diagnose „Dunkelangst“

 

Natürliche und kulturelle Dunkelangst

Abb. 1) Die Amygdala lässt den Menschen dunkle Orte noch finsterer erscheinen, um sie im emotionalen Gedächtnis abspeichern zu können. Der Vorgang geht für gewöhnlich mit einem Kältereflex einher, der schon bei Aristoteles Erwähnung findet.

Die natürliche Dunkelangst ist eine eigentliche Angst vor dem unausweichlichen Tod, vor Finsternis und Schwärze. Sie ist die Reaktion auf die Furcht vor der Natur und folglich das demütige Staunen über ihre Kräfte und sich gleichzeitig unsagbar ängstigen vor dem sich plötzlich verdunkelnden Himmel, der heftige Gewitter und Windstürme gebiert, vor düsteren Wäldern und ihren wilden Bewohnern, vor nebelumhüllten und unwegsamen Sümpfen oder vor den kalten Hochgebirgen mit ihren tiefen Schluchten und Höhlen, die schwarze Schatten über die Täler werfen.

Der Begriff „dunkel“ leitet sich vom althochdeutschen Adverb „tunkal“ und dem mittelhochdeutschen „tunkel“ ab. Ihnen haftet noch die ursprüngliche Naturfurcht an, bedeuten sie beide „neblig, dunstig“. Besonders eng verwandt ist das Wort „dunkel“ mit dem Adverb „dampfen“. Beide gehen auf dieselbe indogermanische (indoeuropäische) Sprachwurzel „dhem(ə)“ zurück, die mit „stieben, rauchen, wehen“ übersetzt wird. – Der Ausdruck (vor jemandem/etwas) „Dampf haben“ war auch sehr lange eine gebräuchliche Redewendung für „Angst haben“!

Bei der ursprünglichen Dunkelangst dreht sich alles um das, was der Mensch aufgrund seiner biologischen Veranlagung und unbeeinflussbarer äusserer Umstände nicht wahrnehmen kann. Darüber hinaus strukturiert sie seine Gedankenwelt, benennt sie schliesslich auch den Auslöser der Angst: die Dunkelheit. Da diese weder Formen noch Konturen besitzt, zeigt sich die Dunkelangst seit jeher in einer grundsätzlichen Angst vor anderen Wesen, deren Aussehen, Eigenschaften, Kräfte und Fähigkeiten zuerst einmal identifiziert werden müssen. Dies erweist sich nur allzu oft als ein schwieriges Unterfangen. Aus diesem Grund wird den Bedrohlichsten unter ihnen seit ewigen Zeiten nachgesagt, sie könnten fliegen oder bestünden aus einer Art „luftartigem Stoff“ oder flüchtigen Substanz.

Die kulturelle Dunkelangst ist in erster Linie eine von Menschen beeinflusste Kollektivangst, wird sie durch Moral und Ästhetik bestimmt. Das bewusste „Angsthaben vor der Dunkelheit“ wurde daher auch schon früh als Schwäche, als Zeichen der Unwissenheit und Mutlosigkeit ausgelegt. Die kulturelle Dunkelangst nahm mit Aufkommen von Sesshaftigkeit und zunehmender Hierarchisierung an Bedeutung zu. Sie ist die Reaktion auf die uralte Furcht vor einem Feind und damit im Wesentlichen eine der Materialisierung und kompromisslosen Unterscheidung einerseits und einer der Angst vor Identifizierung andererseits –, kann man schliesslich auch eines anderen Gegner sein.

Die uralte Furcht vor einem Feind verbreitet seit jeher die Überzeugung von inneren und äusseren Gegnern, die „im Verborgenen“ operieren und ihre Mitmenschen zu schädigen beabsichtigen. Aus diesem Grunde waren sich die Denker aller Zeitalter auch schon immer darüber einig, dass die Dunkelheit den Menschen nicht nur physisch, sondern auch moralisch verderben würde. Ein nachgesagter „schwarzer Fleck“ auf der ansonsten „weissen Weste“ genügt daher auch bekanntlich, um Zweifel am „Guten“ zu schüren, ihm all seinen Wert abzusprechen und die Meinungen über es für immer zu korrumpieren.

 

„Gondy betrachtete diese Menschen des Dunkels, diese nächtlichen Arbeiter, mit einer gewissen Furcht. Wenn einer ihm nahe kam, war er versucht, das Zeichen des Kreuzes zu machen.“

Alexandre Dumas (1802-1870)

 

 

Die „Dunkelheit“ und ihre Vorstellungskonzepte

Abb. 2) Der „Gangster“, der das Wort „Angst“ in seinem Namen trägt, ist eine typische Personifizierung der Dunkelangst. Seine Merkmale sind u.a. dunkle, verbergende Kleidung, seine Wirkorte: die kriminelle Unterwelt, im Schatten liegende Strassen oder verqualmte Räume. Das Bild zeigt den legendären Humphrey Bogart (1930er Jahre).

Die symbolträchtige Dunkelangst dient dem Menschen seit jeher als Parameter, um Mitmensch und Umwelt zu beurteilen. Daher ist sie nicht nur eine physiologisch-emotionelle Reaktion auf die „Dunkelheit“. Sie ist auch eine der zumeist unbewussten Einteilung der Welt in „gut“ oder „schlecht“ (Dualismus) und somit eine der Manipulation. Ihr ist kaum etwas entgegenzusetzen, erschafft sich das Gehirn doch seine eigene Welt. Dies ist auch der Hauptgrund, warum die natürlich-biologische Dunkelangst den Menschen nur allzu oft „Schwarz-Weiss“ sehen, die kulturelle dagegen reale Bedrohungen oft nicht erkennen lässt.

Der Mensch muss seinen Angstauslöser zuerst einmal identifizieren und falls nötig materialisieren, um auf ihn reagieren zu können. Manche Urbilder haben sich als „Verpackung“ für die menschlichen Urängste und als „Projektionsfläche“ der eigenen Angst bewährt (u.a. Hexe, Jack the Ripper, Angstsymbole). Sie finden mit Unterstützung ihrer assoziativ wirkenden Attribute und Merkmale über die Generationen hinweg in Form von Träumen, Märchen, Religionen, ideologischen Metaphern, Kunstwerken oder Sexsymbolen eine Überlieferung und Modifizierung an den eigenen Zeitgeist. Denn ohne Erinnerungsträger geht es nicht. Das Bewusstsein leidet schliesslich an einer permanenten Vergesslichkeit.

Die Grundvorstellungen, die sich um die Dunkelheit und die menschliche Angst vor ihr ranken, thematisieren in erster Linie den Auslöser, also den Feind und Gegner. Seine Beschreibungen finden sich in den philosophischen, religiösen, politischen, rechtlichen, medizinischen und literarischen Abhandlungen wieder. Ihre Verfasser bedienten sich schon immer einem oder allen fünf Vorstellungskonzepten der „Dunkelheit“, um angebliche gemeinsame Probleme in Worte zu fassen und den von ihnen ins Auge gefassten Verursacher zu beschreiben, ihm sein „Schlecht-Sein“ nachzuweisen und auf diesem Wege zu diskreditieren. Sie sind universell, wirken zumeist unbewusst und fassen ähnliche Grundideen zusammen, die sich bis in die Anfänge der Menschheitsgeschichte zurückverfolgen lassen:

 

1) Die Idee vom Zustand der Lichtarmut und Lichtlosigkeit.

2) Das Entbehren von Licht und die Lichtscheue als Begründung für das Böse-Sein, die Unwissenheit und die Unmoral.

3) Das „Dunkelsein“ und die Farbe „Schwarz“ als Eigenschafts- und Erkennungsmerkmal des Bösen und schlechter Menschen.

4) Alles Unbekannte und Geheimnisvolle in der Vergangenheit und die „dunklen“, weil unklaren Erinnerungen an spezielle Ängste.

5) Alles Unbekannte in der Gegenwart und alles Ungewisse der Zukunft.

 

 

Lichtlosigkeit und Menschenopfer

Abb. 3) Erinnerungsträger: Seit Jahrtausenden überliefern dieselben Angstsymbole dieselben Botschaften. Das Bild zeigt Pharao Echnaton, wie er Aton, der „göttlichen Sonnenscheibe“, ein Opfer darbringt (ca. 14. Jahrhundert v. Chr.).

Die Idee vom Zustand der Lichtarmut und Lichtlosigkeit steht für die Primärangst des Menschen, der Angst vor dem Tod. Sie symbolisiert die Inexistenz, das Nicht-Leben und das Alleinsein im Universum. Sprachlich findet das erste Gedankenkonzept unter anderem im Bild vom „dunklen Grab“ oder der Totenstätte in „kalter Erde“ seinen Ausdruck. Der Totenkult ist schliesslich auch die älteste Kulturhandlung und Strategie zur Bewältigung der kollektiven Todesangst – das drastischste seit jeher das Menschenopfer.

Eine der ältesten Befürchtungen des Menschen ist wohl, dass die Sonne für immer vom Horizont verschwinden und sich der Himmel für immer verfinstern könnte. Sie hat ihn schon immer verfolgt und seine Angstphantasie genährt. Erst der menschliche Macht- und Herrschaftsdrang aber hat die Idee vom Menschenopfer hervorgebracht, um diesem „möglichen Ereignis“ vorzugreifen. Er erfand nämlich mit dem Zaubereiglauben eine erste Methode der aktiven Angstbewältigung. Ihm nach hat das Opfer nicht mehr den Zweck, den Zorn des Göttlichen abzuwenden, sondern vielmehr, seine übernatürlichen Kräfte zu rauben und auf die eigene Person zu übertragen.

Die ursprüngliche Naturfurcht war eine eigentliche Furcht vor dem Numinosen, dem göttlichen Wirken der Natur. Viele frühe Völker und Hochkulturen stellten sich ihre Naturgötter jedoch bereits in Menschgengestalt vor; und auch die Götterwesen selbst wurden relativ schnell durch selbsternannte „Propheten“ verdrängt, durch Menschen aus Fleisch und Blut ersetzt. Bei ihnen handelte es sich anfänglich insbesondere um Heiler und Sternendeuter. Letztere versprachen beispielsweise durch die astrologische Voraussage von Sonnen- und Mondzyklen die Menschheit vor dem Hungertod zu bewahren und auf diesem Wege auch von ihrer Todesangst zu „heilen“.

Das Versprechen, die Menschheit von ihrer Todes- und Götterangst zu befreien, hält die Menschheitsgeschichte seit Jahrtausenden in Atem, legitimiert seine Einlösung die „Herrschaft“ an sich. Die Vertreter von religiösen Glaubenslehren, philosophisch-kulturellen und politischen Geistesströmungen, Wissenschaften oder Ideologien „entzaubern“ daher seit jeher die Rätsel der Welt, um selbst als mächtige „Zauberer“ zu gelten. Eben solange stellen sie sich in ihren Lehren oder Manifesten und vor allem in der Kunst als „Lichtbringer“, als „Alleswissende“ da „Allessehende“ dar, warum das Augensymbol auch das älteste Herrschaftsattribut darstellt.

Als „Kinder des Lichts“ werden diejenigen betitelt oder dargestellt, die der Lehre des Lichtbringers Glauben schenken und seine Regeln befolgen. Sie sind per definitionem die „Erleuchteten“. Ihr Wissen und ihr moralisches Handeln, das daraus resultiert, zeichnen sie als die „Guten“ im jeweiligen Schwarz-Weiss-Denkkonzept aus. Jedem Glaubens- oder Ideologiekonzept nach werden jedoch immer nur diejenigen „errettet“, die jederzeit dazu bereit sind, für die angeblichen „Bringer des Lichts“ und ihre göttlichen Eingebungen auch „zu sterben“. Mit dem Opferzwang wollen sie schliesslich die Kräfte und Fähigkeiten anderer auf sich übertragen, damit das selbsternannte „Gute“ bestehen bleibt.

Die Vorstellungen darüber, wer/was als „gut“ oder „schlecht“ zu beurteilen ist, hat sich im Verlaufe der Menschheitsgeschichte immer wieder verändert. Sie passen sich schliesslich stets der eigenen Epoche, den kulturellen Eigenheiten und gerade herrschenden Geistesströmung an. Nur die uralte Methode zur Machtgewinnung und ihre Bewertung bleiben immer dieselben. Seit jeher werden von „Sehern“, Propheten, Volksheilern, Priestern, Herrschern, Parteiführern oder sonstigen Autoritäten sowie von ihren Anhängern sinnlose Opfer gefordert, um dem uralten Glauben an die Zauberei gerecht zu werden.

 

 

Die Lichtscheuen und ihre Opfer

Abb. 4) Lichtgestalten? Die Comicfigur Batman gilt als „Held“, verkörpert jedoch durch und durch das „Böse“. Sein Reichtum, sein hoher gesellschaftlicher Status und die Strafmacht, die er durch sie erhält, sollen ihn als „Guten“ auszeichnen. Sein Kindheitstrauma rechtfertigt sein eigenes kriminelles Handeln, seine massive Gewaltanwendung und sein gewissenloses Vorgehen, das unzählige Opfer fordert.

Die Anschauungen von einem Entbehren des Lichts und der Lichtscheue dienen den Denkern seit jeher als Begründung für das Böse-Sein eines Feindes, seine Unwissenheit und Unmoral. Das zweite Denkkonzept steht demzufolge auch für ein „Leben im Schatten“ und die „dunklen Seiten“ von Personen, Vorhaben, Gedanken oder Überzeugungen. Seine Vorstellungsinhalte offenbaren sich insbesondere im Zweifel, im Verdacht, in der Vertuschung oder im vorsätzlichen Verbergen.

Mit dem Ideenkonzept auseinandergesetzt haben sich besonders oft die Rechtsgelehrten, Theologen und sonstige Moralisten. Es versinnbildlicht nämlich darüber hinaus auch einen sehr wichtigen mosaischen Grundsatz der Bibel. Ihm nach muss nicht nur der Täter, sondern auch sein Opfer bestraft werden, um Gottes Willen gerecht zu werden. Es wird der christlichen Anschauung nach schliesslich durch die gottlose Tat ebenfalls „verunreinigt“ und mit dem Bösen infiziert. Das Gebot Moses’ fand von Beginn an Eingang in die Rechtsprechung und besass in Europa jahrhundertelang Geltung.

Ideengeschichtlich spielen in diesem Konzept vor allem die lichtlosen, kalten und unterirdischen Orte eine wichtige Rolle (u.a. „Unterwelt“, „Untergrund“). Sie beschreiben das Milieu der Täter, warum diese auch traditionell als die „Lichtscheuen“ betitelt und als unselige Kreaturen oder boshafte Menschen dargestellt werden. Unter der Bezeichnung selbst haben die Gelehrten im Verlaufe der Epochen einen ganzen Katalog von Vorurteilen und stereotypen Beschreibungen zusammengetragen. In der Regel werden sie als angstlose Narren und/oder Verbrecher charakterisiert, die an ihrer Unwissenheit, moralischen Verdorbenheit und Nachtaktivität zu erkennen sind.

Bei denjenigen, „die das Licht entbehren müssen“, handelt es sich für gewöhnlich um ihre Gewaltopfer, die „Kollateralschäden“, die nicht mehr zu Rettenden, die vom Bösen vereinnahmt wurden oder der „geistigen Umnachtung“ anheimgefallen sind. Im Glaubenssystem der „Dunkelheit“ werden sie zumeist durch „flüchtige Geister“ verkörpert. Besonders bekannt sind beispielsweise die „verlorenen Seelen“, deren Schicksale sich durch einen grausamen oder zu frühen Tod nicht erfüllen konnten, die Seelen der abgetriebenen Kinder, die in einer Vorhölle oder anderen Unterwelt für immer in der „ewigen Nacht“ vor sich her vegetieren müssen, und vor allem auch die besonders gefürchteten Wiedergänger, die nachts aus ihren Gräbern steigen, um an ihren Mördern und Peinigern Rache zu nehmen.

In der Nacht breiten sich der christlichen Lehre nach nicht nur die Pest und andere schreckliche Krankheiten aus, auch das „böse Tier“ ist unterwegs, um seine „Untaten“ zu begehen. Erst wenn die Sonne untergeht und sich der Mond zeigt, zeigen sich auch die lichtscheuen Menschen, die stehlen, betrügen, vergewaltigen und töten – und immer neue Opfer suchen. Erst in der Nacht können sie schliesslich ungesehen ihre schrecklichen Verbrechen begehen und sich unerkannt zu Gruppen zusammenrotten, um gemeinsam orgiastische Feste zu feiern, falschen Göttern zu huldigen, geheimes Wissen auszutauschen, Zauberei zu betreiben und sich der Völlerei, Wollust und Sodomie hinzugeben.

Im europäischen Strafrecht spielten nicht nur diese uralten Vorstellungen von den „Gottlosen“ eine wichtige Rolle. Auch die Dunkelheit selbst wurde von Beginn an als „erschwerender Umstand“ gewertet. Wer sein Verbrechen in der Nacht oder im Dunkeln, also „heimtückisch“ und „im Verborgenen“ beging, wurde mit Aufkommen der modernen Rechtsprechung als Ungläubiger eingestuft (Häresie), als Ehrloser am Galgen aufgehängt und seine Leiche in ungeweihter Erde bestattet, damit er auch garantiert in der Hölle landete. – Minderjährige Hexenkinder und Sodomiten dagegen richteten die Gerichte im Allgemeinen nur bei Mondschein oder „im Heimlichen“ hin.

 

„Die ganze Stadt war von einem seltsamen, nie gehörten, unbekannten Geräusch erfüllt. Man fühlte, dass in diesen abgrundfinstern Gassen etwas Ungewöhnliches, Furchtbares vorging.“

Alexandre Dumas (1802-1870)

 

 

 

„Dunkle“ Eigenschafts- und Erkennungsmerkmale

Abb. 5) Materialisierung der Angst: Wer der Serienmörder Jack the Ripper war, ist bis heute ungeklärt. Nichtsdestotrotz gibt es einen zeitgenössischen Steckbrief, auf dem er als „dunkler Mann“ mit schwarzem Bart und Hut abgebildet wird. Sie sollen seine finsteren Gedanken und Absicht andeuten, ihn aber auch farblich als das Böse ausweisen.

Das „Dunkelsein“ und die Farbe „Schwarz“ stehen im Mittelpunkt des dritten Ideenkonzepts. Sie gelten seit jeher als Eigenschafts- und Erkennungsmerkmale, an denen das „Schlechte“ am Tage oder bei genügend Licht zu erkennen ist. In der religiösen und politischen Propaganda sowie in Kunst und Literatur werden die Feinde daher zumeist als Dunkelhäutige und -haarige aber besonders häufig auch als Maskierte in dunkler Kleidung dargestellt. Bekannte Bezeichnungen für sie sind „Schwarzer Mann“ und „Fürst der Finsternis“ oder „dunkle Gestalten“ und „schwarze Schafe“.

Die äusserliche und innerliche „Dunkelheit“ wird seit jeher als ein Charakteristikum des Feindes begriffen. Sie markieren ihn als denjenigen, der sich an seinen Mitmenschen, seiner Sippe, Glaubensgemeinschaft oder Bürgergesellschaft schuldig gemacht hat und geopfert werden muss. Er verdüstert schliesslich im wahrsten Sinne des Wortes mit seinen „schwarzen Gedanken“ oder „finsteren Absichten“ nicht nur die „gute“ Stimmung und Atmosphäre; er verfinstert auch die Seelen anderer, indem er ihnen Schmerz zufügt oder jeden „Schimmer der Hoffnung“ nimmt.

Seit über zweieinhalb Jahrtausenden sind sich die Gelehrten darüber einig, dass die innerliche Dunkelheit aus der Ängstlichkeit resultiert und sie sich nach aussen hin durch die Melancholie (Depression) und Aggression (Zorn, Wut) bemerkbar macht. Zur Zeit der Spätantike und mit Aufkommen des Christentums wurde die Angst daher auch als Sünde eingestuft und der Geängstigte als Sünder, später als Krimineller, Verhaltensauffälliger oder Geistes- und Gemütskranker.

Die antiken Philosophen haben nicht nur die „Wissenschaft“ erfunden, um die Menschheit vor ihrer Götter- und Todesangst zu befreien. Sie haben auch die bis heute aktuelle Herrschaftsvorstellung vom angstlosen Menschen entwickelt, der seine Energieausbeutung und seinen sinnlosen Opfertod furchtlos hinnimmt. Zu ihnen zählte beispielsweise der römische Philosophendichter Lukrez (um 97-55 v. Chr.). Er begründete seine Aufklärungsbemühungen mit den von späteren Philosophen und insbesondere Erziehern und Pädagogen vielzitierten Worten:

„wie in dunkeler Nacht die Kindlein zittern und beben und vor allem sich graulen, so ängstigen wir uns bisweilen selbst am Tage vor Dingen, die wahrlich nicht mehr sind zu fürchten, als was im Dunkel die Kinder befürchten und künftig erwarten. Jene Gemütsangst nun und die lastende Geistesverfinstrung kann nicht der Sonnenstrahl und des Tages leuchtende Helle scheuchen, sondern allein der Natur grundtiefe Betrachtung.“

Der antike Denker wollte mit seiner Rede den Fokus auf die menschliche Vernunft und Naturphilosophie lenken. Der englische Philosoph Francis Bacon (1561-1626) hingegen setzte das Hauptmerk vor allem auf Moral und Ehre. Er fasste die Aussage des Römers mit den – noch häufiger zitierten – Worten zusammen: „Die Menschen fürchten den Tod, wie Kinder sich fürchten, im Dunkeln zu gehen.“ Sowohl die Katholiken als auch die Reformierten stuften das Angsthaben vor der Dunkelheit als Merkmal der „Lichtscheuen“ sowie der „Licht Entbehrenden“ ein, da deren Leichtgläubigkeit oder „trübe“ Gemütsverfassung es dem Bösen nur allzu leicht machte, sie in Besitz zu nehmen.

 

 

Schatten der Vergangenheit und Erinnerungsträger

Sherlock und Watson

Abb. 6) Das 19. Jahrhundert ging als besonders pessimistisches Zeitalter in die Geschichte ein. Einige der modernen Helden, die neu die Dunkelangst personifizierten, wurden während dieser Zeit erfunden. Zu ihnen zählen auch die literarischen Figuren Sherlock Holmes und Dr. Watson. Der Erste ein Opiumsüchtiger, der zwanghaft Verbrechen aufklären muss; der Zweite ein Kriegsneurotiker, der die Gefahr sucht. Das Bild zeigt Basil Rathbone (links) und Nigel Bruce in den jeweiligen Rollen (1930er).

Das vierte Konzept steht für alles Unbekannte und Geheimnisvolle in der Vergangenheit sowie für alle „vagen“ Erinnerungen an spezielle Ängste. Eine besonders wichtige Rolle spielen hier das kollektiv-kulturelle Gedächtnis und der herrschaftliche Kampf um oder gegen die Vergesslichkeit. Seine Inhalte finden sprachlich unter anderem in den (oft propagandistisch genutzten) Phrasen „dunkle Zeiten“ oder „finsteres Zeitalter“ (Dark Ages) Niederschlag. Sie können die Anschauung über die Jahrhunderte hinweg trüben, wie sich am „dunklen Mittelalter“ beweisen lässt, einer der mit Abstand innovativsten Epoche der Menschheitsgeschichte überhaupt.

Der Tag steht in allen bedeutenden Glaubenslehren symbolisch für Licht, Leben und Wissen, die Nacht hingegen für genau das Gegenteil. Kaum verwunderlich, waren die Vorfahren des Menschen nachts den Angriffen wilder Tiere ausgesetzt, die sie aufgrund ihrer beschränkten Sichtfähigkeit nicht ohne weiteres in der Dunkelheit erkennen konnten. Sie haben die Menschheit „das Fürchten gelehrt“ vor ihrem natürlichen Umfeld und Gegnern im Überlebenskampf. Doch mit dem Misstrauen einher ging gleichzeitig die Ehrfurcht vor der geheimnisvollen Nacht, die seit jeher auch Lust- und Genussbefriedigung mit sich bringt.

Das Attribut der Nacht ist der Mond, dessen Licht niemals wärmt und von Schatten beherrscht wird. Er ist den ältesten Glaubensvorstellungen zufolge selbst Widergeburt und Tod unterworfen. Beide spiegeln sich in den archaischen Ideen von übernatürlichen Wesen wider, deren Existenz sich nur in ihrem Wirken zeigt. Sie kommen im Glauben an Werwölfe, die sich bei Vollmond verwandeln, ebenso zum Ausdruck, wie an böse Kobolde, die nachts ihre Erdlöcher verlassen, um die Stuben der Menschen unsicher zu machen, an todbringende „schwarze“ und zauberische „graue“ Katzen, die mit uralten Mondgöttinnen in Verbindung stehen, oder aber an Hexen, die in der Nacht auf den Sabbat fliegen, um mit dem Teufel Buhlschaft zu treiben und Kinder zu fressen.

„Gespenster, Stürme, Wölfe und Behexungen waren oft Komplizen der Nacht. Sie spielte bei vielen Ängsten von einst eine große Rolle“, schreibt daher auch der Historiker und Angstforscher Jean Delumeau (1923-2020) über die imaginären doch symbolträchtigen Angstauslöser, die alle den Mond als Begleiter haben. Sie dienen nicht nur dem Kollektiv, sondern auch jedem Einzelnen, um den eigenen Ängsten ein Gesicht zu geben. Die Vorstellungen von ihnen werden jedoch auch epochenübergreifend dazu missbraucht, um andere zu beeinflussen und spezielle Mensch- und Weltvorstellungen durchzusetzen. Dazu Delumeau weiter:

„Zu Beginn der Neuzeit wurden in Europa jedoch vor allem die negativen Seiten des Mondes betont, eben in dem Maße, in dem er der Komplize der schädlichen Auswirkungen der Nacht ist. … Allgemeiner ausgedrückt hat die herrschende Kultur zwischen dem 14. und dem 17. Jahrhundert die beunruhigende und unheilvolle Seite der Nacht (und des Mondes) aufgewertet, und zwar in dem Maße, in dem sie mit geradezu krankhafter Vorliebe Nachdruck auf die Hexerei, den Satanskult und die Verdammnis legte. So scheint durch die doppelte Betonung, die einerseits auf die Astrologie und andererseits auf die Macht des Satans gelegt wurde, die europäische Kultur an der Schwelle zur Neuzeit einer wachsenden Angst vor der Dunkelheit nachgegeben zu haben, die vom aufblühenden Buchdruck unterstützt wurde.“

 

 

Lichtschäden und Fall in ein „schwarzes Loch“

Abb. 7) Die Dunkelangst in der Kunst: das Bild zeigt das Werk „der Schrei“ (1893) des Malers Edvard Munch. Im Hintergrund werden die Übergänge von Licht, Schatten und Dunkelheit angedeutet; im Vordergrund dominiert die pure Menschenangst.

Das letzte Konzept der Dunkelangst fällt natürlich am deutungsreichsten aus, sind der Phantasie doch keine Grenzen gesetzt. Es umfasst alles Unbekannte der Gegenwart und Ungewisse der Zukunft und findet unter anderem in den Bezeichnungen „im Dunkeln tappen“ sowie „dunkle Ahnung“, „trübe Aussichten“ oder „für die Zukunft schwarzsehen“ seinen Ausdruck. Die Ängste vor dem Alleinsein im Universum und Abgeschnittensein von den Mitmenschen haben in diesem eine ganz besondere Bedeutung. Von ihnen verschont werden der Gelehrtenmeinung nach nämlich nur diejenigen, auf die der „Kegel des Lichts“ fällt – und die auch zukünftig in kein „schlechtes Licht“ gerückt werden.

Besonders gut zu veranschaulichen ist das Konzept am Beispiel der Aufklärung (ca. 17.-19. Jahrhundert). Sie war für die europäische Geschichte besonders wichtig, verhalf sie dem Wissenschaftsglauben und der individualistisch-kapitalistischen Ideologie zum globalen Durchbruch. Ihre Vertreter verstanden sich ebenfalls als „Lichtbringer“, und auch sie wollten durch die Verdrängung der Religion aus dem öffentlichen Raum sowie durch die Bildung die Menschheit endlich von ihrer Gottes- und Todesfurcht befreien. Der aufgeklärte Mann sollte zukünftig nur noch zweierlei fürchten: seinen ökonomischen Konkurrenten und den sozialen Niedergang.

Eine besondere Gegenströmung der Aufklärung war die Romantik (1795-1830). Mit ihr fand zum ersten Mal das Thema der unbewussten und pathologischen Angst, also der quälenden Angst vor Wahnsinn und Geistesverwirrung, Eingang in die Literatur- und Kunstwelt („Schwarze Romantik“). Während im politisch-gesellschaftlichen Bereich leidenschaftlich gegen Kirche und „Aberglauben“ gewettert wurde, erlebte die Dunkelangst mit ihren Schreckgestalten nicht nur in der Literatur ein nie dagewesenes Revival. Sie fanden auch über diese wieder den Weg in die Wissenschaften, die ihre Ursachen bzw. den Glauben an sie fortan gleichfalls auf unmoralische Wünsche und Triebe zurückführten.

Die Aufklärer rückten die Wissenschaften an die Stelle des religiösen Glaubens, doch auch sie erzeugten fortan Angst. Je schneller der soziale und technische Wandel zu dieser Zeit vonstattenging, umso drängender kam bei den Zeitgenossen das Verlangen auf, das grelle Licht des Wissens wieder abzudämmen. Denn das Wissen um die nackte Realität stimmte sie immer depressiver. Sie wollten auf einmal wieder „Dunkelheit“ erfahren, Magie erleben und an Wunder glauben. Die neue Lebenswelt liess sie schliesslich gewahr werden, dass auch der „graue Alltag“ bedrücken, die Selbsterkenntnis sich „wie ein tiefer Abgrund“ vor einem auftun und die Not einen in ein „schwarzes Loch fallen“ lassen kann.

Seit jeher werden von „Lichtbringern“ und „Erleuchteten“ unnötige Opfer erzwungen, um die soziale Angst vor dem, gedanklich vorweggenommenen Tod präsent zu halten. Erst sie lassen ihre „Prophezeiungen“ schliesslich auch Realität werden, machen erst sie aus der propagierten Überzeugung eine erfahr- und wahrnehmbare Notlage. Der englische Historiker Henry Thomas Buckle (1821-1862) hat das traditionelle Herrschaftsproblem, unaufhörlich Bedrohungen erfinden und bewusste Ängste schüren zu müssen, um weiterhin Kontrollgewalt ausüben zu können, mit den folgenden Worten zusammengefasst: „Die das Dunkel nicht fühlen, werden sich nie nach dem Lichte umsehen.“

Die Dunkelangst hat unendlich viele Widersprüche und Gegensätze hervorgebracht, die entzweien können. Zweigeteilt fühlt sich auch das Individuum, wird ihm von Geburt an vorgeschrieben, in welchem „Licht“ es die eigene Angst zu sehen und sich selbst zu beurteilen hat. Das 18. Jahrhundert ging als das „Jahrhundert der Melancholie“ in die Wissenschaftsgeschichte ein; ihm folgten die Jahrhunderte der „Neurose“ und „Depression“ nach. Für den Soziologen Norbert Elias (1897-1990) und den Sozialpsychologen Erich Fromm (1900-1980) kaum erstaunlich, weist das moderne Zusammenleben aufgrund der immer neuen Zwänge fast nur noch „dunkle Seiten“ auf. Der Philosoph Jean Paul Sartre (1905-1980) hat sie in einem Satz zusammengefasst: „Die Hölle, das sind die anderen“.

 

Abb. 8) Yvan Franquin („Schwarze Gedanken“).

 

 

Moderne Diagnose „Dunkelangst“

„Die Angst erstreckt sich auf alle Wahrnehmungs-, Vorstellungs- und Verhaltensbereiche des Menschen“, heisst es bei dem Neurologen und Psychiater Friedrich Strian (1934-2016). Sie alle werden durch die Dunkelangst strukturiert, alle Räume, Mitmenschen und Objekte wie auch Gedanken, Überzeugungen oder Erinnerungen von ihr in „Gute“ und „Schlechte“ eingeteilt. Dass sie und die Vorstellungskonzepte ein hochgradig wirkendes Mittel zur Manipulation und Angsterzeugung darstellen, wird für gewöhnlich jedoch völlig ausgeblendet. Der historische Angstforscher Delumeau fasste ihren grundlegenden Einfluss nichtsdestotrotz mit den folgenden Worten zusammen:

„Es ist mehr als wahrscheinlich, daß die «objektiven Gefahren» durch ihre Häufung im Lauf der Zeit die Menschheit veranlaßt haben, die Nacht mit «subjektiven Gefahren» zu bevölkern. So konnte die Angst in der Dunkelheit sich als Angst vor der Dunkelheit intensivieren und verallgemeinern. Sie hat aber auch andere, tiefer liegende Ursachen, die in der menschlichen Konstitution begründet sind. Der Mensch sieht viel besser als viele Tiere, zum Beispiel Hunde und Katzen, in der Dunkelheit ist er aber hilfloser als viele Säugetiere. Außerdem löst der Lichtentzug die Bremsen der Einbildungskraft. Sie verwechselt leichter als bei Tage Trugbilder und Wirklichkeit und gerät schneller auf Abwege. Gleichzeitig entzieht uns die Dunkelheit der Überwachung durch andere und durch uns selbst, sie verlockt uns eher als der Tag zu Handlungen, die uns unser Bewußtsein oder die Furcht verbieten, wie zum Beispiel Wagnisse, zu denen man sich nicht bekennen kann, kriminelle Handlungen usw. Und schließlich isoliert uns die Dunkelheit und hüllt uns in Schweigen ein, das uns unserer Sicherheit beraubt. All diese Gründe laufen auf dasselbe hinaus: Sie erklären das Unbehagen, das den Menschen bei Einbruch der Nacht befällt, sowie die Anstrengungen, die unsere städtische Kultur unternommen hat, um das Reich des Schattens zu bannen und den Tag durch künstliche Beleuchtung zu verlängern.“

Im 19. Jahrhundert schenkten Erfinder wie Nikola Tesla (1856-1943) und Thomas Edison (1847-1931) der Menschheit das elektrische Licht, die mit den Nervenschwachen überforderten Regierungen, Militärs und Ärzte ihrerseits die Psychologie und Psychiatrie. Das Problem mit den Kriegsneurotikern, Hysterikern und sonstigen Neurasthenikern lösten sie jedoch, indem sie Ängste (und alle Reaktionen auf sie) als grundsätzlich irrational und krankhaft einstuften – und trotz Fremdeinwirkung (u.a. Krieg) auch immer wieder als selbstverschuldet. Aus diesem Grunde heisst auch Emile Coués (1857-1926) Methode zur Angstbewältigung „Selbstbemeisterung“.

Der österreichische Psychoanalytiker Sigmund Freud (1856-1939) vertrat die Meinung, man könne die Angst des Kindes vor der Dunkelheit als “fast“ normal bezeichnen und mit der kindlichen Furcht vor Fremden und dem Alleinsein gleichsetzen. Es müsse aber zwischen einer kurzzeitig rationalen Kinderangst und der irrationalen Dunkelangst eines Erwachsenen unterschieden werden. Davon überzeugt war auch die Psychologin Juliette Boutonier (1903-1994). Sie vertrat die ebenfalls beliebte Überzeugung, dass sich mit der „Erfindung“ des Feuers alle objektiven Gefahren in subjektive verwandelt hätten und somit ein Unterschied zwischen der Angst in und einer vor der Dunkelheit bestehe.

In der modernen klinischen Psychologie wird die Angst vor der Dunkelheit (Skotophobie) – wie die Angst vor der Nacht (Nyctophobie) oder dem Licht (Photophobie) – normalerweise unter dem Begriff „Phobie“ behandelt. Die Phobie selbst wird als eine „ausgeprägte, anhaltende und unangemessene oder unbegründete Angst“ definiert. In den Bereichen Psychiatrie und Neurologie wird die Dunkelangst heute zumeist als das Resultat eines nichtkonditionierten Reizes bewertet, der sich zum regelmässigen Auslöser einer emotionalen Reaktion gewandelt hat. – Dieselben führen jedoch die Angst des Kindes vor der Dunkelheit auf einen konditionierten, also erlernten Reiz zurück.

 

„Dunkelheit. Das ist das Erste, woran ich mich erinnere. Es war dunkel, und es war kalt. Und ich hatte Angst. Aber dann, dann sah ich den Mond. Er war so gross, und er war so hell. Es schien, als würde er die Dunkelheit verjagen. Und danach hatte ich keine Angst mehr.“

Die Hüter des Lichts (2012)

 

Die älteste Strategie der Angstbewältigung ist das „Zusammenrücken“, das nach dem Kälteschock eines besonders starken Angstreizes Wärme und Schutz verspricht. Die Volkskultur kennt viele, vor allem winterliche Bräuche und Festtage, welche die Menschen zusammenbringen sollten, um das Grauen vor den längsten Nächten des Jahres (Raunächte) und die Schreckbilder der Dunkelangst zu vertreiben. Wie Jean Delumeau betont, sollte das Zusammenkommen an Feuerstellen und anderen lichtspendenden Orten aber nicht nur die eigene Angst bewältigen helfen, sondern auch den Mut des Kollektivs nach aussen hervorheben. Wer sich im „Lichtkegel“ aufhält, der zählt schliesslich auch zukünftig zu den Überlebenden, schützt doch seine Helligkeit vor Übergriffen und damit vor der Überwältigung durch andere Wesen.

Oder nicht?

Abb. 9) Der „Antiheld“ Nemo (Keanu Reeves) verkörpert zwar den guten Helden, zeigt jedoch ebenfalls die Merkmale, Eigenschaften und Attribute der „Dunkelheit“ auf. Auch er wird am Ende der „Matrix“- Trilogie geopfert, um das System zu erhalten und die letzten, unter der Erde lebenden Menschen zu retten.

Zur Zeit der Renaissance (um 13. Jahrhundert) und mit Aufkommen eines ersten frühkapitalistischen Stadtbürgertums kam es in Mode, „die Nacht zum Tage zu machen“. Doch erst mit seiner allmählichen Standesetablierung seit dem 16. Jahrhundert nahm die Zahl der festlichen Aktivitäten, die nach Einbruch der Dunkelheit stattfanden, kontinuierlich zu. Turniere, Tanzfeste, Maskenbälle und sonstige Anlässe in der Nacht zu veranstalten, wurde zur Normalität. Ihre soziale Aufgabe aber hatte sich da schon völlig verändert. Sie dienten nunmehr der Selbstpräsentation, Geschäftemacherei, Heiratspolitik und Informationsbeschaffung –, und somit der Erzeugung von Angst bei Konkurrenten.

Mit Aufklärung und Romantik kamen neue Literaturgattungen auf, an denen der gesellschaftliche Wandel ablesbar ist. Sie werden vollständig von der manipulativen Dunkelangst beherrscht. Ihr neuer Zweck: die Leser in Angst zu versetzen, sie zu erregen, zu erschrecken, zu grausen und zu schockieren. Eine der erfolgreichsten dieser Art ist der Schauerroman. Seine Geschichten spielen sich in düsteren Schlössern, dunklen Wäldern oder auf Mond beschienenen Friedhöfen ab. Ungefähr zeitgleich kamen die sogenannten „wissenschaftlichen Romane“ auf, die Detektiv- und Kriminalgeschichten. Hier wird das Wesen des Bösen genaustens unter die Lupe genommen, jedes Detail einer Schandtat aufgedeckt und die Faszination für Serienmörder schamlos ausgelebt.

Mit der Invasionsliteratur eines H.G. Welles (1866-1946) wiederum fand eine neue „Götterangst“ Eingang in die Moderne: die Angst vor Ausserirdischen, die in den Weiten des finsteren Alls auf ihre Chance warten. Ebenfalls in Kunst und Literatur eingeführt wurden der sogenannte „Antiheld“ und die nun ebenfalls „fliegenden Helden“ – mit ihren bösen Gegenspielern. Sie trugen fortan nicht nur tragische, sondern auch neurotisch-zwanghafte Züge. Sie zeichnen sich oft durch ein schweres Trauma aus, sind zumeist gesellschaftliche Aussenseiter und werden gleich in zweifacherweise von sozialen Ängsten geplagt. Schliesslich steht nicht nur ihr persönliches Ansehen, sondern auch ihr Heldenimage jederzeit auf dem Spiel.

Jahrhunderte lang waren die „Helden“ Lichtgestalten, die sich zum Wohle der Gemeinschaft aufopferten. Nun jedoch dominiert die Dunkelheit, weisen die fünf Vorstellungskonzepte die modernen Helden von heute als Figuren der Dunkelangst aus. Sie personifizieren entweder die Allmacht des Geldes oder den sozialen Zwang, verbergen, verdrängen und vorgaukeln zu müssen, um das eigene schlechte Selbstverständnis zu kultivieren und der öffentlichen Demaskierung zu entgehen. Ihre Aufgabe ist es zwar, im jeweiligen dualistischen Gedankensystem des Menschen die „Guten“ zu verkörpern. Tatsächlich aber hat das „Dunkle“ bereits übergegriffen und sich in ihren Herzen breitgemacht.

 

 

Literatur: Alewyn, Richard: Die Literarische Angst, in: Aspekte der Angst, hg. v. Hoimar von Ditfurth, 3. Auflage, München 1981, S. 38-52; Arnold-de Simines, Silke: Leichen im Keller. Zu Fragen des Gender in Angstinszenierungen der Schauer- und Kriminalliteratur (1790-1830), St. Ingbert 2000; Begemann, Christian: Furcht und Angst im Prozeß der Aufklärung. Zur Literatur und Bewußtseinsgeschichte des 18. Jahrhunderts, Frankfurt a.M. 1987; Bittner, Güntehr: Die Erziehung und die Angst, in: Die politische und gesellschaftliche Rolle der Angst, hg. v. Heinz Wiesbrock, Frankfurt a. M. 1967, S. 246-257; Blank, Horst Walter und Fleischer, Dirk (Hg.): Aufklärung und Historik. Aufsätze zur Entwicklung der Geschichtswissenschaft, Kirchengeschichte und Geschichtstheorie in der deutschen Aufklärung, Waltrop 1991; Conrad, Horst: Die literarische Angst. Das Schreckliche in Schauerromantik und Detektivgeschichte, Düsseldorf 1974; Delumeau, Jean: Angst im Abendland. Die Geschichte kollektiver Ängste im Europa des 14. bis 18. Jahrhunderts, Reinbek bei Hamburg 1985; Dinzelbacher, Peter (Hg.): Europäische Mentalitätsgeschichte. Hauptthemen in Einzeldarstellungen, Stuttgart 1993; Epikur: Von der Überwindung der Furcht. Katechismus, Lehrbriefe, Spruchsammlung, Fragmente, hg. v. Manfred Fuhrmann, München 1991; Etymologie der deutschen Sprache, hg. v. Wissenschaftlicher Rat der Dudenredaktion, Bd.7, Aufl. 3, Mannheim/Leipzig/Wien/Zürich 2001; Fröhlich, Werner D.: Angst im Lichte der Motivationsforschung, in: Die politische und gesellschaftliche Rolle der Angst, hg. v. Heinz Wiesbrock, Frankfurt a. M. 1967, S. 150-169; Lukrez: Von der Natur (Über die Natur der Dinge), hg. v. Manfred Fuhrmann, München 1991; Morschitzky, Hans: Angststörungen. Diagnostik, Erklärungsmodelle, Therapie und Selbsthilfe bei krankhafter Angst, Wien 1998; Strian, Friedrich: Angst und Angstkrankheiten, 5. Auflage, München 2003; Wiesbrock, Heinz (Hg.): Die politische und gesellschaftliche Rolle der Angst, Frankfurt a. M. 1967.

Zitate: Bacon, Francis: Über den Tod (Of Death), aus: Das treffende Zitat. Gedankengut aus drei Jahrtausenden und fünf Kontinenten, hg. v. Karl Peltzer, 6. Auflage, Thun 1976; Buckle, Thomas: Geschichte des Englischen Bürgerkriegs, aus: Das treffende Zitat. Gedankengut aus drei Jahrtausenden und fünf Kontinenten, hg. v. Karl Peltzer, 6. Auflage, Thun 1976; Epikur: Von der Überwindung der Furcht. Katechismus, Lehrbriefe, Spruchsammlung, Fragmente. Hg. v. Manfred Fuhrmann. München 1991; Lukrez: Von der Natur (Über die Natur der Dinge). Hg. v. Manfred Fuhrmann. München 1991; Sartre, Jean Paul: Bei verschlossenen Türen, aus: Das treffende Zitat. Gedankengut aus drei Jahrtausenden und fünf Kontinenten, hg. v. Karl Peltzer, 6. Auflage, Thun 1976; Morschitzky, Hans: Angststörungen. Diagnostik, Erklärungsmodelle, Therapie und Selbsthilfe bei krankhafter Angst, Wien 1998; Strian, Friedrich: Angst und Angstkrankheiten, 5. Auflage, München 2003.

Bildernachweise: Titelbild) Ratcreateure.livejournal.com (Yvan Franquin, „Schwarze Gedanken“), Abb. 1) Pixabay.de, Abb. 2, 5) Pinterest.com, Abb. 3) Welt.de, Abb. 4) Firstcomicsnews.com, Abb. 6) Neatpipers.com, Abb. 7) Wikipedia.de, Abb. 8) Tagesspiegel.de (Yvan Franquin, „Schwarze Gedanken“), Abb. 9) Cinemagazin.net.

 

By |2023-04-14T05:46:39+00:00Januar 14th, 2022|AnGSt|0 Comments
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