Norbert Elias und der Zwang zur Angstverinnerlichung

Für den Soziologen Norbert Elias haben die modernen Angsterkrankungen zweierlei Ursachen: sich ständig wechselnde Zwänge und ein negatives Selbstbild. Sie lösen bei den Menschen immer wieder ein Angsterleben aus, warum sie auch eine andauernde Bedrohung darstellen. Geprägt werden beide durch die verinnerlichte Angst. Sie produziert am laufenden Band neue Angstvorstellungen und versetzt den Organismus überhaupt erst in einen Zustand der Dauererregung. Elias’ Überzeugung nach wird die Angstverinnerlichung von den Oberschichten erzwungen, die ihre eigene Angst vor Macht- und Prestigeverlust zu bewältigen versuchen.

 

Kapitel: Norbert Elias und sein Jahrhundert – Verhöflichung: Enge und Unterdrückung der Gefühle – Pazifizierung: Verbot von Gewalt und Gewaltabwehr – Bürgertum: Konkurrenzdruck von unten – Herrschafts- und Kollektivangst: das „Über-ich“ (System) – Unterstützer und Mitläufer: das „gespaltene Ich“ – Scham- und Peinlichkeitsgefühle – Zwangserziehung – Krankmachende Angst – Angst der Oberschicht – Angst der Mittelschicht – Angst der Unterschicht – Verlorenes „Ich“.

 

Norbert Elias und sein Jahrhundert
Norbert Elias (1935)

Abb. 1) Norbert Elias (1935).

Das 20. Jahrhundert war das Jahrhundert der Ideologien, die immer eine „bessere Welt“ und einen „neuen Menschen“ versprechen. Sie ebneten sowohl den autoritären Regimen und beiden Weltkriegen den Weg als auch der Entpersonalisierung und Entmenschlichung der Bevölkerung durch Gesetz und Bürokratie. In den Verwaltungen kam ein neuer Name für die Bürger und Bürgerinnen auf: „Menschenmaterial“. Mittels Propaganda und Erziehung wurden sie und ihre Kinder darauf getrimmt, der Regierung blind zu gehorchen und nötigenfalls für sie zu sterben. Norbert Elias hat zu erkunden versucht, wo die Wurzeln der autoritären Herrschaftsideologien liegen, welche Mechanismen für die geistige Umpolung der Bevölkerung verantwortlich sind und wie gesundheitsschädigend sich die propagandistische Manipulation auf das persönliche Selbstbild auswirkt.

Der deutsch-polnische Soziologe Norbert Elias zählt zu den bedeutendsten Persönlichkeiten des 20. Jahrhunderts. Geboren wurde er 1897 in Breslau als einziges Kind des jüdischen Textilfabrikbesitzers Hermann Elias und seiner Ehefrau Sophie (geb. Galevski). Elias studierte zuerst Medizin, Philosophie und Psychologie, wandte sich aber schon bald der Soziologie zu. Nach seiner Promotion 1924 nahm er die Habilitation in Angriff, die er jedoch aufgrund der nationalsozialistischen Machtergreifung nicht beenden konnte. 1933 floh Elias aus Deutschland nach Paris, zwei Jahre später nach England. Hier wurde er Dozent für Soziologie, Psychologie, Nationalökonomie und Wirtschaftsgeschichte an der Universität von Leicester. Anfang der 1960er Jahre war er Soziologieprofessor an der Universität von Ghana. Ab 1965 nahm er verschiedene Gastprofessuren wahr. Seit 1984 liess er sich dauerhaft im niederländischen Amsterdam nieder, wo er 1990 starb.

Das 20. Jahrhundert wurde durch den 1. Weltkrieg (1914-1918) eingeläutet. Er sollte das Gerangel der europäischen Regierungsmächte um die führende Stellung als Welt- und Wirtschaftsmacht entscheiden. Zu seinen Befürwortern zählten die Angehörigen der Oberschichten und des Bürgertums aber vor allem auch die Jugend. Als der erste „Maschinenkrieg“ der Menschheitsgeschichte ausbrach, war Norbert Elias gerade 17 Jahre alt. Wie alle jungen Männer seiner Generation meldete auch er sich als Freiwilliger und wurde als Telegraphist eingesetzt. Den Schrecken des Krieges erlebt hat er sowohl an der West- als auch Ostfront. Nachdem er 1917 einen Nervenzusammenbruch erlitten hatte, wurde er für dienstuntauglich erklärt und in die Heimat zurückgeschickt. Sein wissenschaftliches Schaffen zeichnet sich daher nicht nur durch theoretische Kenntnisse, sondern auch persönliche Erfahrung aus.

Elias war einer der Ersten, der soziologische, medizinische, historische, philosophische, psychologische und wirtschaftliche Aspekte in seine Untersuchungen mit einbezog und ihre gegenseitige Beeinflussung herausstellte. Seine Arbeit war grundlegend für die Ausbildung undogmatischer, empirisch fundierter Theorien, um soziale Prozesse besser zu verstehen. Dazu beschäftigte sich Elias sehr eingehend mit den Gesellschaft- und Persönlichkeitsstrukturen, mit ihren langfristigen Transformationen, Mechanismen und Auswirkungen. Im Zentrum seiner Arbeit standen folgende Fragen: Welche Prozesse haben zur Ausbildung der sogenannten Zivilisation im Abendland geführt? Und welche Ursachen und Antriebe liegen ihrer Entwicklung zugrunde? Er kam am Ende zur Überzeugung: Sie alle werden durch den Zwang zur Angstverinnerlichung bestimmt.

In seinen Hauptwerken zeigt Norbert Elias auf rund 1600 Buchseiten akribisch auf, wie sich die Angst seit dem 16. Jahrhundert zum Leit- und Handlungsmotiv der heutigen Weltbevölkerung wandelte und seither im Gewand des Selbstzwangs das Leben der Menschen in den westlichen/verwestlichten Ländern bestimmt. Einer seiner Grundüberzeugungen hat er unter anderem mit den Worten zusammengefasst: „Die Angst vor dem Verlust oder auch nur vor der Minderung des gesellschaftlichen Prestiges ist einer der stärksten Motoren zur Umwandlung von Fremdzwängen in Selbstzwänge.“

Dem 20. Jahrhundert entsprangen nicht nur die Ideologien, sondern auch neue Staaten. Nach dem verheerenden 2. Weltkrieg (1939-1945) nahmen viele Länder eine republikanisch-demokratisch geprägte Staatsform an, da sie sich der philosophischen Anschauung nach durch ihre Gewaltlosigkeit auszeichnet. Nach Meinung von Norbert Elias war dies jedoch nur pro forma. Die neuen Staatswesen werden schliesslich aufgrund der allmächtig gewordenen Wirtschaft ebenfalls durch die „autoritäre Gewalt“ gelenkt, die in die gesellschaftlichen Strukturen und ihre Normen Eingang fand. Sein Hauptinteresse galt daher weniger den Alleinherrschern oder alleinherrschenden Parteien, sondern vor allem denjenigen, die als Unterstützer und Mitläufer die absolut-autoritäre Herrschaft überhaupt erst möglich machen.

Kalter Krieg - Kennedy u. Chruschtschow

Abb. 2) Der „Kalte Krieg“ (1947-1989) spaltete nicht nur die Weltgemeinschaft in einen kapitalistischen Westen und einen kommunistischen Osten. Er läutete auch eine neue Ära der autoritär-totalitären Gewalt in den Demokratien ein. Das Bild zeigt J.F. Kennedy mit N. Chruschtschow und spielt auf die „Kubakrise“ (1962) an, die beinahe den 3. Weltkrieg ausgelöst hätte.

Zu Elias’ Hauptwerken zählt einerseits seine Habilitationsschrift „Der höfische Mensch“, die er noch vor der Machtergreifung der Nationalsozialisten bei der Universität eingereicht hatte, aber erst 1969 unter dem neuen Titel „Die höfische Gesellschaft“ veröffentlicht wurde. Andererseits begründete sein zweibändiges Hauptwerk „Über den Prozeß der Zivilisation“ seinen bedeutenden Ruf als Wissenschaftler. Es entstand zwischen 1935 und 1939, erschien jedoch gleichfalls erst sehr viel später (1997). Elias’ Arbeiten geschadet haben die Spätveröffentlichungen nicht. Dank der Nachbearbeitung seiner Bücher konnte er seine Untersuchung auf die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts ausweiten und zusätzliche Belege sammeln, die seine Theorien bestätigten.

Norbert Elias stellte nicht nur unangenehme Fragen, sondern lieferte auch unbequeme Antworten. Dies ist wohl einer der Hauptgründe, warum seine Werke erst so später der Öffentlichkeit präsentiert wurden und selbst heute hauptsächlich in Wissenschaftskreisen bekannt sind. Seine Thesen veranschaulichte Elias (man bedenke ihre Entstehungszeit und das damalige Zensurrecht) insbesondere am Beispiel der Hofgesellschaft Frankreichs. Sie ist jedoch immer nur Ausgangspunkt seiner Überlegungen, war sie doch ein Produkt des Absolutismus’, dessen Philosophie den autoritär-totalitären Ideologien und Führerkulte des 20. Jahrhunderts als Vorbild diente.

Norbert Elias’ vertrat die These, dass die ursprüngliche Angst der Könige vor Macht- und Prestigeverlust bis heute in der Oberschicht fortwirkt und durch die Mittelschicht ihre Verbreitung findet. Die primären Erzeuger der Angst wiederum erfuhren im Verlaufe des Zivilisationsprozesses eine Anonymisierung, während sich die modernen Bürger und Bürgerinnen zu „gläsernen Menschen“ wandelten, die der ständigen Gewalt ausgesetzt sind. Der Sinn der Gesellschaftsnormen hat sich ebenfalls verändert. Seit dem Absolutismus baut die staatsphilosophische Vorstellung von der „Herrschaft“ schliesslich nicht mehr auf ethisch-religiösen Grundsätzen, sondern ganz offiziell auf individuellen Interessen auf. Das grösste Problem der absolut-autoritären Herrschaft sieht er darin, dass ihre Ziele ausschliesslich auf den Erhalt der „Herrschaftsmacht“ und nicht der „Gemeinschaft“ ausgerichtet sind. Um die eigenen Interessen durchzusetzen, werden einerseits unliebsame Angehörige willkürlich aus der Gesellschaft ausgeschlossen, andererseits alle sozialen Ängste darauf ausgerichtet, die Eigenwahrnehmung zu trüben und das Gefühl der Minderwertigkeit im Volk zu verankern. Das „Individuum“ ist seiner Ansicht nach in diesem System inexistent. Es nimmt sich nur noch als Teil einer „Masse“ wahr und hat vergessen, dass es den Launen Einzelner ausgeliefert ist.

 

„Keine Gesellschaft kann bestehen ohne eine Kanalisierung der individuellen Triebe und Affekte, ohne eine ganz bestimmte Regelung des individuellen Verhaltens. Keine solche Regelung ist möglich, ohne daß die Menschen aufeinander Zwang ausüben und jeder Zwang setzt sich bei dem Gezwungenen in Angst der einen oder anderen Art um. Man darf sich darüber nicht täuschen: Eine ständige Erzeugung und Wiedererzeugung von menschlichen Ängsten durch Menschen selbst ist unvermeidlich und unerläßlich, wo immer die Menschen in irgendeiner Form mit einander leben, wo immer Verlangen und Handlungen mehrerer Menschen ineinander greifen, sei es bei der Arbeit, sei es bei Geselligkeit oder Liebesspiel. Aber man darf auch nicht glauben und man darf nicht versuchen, sich weiszumachen, daß die Gebote und Ängste, die heute dem Verhalten der Menschen ihr Gepräge geben, bereits einfach und im wesentlichen diese elementaren Notwendigkeiten des menschlichen Zusammenlebens zum »Zweck« haben, daß sie sich schon in unserer Welt auf jene Zwänge und jene Ängste beschränken, die zu einer gleichmäßigen Ausbalancierung des Verlangens Vieler und zur Instandhaltung der gesellschaftlichen Zusammenarbeit notwendig sind. … Die Zwänge, denen heute der einzelne Mensch unterworfen ist, und die Ängste, die ihnen entsprechen, sie sind in ihrem Charakter, ihrer Stärke und Struktur entscheidend bestimmt durch die spezifischen Verflechtungszwänge unseres Gesellschaftsgebäudes, durch seine Niveaudifferenzen und die gewaltigen Spannungen, die es durchziehen.“

 

 

Verhöflichung: Enge und Unterdrückung der Gefühle
Gargantua - Honoré Damier

Abb. 3) „Gargantua“ (1832) von Honoré Damier: Das Bild zeigt den „bürgerlichen“ Franzosenkönig Louis Philippe I., den die Untertanen unentwegt mit Säcken voller Gold „sättigen“ müssen. Sein Vorgänger Ludwig XIV. hat den Absolutismus zu seiner Vollendung gebracht. Er besass Vorbildfunktion für alle anderen europäischen Regenten jener Zeit, die sein Konzept der Alleinherrschaft im eigenen Lande umzusetzen versuchten.

Das Wort „Angst“ bedeutet aus sprachwissenschaftlicher Sicht die Enge. Eng wird es auch, wenn sich die Menschen zusammentun. Die Gruppenbildung ist ein natürlich-angeborener Verhaltensmechanismus. Ihr Zweck ist es, mit vereinten Kräften einen Auslöser von Angst abzuwehren (u.a. Hunger, Feinde). Daher lässt sie bei jedem Individuum in Notzeiten das Gefühl der Sicherheit und Geborgenheit aufkommen – wie sich auch am Sprachgebrauch zeigt (u.a. engster Familien- oder Freundeskreis). Üben die Menschen aber unaufhörlich Zwänge aufeinander aus, steigt Elias’ Überzeugung nach auch das Angstpotenzial innerhalb des Kollektivs an. Diese geballte Energie führt letzten Endes immer zur gegenteiligen Reaktion, zum individuellen Gefühl der Beengtheit und zur Angst vor den Mitmenschen. Die positiv empfundene Enge ist den Menschen oft nicht wirklich bewusst, die negative jedoch immer. Sie gibt ihm das Gefühl, von Feinden und Gefahren umringt zu sein.

Die sogenannte „Höfische Gesellschaft“, die am Anfang von Elias’ Analyse steht und ihm als Hauptbeispiel dient, bildete sich seit dem 16. Jahrhundert aus. Bei ihr handelt es sich um eine neue Lebensweise des Adels, die durch die Alleinherrschaft der französischen Könige (Absolutismus) erzwungen wurde und den herrschaftlichen Zentralismus fördern sollte. Das Ziel der Monarchen war es, mit allen Mitteln die Rechtsmacht der mitregierenden Aristokraten zu beschränken, sie zu königlichen Lakaien zu degradieren und ihre Abhängigkeit von ihm zu festigen. (Mehr Infos zum Absolutismus in Frankreich und seiner Ständegesellschaft in den Beiträgen „Die Grosse Furcht von 1789“ sowie „Montesquieu und das Prinzip Furcht“!)

Die Verhöflichung wurde ganz nach dem Motto gestaltet: „Sei deinen Freunden nahe, doch deinen Feinden noch näher“. Wer sich nicht am Hofe des Königs aufhielt und sich ihm als „Diener“ anbot, verlor innerhalb des Adelstandes an Ansehen wie auch an Rechten und Privilegien gegenüber dem Volk. Die Angehörigen der höfischen Gesellschaft reagierten auf die Zwänge einerseits mit einer verstärkten Selbstkontrolle, um ja nicht die Gunst des Königs zu verlieren und Statusverlust hinnehmen zu müssen. Andererseits begannen sie selbst Zwang auszuüben, indem sie andere ihres Standes einer verstärkten Kontrolle unterwarfen. Mittels Blossstellung und Intrigen versuchten sie die Schwächen ihrer Konkurrenten aufzudecken, sie zu diskreditieren und aus dem Kreis der Hofgesellschaft auszuschliessen. – Die moderne Angst vor einer Überbevölkerung, die im frühkapitalistischen 12. Jahrhundert erstmals in den Quellen erwähnt wird, findet mit der höfischen Zwangsgesellschaft erstmals eine propagandistische Verbreitung und Überlieferung.

Bevor die Verhöflichung ihren Anfang nahm, stand vor allem die von Gott geschaffene Natur im Mittelpunkt des gelehrten Interesses. Sie sollte durch menschliche Eingriffe gebändigt werden – wie sich unter anderem an der Gartenarchitektur jener Zeit aufzeigen lässt. Im Verlaufe des Zivilisationsprozesses und der herrschaftlichen Machtkonzentrierung jedoch verschob sich das gesellschaftliche Augenmerk ganz besonders auf den Menschen. Sein Äusseres und seine Verhaltensmuster aber auch Herkunft, Titel und Bekanntenkreis wurden einer genauen sozialen Beurteilung unterworfen. Elias hat den Vorgang unter anderem mit folgenden Worten wiedergegeben:

„Wie die Natur nun in höherem Maße als früher zur Quelle einer durch das Auge vermittelten Lust wird, so werden auch die Menschen nun für einander in höherem Maße zur Quelle einer Augenlust oder umgekehrt auch zur Quelle einer durch das Auge vermittelten Unlust, zu Erregern von Peinlichkeitsgefühlen verschiedenen Grades.“

Walter Ulbricht - Berliner Mauer

Abb. 4) Erzwungene Enge: Parteiführer Walter Ulbricht war von 1950-1971 der “erste Mann“ in der neuen „Deutschen Demokratischen Republik“ (DDR). Als immer mehr Leute aufgrund der politischen Lage das sozialkommunistisch regierte Land verliessen, sperrte er das Volk kurzerhand ein. An einer Pressekonferenz (Foto) sagte er am 15. Juni 1961: „Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten.“ In der Nacht vom 13. August wurde mit dem Bau der Berliner Mauer begonnen, um die Flucht der Bevölkerung in den Westen zu stoppen.

Im Zentrum der neuen Gesellschaftsordnung stand der Zwang zur Affektkontrolle, das heisst die königliche Vorschrift, alle individuellen Gemütsäusserungen zu unterlassen. Das Zeigen persönlicher Emotionen selbst wurde fortan als Beweis der Minderwertigkeit und Unterlegenheit interpretiert. Das Zeigen sozialbestimmter Emotionen hingegen war vorgeschrieben. Gefühle zeigte man also nur dann, wenn es die gesellschaftlichen Normen verlangten. Einzige Ausnahme: der gespielte „Gefühlsausbruch“, der Empörung suggerieren sollte. Er wandelte sich zu dieser Zeit zu einem besonders wirksamen Mittel, um die Mitmenschen manipulieren und sie unter Druck setzen zu können. In Erinnerung blieben die Zeitgenossen des Absolutismus’ daher auch vor allem wegen ihres „gekünstelten Verhaltens“, ihrer ritualisierten Manieren, Begrüssungsformen und Sprechweisen, wie auch ihres „künstlichen Aussehens“, ihrer gepuderten Perücken, ihrer weissen und mit starkem Rouge geschminkten Gesichtern, die jedes natürliche Erröten verbergen sollten.

Die Angst vor dem Verlust der Selbstkontrolle versetzte den höfischen Menschen in eine ständige Unruhe, stand er doch am Königshof jederzeit unter Beobachtung. Den einzigen Halt gaben ihm die gesellschaftlichen Normen, nach denen er sein Verhalten ausrichten konnte. Doch sie brachten immer mehr Angstvorstellungen hervor und veränderten sich fortlaufend, waren es doch die Launen und Bedürfnisse der Könige, welche die Gesellschaftsregeln bestimmten. Ihre Anzahl stieg schon bald ins Unermessliche an und führte am Hofe zu kuriosen Verhaltensweisen. So stritt sich der Adel beispielsweise darum, wer das Taschentuch des Königs halten oder seinen Nachttopf entleeren durfte. Der Literat Alexandre Dumas (1802-1870) hat den Normendruck mit den folgenden ironischen Worten zusammengefasst und einem empörten Kammerdiener in den Mund gelegt, dessen Herr von der gesellschaftlichen Regel der Esszeiten abweichen will: „Monseigneur, die Bürger speisen um zwei, die Beamten um drei, der Adel um vier.“ – Und der König um fünf.

Für die Adligen wandelte sich der Königshof zum „heissen Pflaster“ und die „Kunst der Menschenbeobachtung“ laut Norbert Elias zu ihrer neuen – und zukünftigen – Lebensaufgabe. Die Fähigkeit, die Mimik und das Verhalten lesen und einschätzen zu können, wurde von ihnen auf einmal als „lebenswichtig“ empfunden. Die eigene soziale Isolierung konnte nur durch den Ausschluss anderer vermieden bzw. vorgebeugt werden. Da die Hofgesellschaft jedoch zur Affektkontrolle gezwungen war, sich passiv verhalten und dreinschauen musste, gewannen genaue Informationen über jede Person am Hofe, über ihren gesellschaftlichen Status und ihren Kurswert im Geflecht des öffentlichen Ansehens an besonderer Bedeutung. Die Geburtsstunde der höfischen Gesellschaft war somit auch die der sogenannten „öffentlichen Meinung“.

 

„Eine Affektentladung ist in ihrer Dosierung schwer kalkulierbar. Sie deckt das wahre Empfinden des Betreffenden in einem Maße auf, das, weil nicht berechnet, schädlich sein kann; sie spielt den Gunst- und Prestigekonkurrenten vielleicht Trümpfe in die Hand. Sie ist schließlich und vor allem ein Zeichen von Unterlegenheit; und das ist gerade jene Lage, die der höfische Mensch am meisten von allen fürchtet. Der Konkurrenzkampf des höfischen Lebens zwingt so zu einer Bändigung der Affekte zugunsten einer genau berechneten und durchnuancierten Haltung im Verkehr mit den Menschen.“

 

 

Pazifizierung: Verbot von Gewalt und Gewaltabwehr
George Orwell - 1984

Abb. 5) „Big Brother is watching you“ heisst es bei George Orwell, der übrigens auch dem „Kalten Krieg“ seinen Namen gab. Orwell kämpfte im Spanischen Bürgerkrieg gegen die faschistische Diktatur Francos. Als er begriff, worum wirklich Krieg geführt wurde, schrieb er sein Buch „1984“.

Den Angehörigen der Hofgesellschaft war es nicht erlaubt, ihre persönlichen Gefühle zu offenbaren. Darüber hinaus durften sie aber auch kein Angstverhalten (Angriff und Flucht) zeigen. Um ihre Angst vor Macht- und Prestigeverlust zu bewältigten, setzten die absolutistischen Könige nicht nur die Verhöflichung, sondern auch die sogenannte „Pazifizierung“ des Adels durch. Sie verbot den Hofangehörigen in der Öffentlichkeit ein aggressives Verhalten zu zeigen. Wer seine Aristokratenehre durch Duelle, kriegerische Auseinandersetzungen oder andere gewaltsame Handlungen zu verteidigen suchte, der musste mit einem Verfahren rechnen und verlor die Gunst von König und Hofgesellschaft.

Das traditionelle Mittel der adligen Angstabwehr war jedoch gerade die Ausübung von Gewalt. Mit der Pazifizierung nahmen die Spannungen zwischen den Adelsangehörigen und die Angst vor Ehr- und Statusverlust zu. Sie äusserte sich in unzähligen, immer wieder neu aufkommenden Angstvorstellungen, welche die Adligen in einen ständigen Zustand der Unruhe, des fortlaufenden Angsterlebens versetzten. Die durch sie freigesetzte Angstenergie war am Ende die Initialzündung und Antrieb der zunehmenden Fremd- und Selbstkontrolle am Hof. Norbert Elias hat es folgendermassen formuliert:

„im Zuge dieser Pazifizierung ändert sich zugleich auch die Sensibilität der Menschen für ihr Verhalten im Verkehr miteinander. Nun verstärken sich proportional zur Abnahme der äußeren die inneren Ängste … Auf Grund dieser inneren Spannungen beginnen die Menschen nun sich gegenseitig bei Umgang miteinander in einer Weise differenziert zu erleben, die dort, wo die Menschen beständig starke und unabwendbare Bedrohungen von außen zu erwarten haben, notwendigerweise fehlt. Nun wird ein ganzer Teil der Spannungen, die ehemals unmittelbar im Kampf zwischen Mensch und Mensch zum Austrag kamen, als innere Spannung im Kampf des Einzelnen mit sich selbst bewältigt.“

Die natürlichen Ängste wurden durch soziale Ängste ersetzt; die Furcht vor dem biologischen Tod wandelte sich zu einer vor dem sozialen Tod. Das eigene Verhalten und das der Anderen wurde von nun an ständig überwacht und kommentiert. Je mehr der höfische Mensch zur Selbstkontrolle gezwungen war, umso grösser wurde aber auch seine Empfindlichkeit für die Schattierungen oder Nuancen des Verhaltens anderer, umso sensibler reagierte er plötzlich auf spezielle Gesten und umso differenzierter erlebte er nicht nur sich selbst, sondern auch seine Mitmenschen. Die „angespannte“ Atmosphäre hatte natürlich Folgen. Plötzlich wurde jedes unangenehme Wort, jeder Widerspruch, jedes Gegenargument wie auch jede nicht-ritualisierte Bewegung, jede laute Äusserung und jede körperliche Annäherung zum Angriff auf einen selbst oder den eigenen Stand umgedeutet.

Das „komplizierte und gefährliche Spiel“ der Gunsterhaltung, „bei dem körperliche Gewaltanwendung und unmittelbare Affektausbrüche verboten sind und die Existenz bedrohen“, verlangte von jedem Beteiligten eine ständige Aufmerksamkeit und Vorausschau. Die gesellschaftliche Transformation, die sich nach Elias’ insbesondere an der Pazifizierung und dem Schüren von Scham- und Peinlichkeitsgefühlen zeigt, hat er unter anderem am Beispiel des Messergebrauchs versinnbildlicht. Vor dem Wandel war es gang und gebe, ein solches mit sich zu führen oder auch ein erlegtes Tier öffentlich auszuweiden. Mit dem Aggressionsverbot jedoch änderte sich dies. Dazu Elias:

„Wenn der Gebrauch der Waffe im Kampf frei und alltäglich ist, hat … die kleine Geste, mit der man einem Anderen bei Tisch das Messer reicht, keine sehr große Bedeutung. Wenn der Gebrauch der Waffe mehr und mehr eingeschränkt wird, wenn Fremd- und Selbstzwänge zugleich den Einzelnen die Äußerung von Erregung und Wut durch einen körperlichen Angriff immer schwerer machen, werden die Menschen allmählich immer empfindlicher gegen alles, was an Angriff erinnert. Schon die Geste des Angriffs rührt an die Gefahrenzone; es wird schon peinlich zu sehen, wie ein Mensch dem anderen das Messer so reicht, daß die Spitze auf ihn gerichtet ist.“

Zwar verringerte sich durch die Pazifizierung die natürliche Angst „vor der Bedrohung oder Überwältigung durch andere Wesen“. Mit ihr einher ging aber auch eine „Verstärkung der automatischen, inneren Ängste, der Zwänge, die der Einzelnen nun auf sich selbst ausübt.“ Eine von Elias’ Haupttheorien besagt daher auch, dass sich die äusseren sozialen Spannungen zwischen Mensch und Mensch zur Spannung im Inneren des Menschen wandelten. Dabei nahm die innerliche, durch biologische Mechanismen bedingte Erregung nicht nur proportional zur abnehmenden Gefahr von aussen zu, sie zeigte sich aufgrund der zunehmenden Angstvorstellungen auch als sehr viel anhaltender und vielseitiger.

 

„Nirgends in der menschlichen Gesellschaft gibt es einen Nullpunkt der Ängste vor äußeren Mächten und nirgends einen Nullpunkt der automatischen, inneren. Beide bedeuten für den Menschen etwas Verschiedenes, aber beide sind letzten Endes voneinander unabtrennbar. Was sich ändert, ist lediglich die Proportion zwischen den äußeren und den selbsttätigen Ängsten und deren gesamter Aufbau: die Ängste des Menschen vor äußeren Mächten werden – ohne je zu verschwinden – geringer; die niemals fehlenden, latenten oder aktuellen Ängste, die aus der Spannung zwischen Trieb und Ich entstehen, werden im Verhältnis zu ihnen stärker, allseitiger und beständiger.“

 

 

Bürgertum: Konkurrenzdruck von unten
William J. Casey

Abb. 6) Moderner Geldadel: Milliardär William J. Casey katapultierte als Wahlkämpfer R. Reagen auf den Präsidentenstuhl. Er wurde schliesslich Direktor der CIA und hatte im Weissen Haus genausoviel Macht inne wie der Präsident, der Aussen- und Verteidigungsminister der USA.

Die Verhöflichung förderte die Abhängigkeit des Adels und konzentrierte seine Mitglieder auf einen königlich bestimmten Raum. Anstelle der körperlichen Gewaltausübung rückte die gesellschaftliche Kontrolle, die jetzt noch leichter zu bewerkstelligen war. In ständiger Gefahr aber zum Stillhalten gezwungen, entwickelte die adlige Angstphantasie immer wieder neue Gefahrenvorstellungen. Sie alle sollten Gefühle der Scham und Peinlichkeit hervorrufen und die eigene hierarchische Stellung im Bewusstsein der Konkurrenz halten – und ganz besonders bei den traditionellen Feinden: den Bürgerlichen.

Seit dem 12. Jahrhundert bildete sich langsam aber stetig ein neuer Stand aus: das Bürgertum. Zu ihm zählten anfangs reiche Städter, vor allem Kaufmänner, Händler, Handwerker oder Bankiers, die nur eines wollten: ein privilegiertes Leben führen wie die Aristokraten. Im 16. Jahrhundert gehörten sie in Frankreich wie auch in anderen Ländern jedoch noch immer zum sogenannten 3. Stand, der weder politische Rechte noch spezielle Privilegien besass. Nichtsdestotrotz waren diese vermögenden Stadtbürger den Adelsangehörigen ein Dorn im Auge, waren doch nicht wenige von ihnen verarmt. Sie setzten daher auch alle Mittel ein, um ihre gesellschaftliche Position zu verteidigen und den politischen wie auch sozialen Aufstieg der Bürgerlichen durch Gesetze, Verordnungen und Verbote zu verhindern.

Die Emporkömmlinge, die den Konkurrenzdruck verstärkten (nicht wenige von ihnen haben König und Adel in ihren Unternehmungen finanziell unterstützt), hatten zu dieser Zeit noch kein bürgerliches Selbstverständnis ausgebildet, warum der Adel für sie auch Vorbildfunktion besass. Das Bürgertum lehnte sich zwar auf der politischen Bühne gegen die Aristokraten auf, strebte in Wirklichkeit aber eine Symbiose mit diesen an. Die Bürgerlichen ahmten am Ende nicht nur sämtliche aristokratischen Erziehungsmassnahmen und Bildungswege nach, sie betrieben auch wie sie eine gutdurchdachte Heiratspolitik, erlernten ihre Umgangsformen, ihre Sprache und passten ihre Kleidung der adlig-höfischen Mode an. Ihr Nachahmungsbestreben führte daher auch immer wieder zu Streit mit den Aristokraten. Besonders oft umstritten war die gesetzlich festgelegte Kleiderordnung, die nach aussen Auskunft über den eigenen Stand geben sollte und damit ein wichtiges Abgrenzungskriterium war.

Natürlich machte das Bürgertum sich auf diesem Wege auch deren Ängste und Bewältigungsstrategien zu eigen und reagierte mit einer verstärkten Selbst- und Fremdkontrolle. Dabei war den Bürgerlichen nicht bewusst, dass sie sich ebenfalls in ein Abhängigkeitsverhältnis begaben und ihre Befreiung aus der königlichen und adligen Bevormundung verunmöglichten. Von den Fesseln der starren Ständegesellschaft befreit wollten sie aber auch nicht werden, sondern einzig den Aufstieg in die höheren Ränge schaffen. Sie übten letztlich vor allem im Privatraum Zwang aus, wo sie die nötige Autorität besassen und kein Aussenstehender ihr emotionelles oder aggressives Verhalten beobachten konnte.

Tepco - Fukushima

Abb. 7) Scheindemokratie: Offiziell ist Japan zwar eine parlamentarische Monarchie doch laut Verfassung ist das Volk der Souverän. Tatsächlich regiert wird das Land jedoch durch das Unternehmen „Tepco“ (Elektrische Energie Tokio). Auf der Liste der grössten Kohlenstoffdioxid- Emittenten nimmt es den 5. Rang ein (2018). Für die Nuklearkatastrophe Fukushima (2011) war es ebenfalls verantwortlich.

Nach Norbert Elias hat das Bürgertum den Selbstzwang am Ende perfektioniert, sein Hauptziel aber niemals erreicht. Die Französische Revolution katapultierte die Bürgerlichen zwar an die Spitze der Regierung. Doch kaum trat es als sozial und wirtschaftlich führende Schicht hervor, da bekam es auch schon wieder Konkurrenz. Denn die parallel verlaufende Industrialisierung (17./18. Jahrhundert) machte nicht nur viele von ihnen reich, sie erschuf auch einen neuen politischen Gegner: den Arbeiter. Aus Elias’ Sicht war sein Auftreten nicht schicksalshaft, sondern vorprogrammiert:

„Des eigentümlichen Bumerang-Effekts der Zwänge, die in einem Interdependenzgeflecht machtstärkere auf machtschwächere, zivilisiertere auf weniger zivilisierte Gruppen ausüben, ist man sich im allgemein noch recht wenig bewußt. Man schließt oft die Augen vor der Tatsache, daß in der einen oder anderen Form die Zwänge, die machtstärkere auf machtschwächere Gruppen ausüben, als Zwänge der machtschwächeren auf die machtstärkeren, auch als Zwänge zum Selbstzwang, wieder zu den letzteren zurückkehren.“

Der absolutistische Königshof und seine Gesellschaft besassen Vorbildcharakter für die modernen Macht- und Stadtzentren. Im Verlaufe der Menschheitsgeschichte haben sich aber auch die Vorstellungen von den Gesellschaftsschichten verändert. Heute spricht man für gewöhnlich von den entpersonalisierten Ober-, Mittel– und Unterschichten. Von Norbert Elias wird die erste mit den einstigen Aristokraten (zu denen auch der König zählte), die Mittelschicht wiederum mit dem Bürgertum gleichgesetzt – auch wenn die Grenzen teilweise fliessend sind, man denke nur an den verarmten Landadel. Seiner Überzeugung nach werden seine Angehörigen von verschiedenen Ängsten geplagt und unterscheiden sich in ihrem Denken und Verhalten. Sie alle aber orientieren sich am Über-ich, das die gesellschaftlichen Normen und Verhaltensregeln vorgibt.

 

„Die Unterlegenheitsgefühle und -gesten der individuell aufsteigenden Menschen dagegen bekommen dadurch ihre besondere Tönung, daß sich diese Menschen bis zu einem gewissen Grade mit der oberen Schicht identifizieren; … die Menschen in dieser Lage erkennen mit einem Teil ihres Bewußtseins die Verbots- und Gebotstafeln, die Normen und Verhaltensformen der oberen Schicht als für sich selbst verbindlich an, ohne sich mit der gleichen Ungezwungenheit und Selbstverständlichkeit daran halten zu können, wie diese.“

 

 

Herrschafts- und Kollektivangst: das „Über-Ich“
John F. Kennedy

Abb. 8) Rhetorik der starren Einheits-Vorstellung: Gleich bei seiner Amtsantrittsrede am 20. Januar 1961 fasste John F. Kennedy seine autoritäre Sichtweise mit den Worten zusammen: „Frage nicht, was dein Land für dich tun kann, sondern was du für dein Land tun kannst.“

Die sozialen Ängste werden durch das sogenannte „Über-ich“ bestimmt, das durch die Herrschaft verkörpert wird. Norbert Elias definierte es als einen ausserpersönlichen Moral- und Verhaltenskodex, nach dem jeder sein Denken und Handeln auszurichten gezwungen ist, um die Gemeinschaft zu erhalten. Seine Grundsätze spiegeln seit jeher die religiös-ethischen Überzeugungen derjenigen Menschen wider, die ein Kollektiv gebildet haben. Heutzutage werden diese kodifizierten Wert- und Lebensnormen – wie Elias anmerkt – oft unter dem weitläufigen Begriff „System“ zusammengefasst und haben ihre ursprüngliche Funktion verloren. Sie haben sich zum Instrument der Angstverbreitung gewandelt, um die hierarchischen Strukturen verteidigen und die wechselnden Launen, Bedürfnisse und Wünsche der „Herrschaft“ befriedigen zu können

Seit jeher existieren zwei philosophische Ansichten, auf denen die Idee vom „Über-ich“ aufbaut und es legitimieren. Die eine Vorstellung ist abstrakter Natur, begreift sie die „Gesellschaft“ als eine Art höhere Einheit, die unveränderlich ist und nicht durch den Menschen beeinflusst wird –, warum sie für gewöhnlich auch ein sehr negatives Menschenbild vertritt. Die andere wiederum definiert sie als ein Verbund von „Individuen“, die mit ihr in einer dynamischen Wechselbeziehung stehen –, was auch der Grund ist, warum sich Gemeinschaften im Verlaufe der Geschichte ständig verändern, wie Elias betont. Die heutigen Gesellschaftsstrukturen bauen zwar (trotz demokratischer oder ähnlicher Verfassung) auf der ersten Anschauung auf. Doch im öffentlichen Diskurs propagieren vor allem Politiker immer wieder gerne die zweite, falls es den eigenen Interessen dient, eine Schuldfrage in ihrem Sinne gelöst werden soll und/oder um das „Menschenmaterial“ zu mobilisieren. (Mehr Infos zu den zwei philosophischen Anschauungen in den Beiträgen über „Fromm“ und „Montesquieu“!)

Norbert Elias vertrat die unpopuläre Überzeugung, dass zwischen „Gesellschaft“ und „Individuum“ nicht zu trennen sei. Auch definierte er die verschiedenen „Gesellschaften“ neu als „Figurationen interdependenter Menschen“, das heisst, als Verbände von „Individuen“, die aufgrund ihrer wechselseitigen Abhängigkeit voneinander Bestand haben. Aus diesem Grund verstand er auch unter dem Begriff „Zivilisation“ etwas anderes, als die Befürworter der starren Einheitsvorstellung. Seiner Auffassung nach beschreibt er nicht eine Gemeinschaft, die den Zustand der „Vollkommenheit“ erreicht hat – und nun auf ewig weiterbesteht –, sondern vielmehr eine, die in einem ständigen, evolutionsartigen Prozess dieses „Vollkommen-Sein“ anstrebt. Den „Prozess“ selbst wiederum definierte er als „Strukturwandlung des Seelenhaushalts“.

Norbert Elias’ Überzeugung nach entspringt die Angst den veränderlichen Beziehungsgeflechten („Figurationen“), in denen die Menschen leben. Sie erst bringen schliesslich die „Verflechtungszwänge“ hervor, die den „Seelenhaushalt“ (die innere Gefühls-, Glaubens- und Gewissenswelt) umstrukturieren und dem ausserpersönlichen Sozialkodex anpassen. Zwar kann eine Gesellschaft seiner Meinung nach nur solange weiterbestehen, wie sich die „Fremdzwänge“ bei ihren Angehörigen in „Selbstzwänge“ umwandeln –, warum er das „Über-ich“ auch als „Selbstzwangapparatur“ bezeichnete. Wird die Funktion des Über-ichs und der sozialen Ängste jedoch zweckentfremdet, wirkt sich dies gesundheitsschädigend oder sogar tödlich auf die Bevölkerung aus.

 

Norbert Elias über Figuration, Gesellschaft und Individuum:

„In der herkömmlichen Debatte über die Rolle der Einzelmenschen in der Geschichte geht man zuweilen von der Annahme aus, daß der Gegensatz zwischen denen, die bei der Untersuchung geschichtlicher Zusammenhänge die Aufmerksamkeit auf »individuelle Erscheinungen« und denen, die sie auf »gesellschaftliche Erscheinungen« konzentrieren, unversöhnlich und unvermeidlich sei. Aber es handelt sich hier um eine recht unreale Antinomie. Sie läßt sich nur im Zusammenhang mit zwei politisch-philosophischen Traditionen erklären, von denen die eine die »Gesellschaft« als etwas Außergesellschaftliches hinstellen. Beide Vorstellungen sind fiktiv.“ … „Der Begriff der »Figuration« dient dazu, diesen Sachverhalt zum Ausdruck zu bringen. Der herkömmliche Sprachgebrauch erschwert es, von Individuen zu sprechen, die Gesellschafen miteinander bilden, oder von Gesellschaften zu sprechen, die aus Einzelmenschen bestehen. … Aber solange man sich soziale Systeme nicht ebenfalls als Systeme von Menschen denkt, schwebt man beim Gebrauch dieses Begriffs im luftleeren Raum.“ … „Die Tatsache, daß sich die Figurationen, die Menschen miteinander bilden, oft weit langsamer ändern als die Menschen, die sie jeweils bilden … die Tatsache kurzum, daß gleiche oder ähnliche Figurationen oft genug geraume Zeit hindurch von verschiedenen Individuen gebildet werden können, läßt es so erscheinen, als ob diese Figurationen eine Art von »Existenz« außerhalb von Individuen haben. Mit dieser Augentäuschung hängt der verfehlte Gebrauch der Begriffe »Gesellschaft« und »Individuum« zusammen, der es so erscheinen läßt, als ob es sich hier um zwei getrennte Gegenstände mit verschiedener Substanz handle … Die einzelnen Individuen, die hier und jetzt eine spezifische gesellschaftliche Figuration miteinander bilden, können zwar verschwinden und anderen Platz machen, aber wie sie auch wechseln, die Gesellschaft, die Figuration selbst wird immer von Individuen gebildet. Figurationen haben eine relative Unabhängigkeit von bestimmten einzelnen Individuen, aber nicht von Individuen überhaupt.“

 

 

Unterstützer und Mitläufer: das „gespaltene Ich“
Mussolini und Hitler (1940)

Abb. 9) Rhetorik der starren Einheits-Vorstellung: Mussolini erklärte Frankreich am 10. Juni 1940 den Krieg und forderte in einer Rede zum Anlass von seinen Landsleuten, ihren Nutzen für ihn unter Beweis zu stellen.: „Italienisches Volk! Greif zu den Waffen! Zeige deine Ausdauer, deinen Mut und deinen Wert!“ Das Bild zeigt ihn mit seinem Besucher Hitler, der legal an die Macht kam und besonders viele Wahlunterstützer unter den deutschen Juden hatte, die sich ebenfalls vor dem Kommunismus fürchteten.

Die absolut-autoritäre Herrschaftsgewalt beraubt den Menschen seiner wahren Identität, indem sie unaufhaltsam die Angst vor der Unterlegenheit, Wert- und Nutzlosigkeit schürt. Gleichzeitig verspricht sie den Anpassungswilligen ein neues Selbstbild, das vom Glauben an die eigene Überlegenheit dominiert wird. Diejenigen, die sich dem Druck ergeben, verfolgen fortan dieselben herrschaftlichen Ziele und Interessen. Damit ist die Umpolung des Geistes bereits komplett und die vollständige Abnabelung und Entfremdung von den Mitmenschen vollzogen. Die Gefahr, dass sich die Leute zusammentun und sich gegen die Herrschaft auflehnen könnten, wird auf diesem Wege schliesslich ebenfalls gebannt.

In einem absolut-autoritären System wird die Bevölkerung dazu gezwungen, seine Unterlegenheit zu akzeptieren und seine Ängste den Herrschaftsinteressen anzupassen. Nach Elias führt dieser Zwang zur Gleichschaltung bei den Menschen zu einer sehr ungesunden Aufspaltung der Psyche. Sie bringt die neue Identität, die herrschaftlich erwünschte „Ich“-Version hervor, die ohne Gewissen und ohne Verantwortungsgefühl ist. Sie sieht die Welt nur noch aus der Perspektive des Angstauslösers, wodurch die eigenen gewaltsamen und grausamen Handlungen nur noch als ein ausserpersönliches Ereignis wahrgenommen werden.

Elias’ Meinung nach wirkt sich vor allem die gedachte und politisch umgesetzte Trennung von „Individuum“ und „Gesellschaft“ sehr negativ auf das Selbstbild des Menschen aus. Einerseits, weil er sich selbst nicht mehr als aktive Kraft wahrnimmt und als Mitgestalter des Kollektivs begreift. Andererseits gaukelt ihm die abstrakt-starre Einheitsvorstellung vor, dass die Herrschaft immer Recht hat und die hierarchischen Gesellschaftsstrukturen sowie die Denk- und Verhaltensvorgaben unveränderlich seien. Erst die ausweglose Lage, die den sozialen Ausschluss und schlechtere Überlebenschancen in Aussicht stellt, lässt ihn zum passiven Befehlsempfänger, aber auch zum aktiven Mittäter ohne Gewissen werden.

Um auch die neuen Generationen darauf abzurichten, zu Unterstützern des Systems zu werden, werden die Herrschaftsängste mittels der Erziehung in der Psyche des Menschen verankert. Bereits als Kind lernt er, bei Übertreten eines sozialen Verbots mit einem physischen und psychischen Angsterleben zu reagieren. Mit der „Mahnung: »So etwas tut man nicht«, mit der man Zurückhaltung, Angst Scham und Peinlichkeit züchtet“, wird ihm die persönliche Angstabwehr von vorneherein verunmöglicht und ein individuelles Empfinden abtrainiert. Hat er seine Unterlegenheit und die Fremdängste des Über-ichs als die seinen akzeptiert, wird ihm das „abgespaltete Ich“ zur „zweiten Natur“.

Die Verinnerlichung der Angst wirkt sich nach Elias psychisch und physisch negativ auf den Menschen aus, wenn sie nicht dem gesellschaftlichen Zusammenhalt zwecks Angstabwehr dient, sondern dem Herrschaftserhalt zwecks Angstbewältigung. Kein Wunder, ist der natürliche Zivilisationsprozess schliesslich darauf ausgerichtet, ein Kollektiv in eine Kultur zu überführen, die lebensfähig ist und jedem Angehörigen das Überleben ermöglicht. Geht dieser Sinn des Zusammenlebens verloren und werden die Lebensregeln zweckentfremdet, steigt auch das Angstpotenzial an. Es zeigt sich in der steigenden Zahl an Angsterkrankungen, Gewalttaten sowie Feind- und Gefahrenvorstellungen, die letztlich nur ein Anzeichen dafür sind, dass das Gruppen-Experiment gescheitert ist und eine „Gesellschaft“ vor ihrer Zerstörung steht.

Die Aufgabe der natürlichen Angst ist es, den Menschen am Leben zu erhalten. Verbissen ums weitere Überleben kämpft daher auch der andere Teil des „Ichs“, der die persönliche Glaubens- Gewissens- und Gefühlswelt bewahren konnte und sich im anhaltenden Stress bemerkbar macht. Elias kam zu der Überzeugung, dass es vor allem das „relativ hohe Mass von Gespaltenheit des Ich oder des Bewusstseins“ ist, das einen Grossteil der Menschheit in der heutigen Phase der Zivilisation prägt. Sie kommt in „solchen Begriffen, wie Über-Ich und Unterbewusstsein“ zum Ausdruck und steht für die spezifische Widersprüchlichkeit, welche die angeblich zivilisierten Gesellschaften auszeichnet. Elias hat sie unter anderem folgendermassen umschrieben:

„Entsprechend dieser wachsenden Teilung des Verhaltens in ein öffentlich erlaubtes und ein öffentlich nicht erlaubtes baut sich auch das psychische Gefüge des Menschen um. Die durch gesellschaftliche Sanktionen gestützten Verbote werden dem Individuum als Selbstzwänge angezüchtet. Der Zwang der Zurückhaltung von Triebäußerungen, die soziogenen Scham, die sie umgibt, werden ihm so zur Gewohnheit gemacht, daß er sich ihrer nicht einmal erwehren kann, wenn er allein, wenn er im intimen Raum ist. In ihm selbst kämpfen die lustversprechenden Triebäußerungen mit den unlustversprechenden Verboten und Einschränkungen, den soziogenen Scham- und Peinlichkeitsempfindungen.“

 

„Die unmittelbare Angst, die der Mensch dem Menschen bereitet, hat abgenommen und im Verhältnis zu ihr steigt nun die durch Auge und Über-Ich vermittelte, die innere Angst.“

 

 

Scham- und Peinlichkeitsgefühle
Tian anmen-Massaker (1989)

Abb. 10) „Volksrepublik China“: Laut Verfassung steht sie „unter der demokratischen Diktatur des Volkes“, tatsächlich aber unter der von Parteiführer Xi Jinping. 1989 forderte die Bevölkerung Reformationen und mehr Demokratie. Das Militär richtete auf Jinpings Befehl hin vor der gesamten internationalen Presse ein Massaker auf dem „Tian’anmen“-Platz (Platz am Tor des himmlischen Friedens) an.

Das selbständig denkende und handelnde Individuum stellt für jede Form der Herrschaft eine Bedrohung dar. Jede Herrschaftsmacht zeichnet sich daher durch die Angstausübung aus, um sein Selbstbild zu beeinflussen und seine gesellschaftliche Abhängigkeit zu fördern. Dazu wird ein negatives Menschenbild kreiert, das die „Vollkommenheit“ des Herrschers hervorhebt und den Beherrschten als „Mangelwesen“ auszeichnet. (Siehe dazu auch den Beitrag über das „Angstsymbol Auge“!)

Der ausserpersönliche Moral- und Verhaltenskodex gibt aber auch vor, wie eine Person zu denken, zu fühlen und sich zu verhalten hat, um doch noch positiv bewertet zu werden. Der dadurch ausgelöste Anpassungsprozess wird nach Elias durch die „Verstärkung der Schamängste“ bewerkstelligt. Die Scham definiert und ihre Auswirkungen beschrieben hat er unter anderem mit den folgenden Worten:

„Das Schamgefühl ist eine spezifische Erregung, eine Art von Angst, die sich automatisch und gewohnheitsmäβig bei bestimmten Anlässen in dem Einzelnen reproduziert. Es ist, oberflächlich betrachtet, eine Angst vor der sozialen Degradierung, oder, allgemeiner gesagt, vor den Überlegenheitsgesten Anderer; … es ist eine Form der Unlust oder Angst, die sich dann herstellt und sich dadurch auszeichnet, daβ der Mensch, der die Unterlegenheit fürchten muβ, diese Gefahr weder unmittelbar durch einen körperlichen Angriff, noch durch irgendeine andere Art des Angriffs abwehren kann. Diese Wehrlosigkeit vor der Überlegenheit Anderer, dieses völlige Ausgeliefertsein an sie stammt nicht unmittelbar aus der Bedrohung durch die physische Überlegenheit Anderer, … obwohl sie ganz gewiβ auf physische Zwänge … zurückgeht.“

Für Norbert Elias bringt der Zivilisationsprozess eine „Strukturwandlung des Seelenhaushalts“ mit sich, die durch das Vorrücken der Scham- und Peinlichkeitsgrenzen gekennzeichnet ist. Der Angepasste opfert einen Teil seiner Gefühls- und Glaubenswelt der Herrschaft, um nicht sozial isoliert zu werden und seine Überlebenschancen zu verschlechtern. Mit dem Perspektivenwechsel einher geht die Verwandlung vom Geängstigten zum Angstauslöser. Denn ist das Denken und Handeln des Menschen erst einmal auf den ausserpersönlichen Moral- und Verhaltenskodex eingestellt, beginnt auch das Abstrafen anderer, die nach aussen nicht angepasst sind oder auch nur so erscheinen. Der Strafe voraus gehen die Peinlichkeitsgefühle, die Norbert Elias folgendermassen definiert hat:

„Sie bilden ein unabtrennbares Gegenstück zu den Schamgefühlen. Wie diese sich herstellen, wenn ein Mensch selbst gegen Verbote des Ich und der Gesellschaft verstößt, so stellen jene sich ein, wenn irgend etwas außerhalb des Einzelnen an dessen Gefahrenzone rührt, an Verhaltensformen, Gegenstände, Neigungen, die frühzeitig von seiner Umgebung mit Angst belegt wurden, bis sich diese Angst – nach Art eines »bedingten Reflexes« – bei analogen Gelegenheiten in ihm automatisch wieder erzeugt. Peinlichkeitsgefühle sind Unlusterregungen oder Ängste, die auftreten, wenn ein anderes Wesen die durch das Über-Ich repräsentierte Verbotsskala der Gesellschaft zu durchbrechen droht oder durchbricht.“

Die Manipulation des Geistes stellt das Fundament des Selbstzwanges dar. Die Gesellschaftsnormen entsprechen oft nicht dem eigenen Empfinden und widersprechen ebenso oft den eigenen Überzeugungen, Bedürfnissen oder dem eigenen Gerechtigkeitsverständnis. Sind „Ich“ und „Über-ich“ nicht deckungsgleich, stehen sie daher auch fortan in einem ständigen inneren Widerstreit. Entschieden wird er durch die Stärke der Scham- und Peinlichkeitsgefühle. Sie rufen die Furcht vor speziellen, strafenden Massnahmen hervor und somit das Gefühl der „Unlust“. Durch ihre Verinnerlichung treten sie letztlich automatisch auf, sobald der Mensch ein unerlaubtes Bedürfnis verspürt oder einem verbotenen Trieb folgt. Dazu Elias:

„Er (Mensch) steht sich gewissermaßen selbst gegenüber. Er »verbirgt seine Passionen«, er »verleugnet sein Herz«, er »handelt gegen sein Gefühl«. Die augenblickliche Lust oder Neigung wird in Voraussicht der Unlust, die kommen wird, wenn man ihr nachgibt, zurückgehalten; … Die momentane Trieb- und Affektregung wird gewissermaßen durch die Angst vor der kommenden Unlust überdeckt und bewältigt, bis diese Angst sich schließlich gewohnheitsmäßig den verbotenen Verhaltensweisen und Neigungen entgegenstemmt, selbst wenn gar keine andere Person mehr unmittelbar gegenwärtig ist, die sie erzeugt; und die Energien solcher Neigungen werden in eine ungefährliche, durch keine Unlust bedrohte Richtung gelenkt.“

Die „Scham- und Peinlichkeitsschwelle“ rückte mit der Verhöflichung des Adels seit dem 16. Jahrhundert allmählich aber kontinuierlich vor. Ersichtlich wird der soziale Prozesswandel laut Elias vor allem daran, dass seine Angehörigen damit begangen, die Angstvorstellungen des Königs rational zu rechtfertigen und sie von sich aus mit Scham- und Peinlichkeitsgefühlen zu belegen. Der Bumerang-Effekt zeigte sich schliesslich auch hier, begann doch die Hofgesellschaft dem allgemeinverbindlichen Moral- und Verhaltenskatalog neue Verbote und Vorschriften hinzuzufügen. Da sie jedoch in erster Linie damit beschäftigt waren, mit Hilfe des Kodex’ Druck auf Gleichgestellte oder sozial Niedrigstehende auszuüben, erfuhr letztlich der wahre Urheber der Ängste und der Gewalt (also der Monarch) eine Anonymisierung. Dazu Elias:

„Es ist die Zeit, in der die Abhängigkeitsketten, die sich in dem Einzelnen kreuzen, dichter und länger werden, die Zeit, in der immer mehr Menschen immer enger aneinander gebunden sind und der Zwang zur Selbstkontrolle wächst. Wie die wechselseitige Abhängigkeit, so wird auch die wechselseitige Beobachtung der Menschen stärker; die Sensibilität und dementsprechend die Verbote werden differenzierter und differenzierter, … vielfältiger wird gemäß der anderen Art des Zusammenlebens auch das, worüber man sich schämen muß, das, was man an Anderen als peinlich empfindet.“

 

„Der Konflikt, der sich in Scham-Angst äußert, ist nicht nur ein Konflikt des Individuums mit der herrschenden, gesellschaftlichen Meinung, sondern ein Konflikt, in den sein Verhalten das Individuum mit dem Teil seines Selbst gebracht hat, der diese gesellschaftliche Meinung repräsentiert; es ist ein Konflikt seines eigenen Seelenhaushalts; er selbst erkennt sich als unterlegen an. Er fürchtet den Verlust der Liebe oder Achtung von Anderen, an deren Liebe und Achtung ihm liegt oder gelegen war. Deren Haltung hat sich in ihm zu einer Haltung verfestigt, die er automatisch sich selbst gegenüber einnimmt. Das ist es, was ihn gegenüber den Überlegenheitsgesten Anderer, die in irgendeiner Hinsicht diesen Automatismus in ihm selbst aktualisieren, so wehrlos macht. Und so erklärt es sich also auch, daß die Angst vor der Übertretung gesellschaftlicher Verbote um so stärker und ausgesprochener den Charakter der Scham erhält, je stärker durch den Aufbau der Gesellschaft Fremdzwänge in Selbstzwänge umgewandelt werden, und je umfassender, je differenzierter der Ring der Selbstzwänge wird, der sich um das Verhalten des Menschen legt. Die innere Spannung, die Erregung, die sich einstellt, wenn immer der Mensch sich dazu gedrängt fühlt, diesen Ring an irgendeiner Stelle zu durchbrechen, oder wenn er ihn durchbrochen hat, ist je nach der Schwere des gesellschaftlichen Verbots und des Selbstzwangs verschieden groß.“

 

 

Zwangserziehung
Emmanuel Macron

Abb. 11) In der „Französische Republik“ ist Emmanuel Macron der „erste Mann“. Die direkte Demokratie lehnt er ab, da er seine Landsleute für zu gewalttätig hält. 2019 führte er den „Universellen Nationaldienst“ ein, der jungen Franzosen zwischen 16-25 Jahren zum militärisch-zivilen Dienst verpflichtet. In den Schulen wiederum wurde 2021 per Erlass die geschlechtsneutrale Subjektbezeichnung (z.B. Lehrer) wieder eingeführt, da die Schüler angeblich mit der Punkteinteilung überfordert sind, welche die weibliche Form miteinbezieht (Im Deutschen mit einem Stern anstatt Punkt versehen – Lehrer*innen; früher: Lehrer/innen).

Dem Menschen wird, kaum ist er geboren, ein falsches bzw. künstliches Selbstbild übergestülpt, indem er zur Selbst- und Bedürfnisverleugnung erzogen wird. Es basiert stets auf kompromisslosen und unerreichbaren Idealvorstellungen des Menschseins, die das Gefühl der Minderwertigkeit und Nutzlosigkeit aufkommen lassen, entspricht man nicht ihren Anforderungen. Seit jeher wird von der Herrschaft der Kampf gegen die menschliche Natur und die richtige Erziehung als ultimatives Mittel angepriesen, um ihnen gerecht zu werden. Mit Aufkommen „bürgerlicher Schichten“ und somit der „Massenschichten mit relativ vielen, sozial Gleichstehenden“ (Mittelschicht), „wird die Familie zur alleinigen oder genauer gesagt zur primären und vorherrschenden Produktionsstätte des Triebverzichts“, die angeblich der gesellschaftlichen Affekt-Regulierung und -modellierung dient, in Wahrheit aber nur die patriarchalisch-herrschaftlichen Strukturen aufrechterhalten soll.

Bei Elias nimmt die Kindererziehung eine besonders wichtige Stellung ein. Eine seiner Hauptthesen besagt, dass „heute, wie ehemals alle Formen der inneren Ängste eines Erwachsenen mit Ängsten des Kindes in Beziehung zu Anderen, mit Ängsten vor äußeren Mächten zusammenhängen.“ Seit dem 16. Jahrhundert wandelten sich die einstigen christlichen „Gotteskinder“ zum ideologisierten „Menschenmaterial“ und den „Humanressourcen“ der regierenden Wirtschaftseliten. Die französischen Monarchen erschufen einen neuen Moral- und Verhaltenskodex, der sich nach ihrem überlegenen Selbstbild, ihren Bedürfnissen und Interessen ausrichtete. Seine Grundsätze sollten mittels der Erziehung auch den Jüngsten eingebläut werden, um das Gefühl der Unterlegenheit zu festigen, aber auch, um das der illusionären Einigkeit aufrecht zu erhalten.

Die Wehrlosigkeitsängste, „die in dem Individuum durch Andere, von denen er abhängig war, und die ihm gegenüber daher ein gewisses Maß von Macht und Überlegenheit hatten, herangezüchtet“ worden sind, prägen es auch als Erwachsenen. Durch die Erziehung wird „die Angst, die wir »Scham« nennen, für die Sicht der Anderen in hohem Maße abgedämpft“, sodass sie nicht mehr unmittelbar in lauten Gesten oder Gefühlsäusserungen zum Ausdruck kommt. Während draussen eine passive Atmosphäre herrscht, tobt im Innern jedoch ein hitziger und gnadenloser Kampf, der keine Entspannung mehr zulässt.

Angstreaktionen und -verhalten sind dem Menschen angeboren und haben sich seit seiner Zeit als Homo sapiens nicht verändert. Was sich jedoch immer wieder ändert sind die Angstvorstellungen. „Die Begründung für die Angst, die man in dem jungen Menschen erweckt, um ihn dem gesellschaftlichen Verhaltensstandard gemäß zur Zurückdrängung seiner Lustäußerung zu zwingen, wechselt im Lauf der Jahrhunderte“ schreibt daher auch Elias. Mittlerweile verändern sich die Ängste jedoch nicht mehr im Verlauf von Jahrzehnten, sondern manchmal über Nacht. Schliesslich sind sie den ständig wechselnden Interessen einzelner Personen oder Gruppen unterworfen, die unaufhörlich neue Unterlegenheitsängste in der Bevölkerung schüren müssen, um auch weiterhin die eigenen Ängste bewältigen zu können. Zwangsausübung und wiederholte Erniedrigungen prägen nach Elias aber nicht nur die Beziehungen zwischen den Menschen, sondern auch zwischen Staaten oder Ethnien.

Weder das Kind noch der spätere Erwachsene sind sich ihrer Gespaltenheit jemals wirklich bewusst. Die aus den Verflechtungszwängen resultierende „Trieb- oder Triebsverzichts-Angst“ bringt es letztlich jedoch mit sich, dass „der Zwang und die Zurückhaltung, die man sich auferlegen muß, und die Angst, die Scham, die Peinlichkeit gegenüber der Übertretung“, nicht mehr als Herrschaftszwänge wahrgenommen werden. Sie präsentieren sich vielmehr in einem neuen Gewand und treten „oft sehr deutlich als gesellschaftlicher Zwang, als Scham, als Angst vor Menschen in Erscheinung“. – Belegt wird der Effekt durch die sogenannte „Sozialphobie“, die heutzutage in den kapitalistischen Ländern die häufigste Angsterkrankung darstellt. Am Beispiel der Kindeserziehung hat Norbert Elias schliesslich auch einen Grossteil seiner Thesen zusammengefasst:

„Die stete Besorgnis von Vater und Mutter, ob ihr Kind den Verhaltensstandard der eigenen oder gar einer höheren Schicht erreichen, ob es das Prestige der Familie aufrechterhalten oder vergrößern, ob es sich in den Ausscheidungskämpfen der eigenen Schicht bewähren werde, Ängste dieser Art umspielen das Kind hier von klein auf, und zwar in den mittleren, in allen aufstiegswilligen Schichten noch weit stärker als in den oberen. Ängste dieser Art haben an der Regelung, der das Kind von klein auf unterworfen wird, an den Verboten, die ihm auferlegt werden, einen erheblichen Anteil. Sie, die auch in den Eltern vielleicht nur zum Teil bewußt, zum Teil vielleicht auch schon selbsttätig spielen, übertragen sich durch Gesten nicht weniger als durch Worte auf das Kind. Sie arbeiten beständig mit an der Bildung jenes Feuerkreises von inneren Ängsten, die Verhalten und Empfinden des Heranwachsenden dauernd in bestimmten Grenzen halten, die ihn etwa an einen bestimmten Standard des Scham- und Peinlichkeitsempfindens oder auch an eine spezifische Sprechweise und spezifische Manieren binden, ob er es will oder nicht. Selbst die Gebote, die dem Geschlechtsleben auferlegt sind, und die automatischen Ängste, die es nun in so hohem Maße einhegen, stammen heute ganz gewiß nicht allein aus der elementaren Notwendigkeit zu einer Regelung und zu einer Balanzierung des Verlangens Vieler, die miteinander leben; sie haben ihren Ursprung ebenfalls zu einem beträchtlichen Teil in dem hohen Spannungsdruck, unter dem die oberen und besonders die mittleren Schichten unserer Gesellschaftsverbände leben; auch sie stehen in engstem Zusammenhang mit der Angst vor dem Verlust der Besitzchancen und des gehobenen Prestiges, vor der gesellschaftlichen Degradierung, vor einer Minderung der Chancen in dem harten Konkurrenzkampf, die durch das Verhalten der Eltern und Erzieher schon früh auf das Kind einwirken. Und wenn auch gewiß zuweilen durch die elterlichen Zwänge und Ängste gerade das herbeigeführt wird, was verhindert werden soll, wenn auch der Heranwachsende durch solche blind gezüchteten Angstautomatismen vielleicht gerade zum erfolgreichen Ausfechten dieser Konkurrenzkämpfe und zur Erlangung, zur Instandhaltung des gehobenen sozialen Prestiges unfähig gemacht wird, wie es auch ausgeht, immer projizieren sich die gesellschaftlichen Spannungen durch die elterlichen Gesten, Verbote und Ängste in das Kind. Der vererbliche Charakter der Monopolchancen und des sozialen Prestiges kommt in der Haltung der Eltern zu ihrem Kinde unmittelbar zum Ausdruck; und das Kind bekommt so die Gefahren, die diesem Charakter und diesem Prestige drohen, es bekommt die gesamten Spannungen seines Menschengeflechts zu spüren, auch wenn es noch nichts von ihnen weiß.“

Besonders erschwert wird die Beziehung zwischen Kind und Eltern/Erwachsenen insbesondere durch den Umstand, dass die Ersteren die „Scham-, Angst-, Peinlichkeits- und Schuldgefühle“ ja zumeist selbst bereits verinnerlicht haben. Ihre Psyche ist bereits in zwei Lager gespalten und ihr Verhalten ebenso widersprüchlich wie ihr Denken. Die kindlichen Emotionen und Gefühlsausbrüche machen es dem Erzieher daher oftmals sehr schwer, seine eigene Angst vor derartigen Affekten zu verarbeiten – oder wie es Elias ausdrückt – „die Scham- und Peinlichkeitsbelastung, die für ihn diese ganze Sphäre umgibt, zu bewältigen.“ Reagiert er dann mit einem Angriffsverhalten, mit Beschimpfungen und Demütigungen, wird es besonders schwierig für das Kind, die Reaktion nachzuvollziehen; aber auch für ihn, falls er sich der Gewaltausübung bewusst wird. Dazu Elias:

„In dieser Situation erklärt der Erwachsene seine Verhaltensforderung nicht. Er kann sie gar nicht zureichend erklären. Er ist so konditioniert, daß er sich mehr oder weniger automatisch dem gesellschaftlichen Standard gemäß verhält. Jedes andere Verhalten, jede Durchbrechung der Verbote oder der Zurückhaltung in der eigenen Gesellschaft bedeutet eine Gefahr und eine Entwertung der Zurückhaltung, die ihm selbst auferlegt ist. Und der eigentümlich emotionale Unterton, der sich oft mit der moralischen Forderung verbindet, die aggressive und bedrohliche Strenge, mit der die moralische Forderung häufig vertreten wird, sie sind Reflexe der Gefahr, in die jede Durchbrechung der Verbote das labile Gleichgewicht aller jener bringt, für die das Standardverhalten der Gesellschaft mehr oder weniger zur »zweiten Natur« geworden ist; sie sind Symptome der Angst, die in ihnen aufsteigt, sowie auch nur von ferne der Aufbau ihres eigenen Triebhaushaltes und mit ihm zugleich ihre eigne soziale Existenz, wie die Ordnung ihres gesellschaftlichen Lebens bedroht sind.“

 

 

Die krankmachende Angst

Der spezifische Aufbau des Beziehungsgeflechts, in dem der Mensch als Kind heranwächst, wird durch den Moral- und Verhaltenskodex bestimmt. Er gibt vor, was dem Standard der Scham- und Peinlichkeitsgefühle entspricht und somit „was »vernünftig« oder »rational« ist“ oder auch als „»krank«, »pathologisch« und »pervers«“ eingestuft wird. Damit stellt er auch die Basis der sozialen Ängste dar, die im Verlaufe des Zivilisationsprozesses vollständig auf den Herrschaftserhalt ausgerichtet worden sind. Das unbewusste Wissen darüber, dass sich das eigene Denken und Handeln gegen einen selbst richtet, die Überlebenschancen verschlechtert und die Lebenserwartung verkürzt, lässt den Organismus unaufhörlich Antriebsenergie produzieren und das Stresspotenzial ansteigen.

Heute werden die Zwänge durch die Ideologie der Konkurrenz- und Leistungsgesellschaft bestimmt, die einzig dem Selbstzweck dient, verfolgt sie doch kein Ziel und kennt nur die Wiederholung. Die Gewalt, die sich der Mensch selbst und anderen anzutun gezwungen ist, sie macht laut Elias den Menschen nicht nur krank, sondern hält auch die natürliche Angst vor der Überwältigung durch andere präsent –, die eigentlich mit der Kollektivbildung und Kultivierung hätte überwunden werden sollen. Dazu Elias:

„In welchen Bewegungen und welchen Gefahren wir leben, weiß man von den Verflechtungszwängen, die ihre Richtung bestimmen … Weit mehr als der einfache Zwang der Zusammenarbeit sind es diese Zwänge, Spannungen und Verstrickungen dieser Art, die heute ständig Ängste in das Leben des Einzelnen werfen. Die Spannungen zwischen den Staaten, die im Zwange des Konkurrenzmechanismus miteinander um die Vormacht über größere Herrschaftsgebiete ringen, äußern sich für die Individuen in ganz bestimmten Versagungen und Restriktionen; sie bringen den einzelnen Menschen einen verstärkten Arbeitsdruck und eine tiefreifende Unsicherheit. Alles das, Entbehrungen, Unruhe und Arbeitslast nicht weniger als die unmittelbare Bedrohtheit des Lebens, zeugt Ängste. Und nicht anders verhält es sich mit den Spannungen innerhalb der verschiedenen Herrschaftseinheiten. Die irregulierbaren, die monopolfreien Konkurrenzkämpfe zwischen den Menschen der gleichen Schicht auf der einen Seite, auf der anderen die Spannungen zwischen verschiedenen Schichten und Gruppen, sie wirken sich ebenfalls für den Einzelnen in einer beständigen Unruhe, in ganz bestimmten Verboten oder Beschränkungen aus; und auch sie zeugen ihrer spezifischen Ängste: Ängste vor der Entlassung, vor dem unberechenbaren Ausgeliefertsein an Mächtigere, vor dem Fall an die Hunger- und Elendsgrenze, wie sie in den unteren Schichten vorherrschen, Ängste vor dem Absinken, vor der Minderung des Besitzes und der Selbständigkeit, vor dem Verlust des gehobenen Prestiges und des gehobenen Standes, die im Leben der mittleren und oberen Schichten eine so große Rolle spielen. Und gerade Ängste dieser Art, Ängste vor dem Verlust des unterscheidenden, des ererbten oder vererblichen Prestiges, gerade sie haben … bis heute an der Gestaltung des herrschenden Verhaltenscodes einen entscheidenden Anteil. Gerade sie neigen überdies … in besonderem Maße zur Verinnerlichung; sie, weit mehr als die Angst vor Elend, Hunger oder unmittelbarer körperlicher Gefahr, verfestigen sich in dem einzelnen Angehörigen solcher Schichten, entsprechend der Art, in der er großgezogen wird, zu inneren Ängsten, die ihn, unter dem Druck eines starken Über-Ich, auch unabhängig von jeder Kontrolle durch andere, automatisch gebunden halten.“

Bundeshaus Bern

Abb. 12) Die Schweiz gilt als besonders demokratisch. Mit der Annahme eines neuen „Terrorgesetzes“ im Juni 2021 hat die Bevölkerung auch ihre politische Entmündigung angenommen und ihre Menschen- und Verfassungsrechte aufgegeben.

Der natürliche Kreislauf der Angst wandelt sich zur Spirale, wenn ein Geängstigter nicht auf den wahren Angstauslöser reagieren kann –, warum man auch gerne von der „Spirale der Gewalt“ spricht. Hier liegt der eigentliche Knackpunkt, warum der Mensch an seiner Angst erkranken kann. Sie kann schliesslich nur durch die Konfrontation mit dem wirklichen Auslöser oder einer erfolgreichen Flucht vor ihm bewältigt werden. Die Wahl eines sogenannten „Ersatzobjekts“, dem die Rolle des Angstauslösers aufgezwungen wird, vermag die Überschussenergie nicht abzubauen, da in seinem Fall die Reizung anhält. Dies hat zur Folge, dass aus einem Geängstigten plötzlich zwei, tausend, eine Million oder mehrere Milliarden werden können. (Mehr Infos dazu im Beitrag zur „Angstenergie“ und „Body-shaming“ und „Angriff oder Flucht“!)

Angst zu durchleben bedeutet aus biologischer Sicht Antriebsenergie zu bündeln, um auf den Auslöser reagieren zu können. Nur durch ein Flucht- oder Angriffsverhalten wird die Überschussenergie auf natürliche Weise freigesetzt und der Mensch vom „inneren Druck“ befreit. In seinen Kopf gepflanzte Angstvorstellungen aber können immer wieder aufs Neue ein körperliches wie auch geistiges Angsterleben auslösen, selbst dann, wenn keine unmittelbare Gefahr für sein Leben besteht. Je nach politischer und wirtschaftlicher Lage ist dies von der Herrschaft auch so gewollt, denn sie will schliesslich diese Angstenergie kanalisieren und für sich nutzbar machen, um eigene Interessen durchzusetzen. Genau diese konstanten Erregungszustände jedoch machen den Menschen physisch und psychisch krank. Dazu Elias:

„Je nach dem inneren Druck, je nach der Lage der Gesellschaft und des Einzelnen in ihr erzeugen sie auch eigentümliche Spannungen und Störungen im Verhalten und Triebleben des Individuums; sie führen unter Umständen zu einer beständigen Unruhe und Unbefriedigtheit des Menschen, eben weil ein Teil seiner Neigungen und Triebe nur noch in verwandelter Form, etwa in der Phantasie, im Zusehen oder Zuhören, im Tag- oder Nachttraum Befriedigung finden kann, und manchmal geht die Gewöhnung an eine Affektdämpfung so weit – beständige Gefühle der Langeweile oder Einsamkeitsempfindungen sind Beispiel dafür – daß dem Einzelnen eine furchtlose Äußerung der verwandelten Affekte eine gradlinige Befriedigung der zurückgedrängten Triebe in keiner Form mehr möglich ist.“

Der Zwang soziale Ängste zu verinnerlichen, die eine persönliche Schädigung oder sogar den eigenen Tod ohne Gegenwehr hinzunehmen verlangen, führt beim Menschen zu einer Spaltung seines „Ichs“ und ebnet dem Selbstzwang den Weg. Er zeigt sich in den nun „automatisch auftretenden Ängsten“, die einer Person schliesslich kaum noch bewusstwerden und ihren Organismus im Zustand des Dauerstress’ gefangen halten. Aus diesem Grunde können die durch die Verflechtungszwänge ausgelösten „Energien nur noch auf Seitenwegen, in Zwangshandlungen und anderen Störungserscheinungen einen unerwünschten Ausweg finden.“

Die Angstenergie aktiviert den Menschen und treibt ihn unaufhörlich an. Wie die Angstvorstellungen, so sind aber auch seine Reaktionen im Verlaufe der Zeit vielseitiger und vielgestaltiger geworden. Daher können in anderen Fällen „diese Energien in unkontrollierbare und einseitige Zu- und Abneigungen strömen“ oder sich in kuriosen Interessen und Vorlieben bemerkbar machen, die einzig der Ablenkung nicht jedoch der Angstbewältigung dienen. Egal, ob der Geängstigte sein Energiepotenzial mit Hilfe anderer Aktivitäten zu entladen versucht, alle diese strategischen Versuche haben wieder die Eigenschaft, die Befürchtungen zu erhöhen, warum Elias anmerkt: „Und hier, wie dort mag eine dauernde, scheinbar unbegründete, innere Unruhe anzeigen, wie viele Triebenergien auf diese Weise in eine Gestalt gebannt sind, die keine wirkliche Befriedigung zulässt.“

Die Angst wandelte sich zum Leit- und Handlungsmotiv der Menschen und zum Kitt, der die Gemeinschaften zusammenhält. Das Verbot, persönliche Gefühlsäusserungen und ein Angstverhalten zu zeigen, kappte die Kommunikation zwischen den Menschen und entfremdete sie voneinander. Wie einst im 16. Jahrhundert nimmt auch der moderne Mensch andere kaum mehr als Mitmenschen wahr, mit denen er gemeinsame Bedürfnisse und Triebe teilt. Für seine Natur muss er sich schämen; alles Natürliche erzeugt Peinlichkeitsgefühle, warum er (unaufhörlich von seiner Angstenergie angetrieben) damit anfängt, alle Reizobjekte und Reizthemen aus dem öffentlichen Raum zu entfernen. – „Aus den Augen“ ist bekanntlich auch „aus dem Sinn“. Am Beispiel der Sexualität hat Elias beschrieben, wie Gefühle und natürliche Verhaltensweisen vermehrt einer zwanghaften Tabuisierung und Ritualisierung unterworfen wurden:

„Auch die Sexualität wird im Prozeß der Zivilisation mehr und mehr hinter die Kulissen des gesellschaftlichen Lebens verlegt und in einer bestimmten Enklave, der Kleinfamilie, gleichsam eingeklammert; ganz entsprechend werden auch im Bewußtsein die Beziehungen zwischen den Geschlechtern eingeklammert, ummauert und »hinter die Kulissen« verlegt. Eine Aura der Peinlichkeit, Ausdruck der soziogenen Angst, umgibt diese Sphären des menschlichen Lebens. Selbst unter Erwachsenen spricht man offiziell nur mit einer gewissen Vorsicht und mit vielen Umschreibungen von ihnen. Und mit den Kindern, besonders mit den Mädchen, spricht man, soweit es irgend geht, überhaupt nicht von so etwas.“ … „Die Sexualität , wie alle anderen natürlichen Funktionen des Menschen, ist eine der Erscheinungen, von denen jeder weiß, und die zum Leben jedes Menschen gehören; man hat gesehen wie sie alle sich allmählich derart mit soziogenen Scham- und Peinlichkeitsgefühlen beladen, daß selbst das bloße Sprechen von ihnen in Gesellschaft durch eine Fülle von Regelungen und Verboten immer stärker eingeengt wird; die Funktionen selbst, wie jede Erinnerung an sie, werden von den Menschen mehr und mehr vor einander verborgen gehalten. Wo das nicht möglich ist – man denke etwa an das Beispiel der Eheschließung, der Hochzeit –, werden Scham, Peinlichkeit, Angst und was immer an Erregungen sich mit diesen Triebkräften des menschlichen Lebens verbindet, durch ein genau ausgearbeitetes, gesellschaftliches Ritual und durch bestimmte verdeckende, den Schamstandard wahrende Sprechformel bewältigt…. Und diese Spaltung wird den Menschen so selbstverständlich, sie wird ihnen dermaßen zur zwingenden Gewohnheit, daß sie ihnen selbst kaum noch zum Bewußtsein kommt.“

 

 

Die Angst der Oberschicht
Charlie Chaplin - Der Grosse Diktator

Abb. 13) Der Sozialkritiker Charlie Chaplin im Film „Der grosse Diktator“ (The Great Dictator) von 1940. Seine Botschaft richtete sich nicht nur gegen die Alleinherrschaft der Faschisten, sondern auch gegen die autoritäre Gewalt der amerikanischen Staaten.

Dass die in der Hierarchie höher Stehenden nicht annähernd unter so vielen Ängsten zu leiden haben, wie jemand aus dem niedrigen oder mittleren Stand, ist kaum überraschend. In der über zweitausendjährigen Angstforschung haben die Philosophen, Universalgelehrten und Wissenschaftler immer wieder festgestellt: Reiche leiden kaum unter unmittelbaren Bedrohungen und demzufolge kaum unter real-natürlichen Ängsten, wie der Angst vor Hunger, Schutz-, Recht- oder Respektlosigkeit. Zwar sind auch sie nicht vor der Angst gefeit, doch ihre Angstvorstellungen sind grundsätzlich auf die Festigung und den Erhalt ihrer Stellung in den höheren Rängen ausgerichtet.

Die Angehörigen der Oberschicht sehen aufgrund ihres – ebenfalls anerzogenen – Glaubens an die eigene Vollkommenheit nicht ein, warum sie ihre eigenen Bedürfnisse und Triebe zum Wohle der Gemeinschaft zügeln sollten. Ihr Überlegenheitsgefühl dominiert alles Denken, warum nach Elias ihr Selbstverständnis besonders widersprüchlich ist. Sie betrachten sich zwar als Verkörperung des „Über-ichs“, geben sie doch den für alle verbindlichen Moral- und Verhaltenskodex vor. Doch offenbart sich ihre eigene Gespaltenheit in „ihrem Unvermögen, diese Forderung an sich selbst zu erfüllen“. Dieser Widerspruch ist es letztlich auch, der ihrem „Affektleben und ihrem Verhalten seinen besonderen Charakter gibt.“ Dazu Elias weiter:

„Der Gedanke an die unteren Schichten hat nicht viel Beunruhigendes für ihn; es verbindet sich mit ihm nicht beständig eine gewisse Angst, und es liegt infolgedessen auch nicht ein gesellschaftliches Verbot im Verkehr der Oberschicht auf allem, was an Unterschichten erinnert. Es erweckt kein Peinlichkeitsgefühl, Unterschichten oder Unterschichtsgebärden zu sehen, sondern ein Gefühl der Verachtung, das unverhüllt, durch keine Zurückhaltung getrübt, durch keine Rücksicht umgeformt oder gedämpft, zum Ausdruck gebracht wird.“

Die Oberschichten zeigen sich in der Öffentlichkeit für gewöhnlich angst- und gewaltlos, doch auch sie brodeln im Innern. Schliesslich werden sie ständig von der Angst vor Macht- und Prestigeverlust gequält. Ihrem Credo nach kann sie nur durch den Reichtum und die soziale Kontrolle besänftigt werden. Die Verlustangst der oberen Schichten ist jedoch eine eigentliche Angst vor der Abhängigkeit. Sie zeigt sich vor allem auf der wirtschaftlichen Ebene, denn „man braucht auch die Menschen; man wünscht die Einbeziehung der anderen Völker in das arbeitsteilige Geflecht des eigenen, des Oberschichtlandes, sei es als Arbeitskräfte, sei es als Verbraucher; das aber zwingt sowohl zu einer gewissen Hebung des Lebensstandards, wie zu einer Züchtung von Selbstzwang- oder Über-Ich-Apparaturen bei den Unterlegenen“

Wie zu Zeiten des Absolutismus sind daher auch die Mitglieder der oberen Schichten ausschliesslich mit der Überwachung der Mittel- und Unterschichten beschäftigt, um sie fortlaufend als „schwächlich“ und „peinlich“ auszuzeichnen beziehungsweise als „gefährlich“ und „kriminell“ einzustufen. Die Funktionserfüllung, zu der auch die Bestrafung der unter ihnen Stehenden gehört, verleiht ihnen erst das Selbstbild, das vom Überlegenheitsgefühl dominiert wird und sie im Glauben bestärkt, wert- und nutzvoller als die Mehrheit zu sein.

Die Aristokraten versuchten ihre Angst vor allem mittels der räumlichen und personellen Abgrenzung zu anderen Schichtangehörigen zu bewältigen – die modernen Oberschichten machten es ihnen nach. Die Distanzierung wandelte sich nach Elias’ daher nicht nur zum Herrschaftsinstrument, sondern auch zum Selbstzweck. Die heutigen Oberschichten leben ein Leben in fast vollständiger Anonymität. Dank ihr besitzen ihre Ersatzopfer für gewöhnlich keine Chance mehr, sie als ihre wahren Angstauslöser zu identifizieren. Heute treten die Höherstehenden fast nur noch in Gestalt von Regierungen, Grosskonzernen und spezialisierten Institutionen auf, die ihre autoritäre Macht in Form der sogenannten „strukturellen Gewalt“ ausüben.

Die strukturelle Gewalt zeichnet sich durch intransparente und komplexe Gesetzesregelungen und eine künstlich aufgeblähte Bürokratie aus. Ihre unübersichtlichen Bearbeitungsprozesse sollen Geschäftigkeit und damit eine rechtmässige Behandlung suggerieren. Die unzähligen Formulare, widersprüchlichen Angaben und die sich ständig wechselnden Vorschriften aber haben vielmehr den Zweck, die rechtlich gebundenen Bürger/innen ins Leere laufen zu lassen. Ihre eigentliche Funktion ist es, die ungerechte Verteilung von Ressourcen, Steuergeldern oder Einkommen zu vertuschen und die Bildungs- und Berufschancen wie auch die Lebenserwartung der Unterlegenen zu beschränken.

 

 

Die Angst der Mittelschicht

Elias’ Interesse galt insbesondere den Günstlingen und Mitläufern, die eine Gewaltherrschaft überhaupt erst möglich machen. Seiner Überzeugung nach handelt es sich bei ihnen in erster Linie um Leute aus dem Bürgertum, den modernen Mittelschichten. Als die Bürgerlichen ihren Siegeszug antraten und dank der Industrialisierung ihre soziale und wirtschaftliche Stellung ausbauen konnten, fand der Selbstzwang Eingang in zahlreiche Stuben. Für Elias stellen die Bürgerlichen sodann auch den Mittelpunkt dar, von dem aus die modernen Verflechtungszwänge und sozialen Ängste eine Verbreitung finden:

„Die bürgerlichen Menschen des 19. Jahrhunderts wurden vor allem anderen durch die Notwendigkeiten eines Berufs bestimmt, der mehr oder weniger geregelte Arbeit und eine hohe Routinisierung der Affekte erforderte. Von dem Beruf her wurde nun die Haltung der Menschen und ihre Beziehung zueinander in erste Linie durchgeformt, hier lag das Zentrum der Zwänge, die die gesellschaftlichen Interdependenzen der Menschen auf den einzelnen Menschen ausübten.“

The Bosses of the Senate

Abb. 14) Reiche Unternehmer und Monopolisten geben die Politik vor: Bild „The Bosses of the Senate“ von J. Ottmann Lith (nach Joseph Keppler) aus dem Jahre 1889.

Die gutbetuchten Bürgerlichen betrachteten sich und die Aristokraten oft als Gleichgesinnte, manchmal sogar als Gleichgestellte, aber immer als deren Stellvertreter. Wie sie üben auch die Mittelständischen heutzutage stellvertretend für die Oberschichten Gewalt aus. Sie sind nach Elias daher auch die grössten Angstverbreiter im Verflechtungsnetz. Ihr Hauptziel ist es schliesslich ebenfalls, die oberen Schichten zu erhalten, denen sie nicht angehören aber angehören wollen. Die negativen Auswirkungen ihres Anpassungsbemühens werden in der modernen Gewaltforschung zumeist unter den Begriffen der „psychischen“ und „emotionellen“ Gewalt behandelt.

Mit ihrer Stellvertreterrolle einher geht das Gefühl der Überlegenheit, das für gewöhnlich nur der Oberschicht vorbehalten ist. Es hält jedoch nur solange an, wie der Mittelständler eine entsprechende Berufsposition besitzt und gutes Geld verdient. Die Angst vor ihrem Verlust lässt ihn daher auch niemals zur Ruhe kommen, warum die Bürgerlichen Elias’ Überzeugung nach der Angstautomatisierung grosser Massen auch den Weg geebnet haben. Erst das Aufkommen „bürgerlicher Schichten, bei denen die Pazifizierung, die gesamte Umsetzung in Selbstzwänge durch die ganze Anlage ihrer gesellschaftlichen Funktionen weit vollkommener und bündiger ist“, brachte eine Welt der Angststörungen, Zwangsneurosen, Phobien und Depression hervor.

Dafür spricht auch die Tatsache, dass die Mittelschicht unter sehr viel mehr Angstvorstellungen leidet, als die Ober- oder Unterschicht. Sie kämpft schliesslich gleich an zwei Fronten. Einerseits sind ihre Angehörigen einem gesellschaftlichen Druck von oben ausgesetzt, von Gruppen also, die grössere Macht, grössere Herrschafts-, Autoritäts- und Prestigechancen besitzen als sie selbst, und andererseits einem Druck von unten, von Gruppen, die ihnen zwar nach Anschauung des Über-ichs an Rang, Autorität und Prestige unterlegen, von denen sie aber ebenfalls abhängig sind. Dazu Elias:

„Zweifrontenschichten … finden sich in Gesellschaften der neueren Zeit oft während längerer Perioden besonders drückenden Zwängen, auch besonders drückenden zivilisatorischen Selbstzwängen ausgesetzt, gerade weil sie unter dem Druck von ständigen Spannungen und häufigen Konflikten an zwei Fronten leben. Die kompensierenden gesellschaftliche Prämien der erstrangigen Schichten, die niemand über sich fühlen und nur den Druck von unten abwehren müssen, sind ihnen versagt. Sie wollen die als negativ empfundenen Seiten der Herrschafts- und der Zivilisationszwänge abstreifen und gleichzeitig die als positiv empfundenen Seiten der eigenen Zivilisiertheit, die ja zu den für sie unentbehrlichen Kennzeichen ihrer Distinguiertheit, ihrer gehobenen sozialen Stellung gehören und zumeist ein Kernstück ihrer sozialen und persönlichen Identität bilden, unangefochten bewahren.“

Elias Überzeugung nach kämpft der Mittelständler auf verlorenem Posten, ist die Oberschicht doch unentwegt darum bemüht, die Konkurrenz schon im Voraus auszuschalten und den Aufstieg in die höheren Ränge zu verhindern. Doch wie ihr Denken und Verhalten so zeigen auch die des Mittelständers grosse Widersprüchlichkeit auf. Zwar bleibt sein Assimilationsbemühen erfolglos, doch das gespaltene „Ich“ lebt in seiner eigenen Welt und definiert auch den „Erfolg“ ganz anders. Man erhebt – wie Elias es ausdrückt – konsequent und selbst bei Misserfolg den „Anspruch etwas zu sein, was man nicht ist“. „Bei den meisten Menschen der aufstiegsbegierigen Schichten führt das Bemühen darum unvermeidlich zu ganz spezifischen Verkümmerungen des Bewußtseins und der Haltung.“

Die Angehörigen der Mittelschicht bemühen sich unentwegt um eine Anpassung an den gesellschaftlichen Moral- und Verhaltenskodex, um sich und anderen die eigene Überlegenheit zu demonstrieren. Wie einst die Bürger passen auch sie ihre Kleidung und Möbel dem Geschmack und Lebensstandard der höher Stehenden an, absolvieren dieselben Erziehungs- und Bildungswege und bleiben nach Elias doch immer nur eine „Imitation“ dieser. Der ewige Drang nach oben führt darüber hinaus „bei den meisten Menschen der aufsteigenden Schicht zu einer sonderbaren Falschheit und Unförmigkeit des Betragens“. Dabei dürfe jedoch nicht vergessen werden, dass hinter diesem Bemühen „eine ganz echte und wahre Notlage ihrer sozialen Existenz steht, das Verlangen, dem Druck, der von oben kommt, und der Unterlegenheit zu entgehen. Und diese Ausprägung des Über-Ichs von der Oberschicht her läßt bei der aufsteigenden Schicht zugleich immer eine ganz spezifische Form von Scham- und Unterlegenheitsgefühlen entstehen.“

Pol Pot

Abb. 15) Saloth Sar (Pol Pot) war vier Jahre lang Diktator in Kambodscha. Er entstammte einer gutsituierten Bauerfamilie und war mit dem Königshaus verbunden – dank Verkauf seiner Cousine und Nichte an den Kronprinzen, der sie als Konkubinen wollte.

Das einstige Bürgertum konnte seine politischen Rechte nur dank seines erarbeiteten Vermögens erkämpfen. Berufskarriere machen und Geld anhäufen ist daher auch für den Mittelständer höchstes Gebot. Nicht nur der Absolutismus richtete sich nach wirtschaftlichen Interessen aus, sondern auch die Demokratie. – Nur der Reichtum kann schliesslich die Herrschaft erhalten. Die heutzutage herrschende Ideologie der Konkurrenz- und Leistungsgesellschaft konnte sich Elias’ Überzeugung nach daher auch nur dank der Mittelständer durchsetzen. Genützt hat es den „nach Höherem“ Strebenden seiner Meinung nach aber nicht, haben sich ihre Überlebenschancen vielmehr verschlechtert. Darüber hinaus hat sich ihre Abhängigkeit zu den oberen Schichten verstärkt, entscheiden diese doch über die Zahl der Arbeitsplätze und die Zulassungskriterien der Berufsausbildungen.

Ohne Anstellung und Einkommen verliert der Mittelständer nicht nur fast augenblicklich seine gesellschaftliche Stellung, sondern zumeist auch seine künstliche Identität. Um ihren Verlust zu verhindern, setzt er sich und andere ständig Zwängen aus und seine Energie zur Gewaltausübung ein. Laut Elias nimmt er dies jedoch nicht mehr wahr. Er arbeitet immer weiter und weiter, selbst dann, wenn „er vielleicht auch ohne diese Arbeit zum Leben genug hat“, weil ihn „der Druck des Konkurrenz-, des Macht- und Prestigekampfes im Geschäft hält, weil sein Beruf, sein gehobener Standard Sinn und Legitimierung seines Lebens darstellt“ und ihm „schließlich dieser beständige Selbstzwang die Arbeit so zur Gewohnheit macht, daß sein Seelenhaushalt etwas von seinem Gleichgewicht verliert, wenn er nicht mehr arbeiten kann.“

Das grosse Dilemma der Mittelständler ist, dass sie sich nicht von „den Zwängen der Vorherrschaft anderer befreien“ können, „ohne ihre eigene Vorherrschaft über andere in Frage zu stellen.“ Im Geiste mag dem Bürger die Symbiose mit den Aristokraten gelungen sein, in der Realität jedoch blieb er ein Nachahmer. Im Gegensatz zur Unterschicht verdrängt er jedoch das Wissen um die eigene Chancenlosigkeit und Bedeutungslosigkeit für die Oberschichten. Er hält hartnäckig an den „unrealen Scheinbildern“ und „utopischen Illusionen“ fest, da er sich „vor dem vollen Bewußtsein des Scheines fürchtet“.

Die Auflösung der Mittelschicht scheint bereits eine beschlossene Sache zu sein, hat doch der Druck auf sie in den letzten Jahrzehnten massiv zugenommen. Tatsächlich existiert sie fast nur noch auf dem Papier und dank fortlaufender Neudefinierung und -verrechtlichung von Einkommensgrenzen, Steuertarifen oder Berufstiteln. Sie ist bereits zum Teil einer geistigen Vorstellungswelt geworden, die sich eine scheinbare Realität zurechtgelegt hat. Bewusst ist dem Mittelständer dies nicht, und auch nicht, dass er eigentlich immer einen Kampf gegen die Unterschichten führt, um sie zwecks Selbstbestätigung als Unterlegene einstufen und das Gefühl der Überlegenheit aufrechterhalten zu können. Elias hat diesen Umstand unter anderem mit folgenden Worten zusammengefasst:

„Er ist sich nicht bewußt, daß die Zwänge, die er und seine Schichtgenossen auf sich lasten fühlen, zugleich auch Zwänge sind, die sie auf sich selbst ausüben, um alle jene Merkmale in sich zu züchten und zu bewahren, denen sie nicht allein um ihrer selbst willen einen Wert beimessen, sondern zum guten Teil auch als Symbolen ihrer gehobenen sozialen Stellung, als Instrumente ihrer sozialen Überlegenheit und Autorität über sozial niedriger Stehende.“

 

 

Die Angst der Unterschicht
Stan Laurel und Oliver Hardy

Abb. 16) Selbst- und Feindbild: Stan Laurel und Oliver Hardy gelten als das berühmteste Komiker-Duo aller Zeiten (1921/26-1951). Für die einen stellen sie das Sinnbild des „kleinen Mannes“ dar, der ständig erfolglos dem grossen Geld nachjagt und nicht nur dumm und tollpatschig, sondern vor allem auch gewalttätig ist. Andere hingegen sahen in ihnen schon immer Identifikationsfiguren, die ihren Alltag in Komik fassen und das Gefühl der Freundschaft vermitteln.

Einst stellten die Bauern das grosse Feindbild der von ihnen abhängigen Herrschaft dar –, das Bürgertum schloss sich der Betrachtungsweise an. Schon bald avancierte es zum gesellschaftlichen Puffer, der den Oberschichten die Angehörigen der Unterschicht im wahrsten Sinne des Wortes „vom Leibe“ halten sollte, wenn nötig auch mit Gewalt. Mit der Industrialisierung kam aber auch die Arbeiterschaft auf. Sie personifizierte der damaligen Anschauung nach zwar die Unterschicht, doch organisierten sich die Industriearbeiter neu in den Gewerkschaften und Parteien, wodurch sie sich zur ernstzunehmenden politischen Konkurrenz wandelten – und kaum an der Macht sozialistische Parteidiktaturen gründeten. Im Gegensatz zu den Ober- und Mittelschichten sowie der Jugend, waren es die Arbeiter, die vor dem Ersten und Zweiten Weltkrieg als Kriegsgegner auftraten. Schliesslich wussten sie sehr genau, wer in den Kriegen kämpfen und für das Vaterland geopfert werden sollte.

Der Ausschluss der Unterschichten aus der gesellschaftlichen Einheit ist dank dem ausserpersönlichen Moral- und Verhaltenskodex bereits ideell vollzogen, und auch körperlich hält man sie auf Distanz. Sie personifizieren der Ideologie nach schliesslich die Unterlegenheit, wodurch letztlich auch ihre physische Vernichtung propagandistisch als Segen für die Gesellschaft ausgelegt werden kann – wurde und wird.

Um die Arbeiterschaft auf den gewünschten politischen Kurs zu bringen und sie als Leistungserbringer und Konsumenten im Wirtschaftssystem einzuspannen, wurde nach den beiden Weltkriegen schliesslich auch ihr Lebensstandard künstlich angehoben. Dies begünstigte natürlich ihre geistige Anpassung an den absolut-autoritären Kodex und seine Strukturen. Die Angehörigen der Unterschicht träumten schon bald vom Aufstieg in die wohlhabendere Mittelschicht, warum bei ihnen ebenfalls die Selbstzwänge zunahmen.

Die Anschauung von der Chancengleichheit verinnerlicht haben vor allem die Bevölkerungen demokratisch geprägter Länder. Sie ist nach Elias jedoch ebenfalls nur eine Illusion. Bereits während der Zeit des Frühkapitalismus, der sich im 12, Jahrhundert in Italien abzeichnete, versuchten die reichen Stadtbürger, Händler und Handwerker jegliche Konkurrenz mittels Verordnungen, Verboten und Gesetzen auszuschalten. Ihre Nachfolger haben nicht damit aufgehört. Den Angehörigen der Unterschichten war es in der Menschheitsgeschichte (fast) nie vergönnt, ihre Überlebenschancen zu verbessern, bleiben sie doch stets – wie er anmerkt – „ohne Chancen zu einem individuellen Aufstieg“. Egal, wie viel Leistung sie erbringen, ihr Schicksal wird seit jeher durch ihre „niedere Geburt“ und dieselben existenziellen Angstvorstellungen bestimmt. Dazu Elias:

„die Zwänge, die auf Unterschichten wirken, sind über große Teile der Geschichte hin Zwänge der unmittelbaren, körperlichen Bedrohung, der Bedrohung mit körperlicher Qual oder mit dem Ausgelöschtwerden durch Schwert, Elend und Hunger.“

Die Angst der Oberschicht ist vor allem eine Angst vor der Abhängigkeit, die schonungslos die tatsächliche Unterlegenheit aufdeckt. Sie nimmt in den „Verflechtungszwängen“ Gestalt an und findet durch die gleichfalls abhängigen „Zweifrontenschichten“ eine Verbreitung. Diejenigen, die am stärksten unter ihrer Gewalt zu leiden haben, sind die Angehörigen der Unterschicht. Im Gegensatz zu den Mittelständern leben sie jedoch – wie die Oberschicht – weit „stärker in ihrer eigenen Welt“ und besitzen auch wie sie einen „größeren Spielraum für Affektentladungen“.

Die in der Hierarchie am niedrigsten Stehenden, deren Gruppe seit Jahrzehnten stetig Zuwachs erhält, muss sich jedoch zuerst einmal Raum schaffen. Und auch ihr stabilisierendes Ventil zur Regelung ihrer Angstenergie hat seinen Preis. Ihre Lebensart und das offene Ausleben von Gefühlen spielen den Ober- und Mittelschichten schliesslich die gewünschten Trümpfe zu, dienen sie ihnen doch wieder als Beweis für deren Minderwertigkeit und Unterlegenheit. Nur aus diesem Grunde werden die Leute der unteren Schichten – wie einst die Bauern – in der politischen, wirtschaftlichen und sozialen Propaganda traditionell als primitive, als rohe, gewaltbereite, anstandslose, dumme und faule Gesellen dargestellt.

Wladimir Putin

Abb. 17) In Russlands „Föderalen Republik“ stellt W. Putin den „ersten Mann“. Politische Oppositionelle werden von ihm regelmässig als „Extremisten“ oder „Terroristen“ eingestuft und kaltgestellt. Zurzeit wird der Kremlgegner Alexej Nawalny als ein solcher eingeschätzt. Er fiel erst einem Nervengift-Anschlag zum Opfer und sitzt jetzt im Gefängnis.

Tatsächlich offenbart sich gerade in diesem bis heute Einfluss nehmenden sozialdarwinistisch geprägtem Feindbild die immens grosse Abhängigkeitsangst der Ober- und Mittelschicht. Ohne die Leistung der Unterschicht gäbe es schliesslich kein reales Überleben und schon gar kein „besseres Leben“ für sie. Aus herrschaftlicher Sicht war und ist diese Furcht vor den Ärmsten und Rechtlosesten natürlich nicht unbegründet, ist ihr Angstpotenzial doch eine völlig unbekannte Grösse, deren Explosionskraft kaum einzuschätzen ist. Die Unterschichtler haben das negative Fremdbild ihrer Schicht zwar akzeptiert, aber weit weniger verinnerlicht. Nach Elias wird den unteren Schichten ihre Bedeutung als Machtfaktor aber immer erst dann wirklich bewusst, wenn das Existenziellste zum eigenen Überleben plötzlich fehlt. (Siehe dazu auch den Beitrag über die „Grosse Furcht“!)

Einst entschieden Bauernaufstände über einen politischen Wechsel in der Geschichte. Nicht wenige von ihnen ebneten am Ende dem Bürgertum ihren Weg an die Macht. Dank Kapitalismus und Globalisierung hat die autoritäre Gewalt nun auch in die Demokratien und andere verwestlichten Länder Eingang gefunden. Nur mit ihrer Hilfe kann auch eine der modernsten Strategien zur elitären Angstbewältigung durchgesetzt werden: der Zwang zur sogenannten „informellen Arbeit“. Die Gruppe derjenigen, die von den Arbeitgebern und Unternehmen für ihre Arbeitsleistung keinen Lohn mehr erhalten, nimmt rapide zu –, während die Zahl an bezahlten Arbeits- und Praktikumsplätzen fortlaufend sinkt. Gemäss einem Bericht der „Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung“ (OEDC) waren 2009 bereits 60% der erwerbstätigen Weltbevölkerung dazu gezwungen, informelle Arbeit zu leisten.

 

 

Das verlorene „Ich“
Mao

Abb. 18) Den blaublütigen Alleinherrschern des 16.-19. Jahrhunderts folgten die parteilichen Diktatoren nach. Hitler, Mussolini und Mao (Bild) entstammten nicht nur alle dem „Kleinbürgertum“ (unterste Schicht des Bürgertums), sie hatten auch unter einer schweren, gewalttätigen Kindheit zu leiden.

Der Mensch ist nicht nur Individuum, er ist auch ein Sozialwesen. Das menschliche Bewusstsein bringt nur dann ein gesundes Selbstbild hervor, wenn es von anderen Menschen als existent wahr- und angenommen wird. Ohne diese sogenannte „Existenzbestätigung“ durch andere, kann der Mensch weder eine individuelle noch eine soziale Identität entwickeln. Besonders eindrücklich beschrieben hat diesen Fakt der britische Schrift- und Selbstdarsteller Oscar Wild (1854-1900), der wegen seiner Homosexualität verurteilt wurde und an der Gefängnishaft zerbrach: „Ich habe stets auf meine eigene Persönlichkeit gebaut – und jetzt weiß ich, daß meine Persönlichkeit nur auf der Fiktion einer gesellschaftlichen Stellung beruhte. Diese Stellung habe ich verloren, und damit mein Ich.“

Der Begriff „Zivilisationsprozess“ umschreibt in erster Linie die Bildung Angst produzierender Gemeinschaften. Aufgrund der gesellschaftlichen Verflechtungszwänge, die aus der wechselseitigen Abhängigkeit resultieren, ist der Mensch dazu gezwungen, persönliche Bedürfnisse zu unterdrücken und Zwänge auf sich und andere auszuüben. Im autoritär geführten Staatswesen wird er aber auch gezwungen, Gefahren und Feinde zu sehen, wo keine sind, und gleichzeitig reale Bedrohungen zu ignorieren. Auch darf er sich nicht gegen Angriffe „von oben“ zur Wehr zu setzen – selbst dann nicht, wenn diese gesundheitsschädigend oder sogar tödlich für ihn sind.

Darüber hinaus muss er jederzeit seinen Anpassungswillen nach aussen demonstrieren und eine Maske der Angst- und Emotionslosigkeit zur Schau stellen. Nur mit ihrer Hilfe kann der Mensch schliesslich der sozialen und autoritären Aufmerksamkeit entgehen. Nur mit ihrer Hilfe kann er seine Mitmenschen über seine wahren Gefühlszustände hinwegtäuschen und die eigene Scham und Hilflosigkeit verbergen. Daher bleiben ihm sowohl seine Mitmenschen als auch sein eigenes „Ich“ fremd. Elias hat das persönliche Drama unter anderem mit den folgenden Worten ausgedrückt:

„Wie er gezwungen ist, hinter dem nach außen verdeckten und beherrschten Verhalten der anderen ihre wahren Motive und Triebkräfte zu suchen, wie er verloren ist, wenn er nicht immer wieder von neuem hinter dem leidenschaftslosen Auftreten der anderen mit ihm um Prestigechancen Konkurrierenden die treibenden Affekte und Interessen aufzudecken vermag, so muß er auch über seine eigene Leidenschaften Bescheid wissen, um sie wirklich kaschieren zu können.“

Ceausescu und Pol Pot (1978)

Abb. 19) Rumäniens „Sozialistische Republik“: Diktator N. Ceausescu, der aus einer Kleinbauer Familie stammte und gelernter Handwerker war, machte aus Rumänien einen Polizeistaat. Bereits zuvor hatten andere eine Königs- und Militärdiktatur im Land errichtet. Am 2.12.1989 rief er den Notstand aus, was eine Volksrevolution auslöste. Drei Tage später wurde er ohne Prozessverfahren durch das Militär hingerichtet. Das Bild zeigt ihn mit Pol Pot bei einem Empfang (1978).

Über seine Leidenschaften und Bedürfnisse Bescheid zu wissen, löst aber zumeist wieder Scham- und Peinlichkeitsgefühle aus – ein Teufelskreis. Er ist es, der Elias’ Meinung nach die Selbstzwänge erhöht, im Menschen immer wieder aufs Neue Antriebsenergie produziert, seine innere Anspannung und Phantasie verstärkt und das Angstpotenzial einer ganzen Gemeinschaft ins Unermessliche ansteigen lassen kann. Selbst mit Hilfe eines „künstlichen Ichs“ kann er die ihm aufgebürdeten Fremdängste schliesslich nicht bewältigen. Gerade seine Identitätslosigkeit ist es aber, die ihn daran hindert, dies zu erkennen. (Auf der Vorstellung vom widersprüchlichen „Ich“ baute auch Emil Coué seine empfehlenswerte Methode zur Angstbewältigung auf. Siehe dazu den Beitrag über die „Selbstbemeisterung“!)

Solange der Zustand des Widerspruchs nicht überwunden wird, kann der Mensch kein gesundes Selbstverständnis entwickeln. Niemals überlebensfähig ist nach Elias Überzeugung daher auch die autoritäre Gewaltherrschaft, die mit Blick auf die Vergangenheit zwar unterschiedliche Formen aufzeigte, aber immer nur für wenige Jahrzehnte oder sogar nur wenige Jahre Bestand hatte. Ihr selbstzerstörerischer Charakter offenbart sich schliesslich schon in ihrer Funktion. Sie dient einzig dem Selbstzweck und trägt mit ihren Ausschlussbestrebungen zur Auflösung einer Gemeinschaft bei. Das Volk, das sich in Angst versetzt um die Geängstigten schart und ihnen als lebendiges Schutzschild gegen die „böse Welt“ und die „bösen Menschen“ dient, verschleisst sich innert kürzester Zeit.

Die absolutistische Alleinherrschaft war schon früh Vorbild für Könige, Kaiser und andere Aristokraten sowie für die bürgerlichen Stadtherren. Im 20. Jahrhundert folgten ihnen die Parteien und ihre totalitären Ideologien nach. Zwar zeigte sich in der Menschheitsgeschichte immer wieder, dass die autoritäre Gewalt in der Selbstzerstörung endet, doch die Idee von ihr lebt nichtsdestotrotz fort. Für Elias kaum verwunderlich, bringt die Kindererziehung immer wieder aufs Neue eine Nachfolgegeneration hervor, die sich wert- und hilflos vorkommt. Die unverstandene Jugend schart sich schliesslich wieder (ebenso) automatisch um selbst geängstigte Persönlichkeiten, die ihnen das Gefühl der Zugehörigkeit vermitteln und ein Überleben in der eigenen Gruppe garantieren. Sie werden in der politischen Propaganda unter anderem „Radikale“, „Extremisten“ oder „Terroristen“ genannt. (Siehe dazu auch den Beitrag über die „RAF“!)

 

„Es gibt Momente, in denen muß man sich entscheiden, ob man sein eigenes Leben leben will, ganz und gar – oder ob man irgendeine platte, verlogene, erniedrigende Existenz forstsetzen will, nur um der Welt in ihrer Heuchelei zu genügen.“

Oscar Wilde (1854-1900)

 

Für den Menschen ist es schwierig geworden ein Sozialwesen zu sein, nachdem alle Mitmenschen zu Konkurrenten erklärt und die Kommunikation eingestellt worden sind. Besonders problematisch wurde es für ihn, als selbst die Heimat, der „Ankerplatz des Ichs“, ihren Stellenwert verlor und er eine sogenannte „Existenzberechtigung“ brauchte, um den Schutz einer Gruppe geniessen zu dürfen. Nach Norbert Elias’ sollte man „die Regelung der Beziehungen von Mensch zu Mensch eher auf jene Gebote und Verbote beschränken, die notwendig sind“. Nur Ängste bzw. Zwänge, die auf das reale Überleben und eine gesunde Selbstentwicklung ausgerichtet sind, sollten durch das Über-ich vermittelt werden. Bleibt der Sinngehalt der Kollektivbildung bestehen, ist immer auch das Weiterbestehen der „Gesellschaft“ garantiert. Solange der Moral- und Verhaltenskodex jedoch auf der Vorstellung von einer abstrakten, unveränderlichen Einheit aufbaut und die autoritäre Gewalt in den Strukturen herrscht, werden Gemeinschaften auch zerbrechen. Ohne eine reale Zusammenarbeit, die Organisatoren und Aufklärer aber keine Herrscher braucht, ist schliesslich auch kein Zivilisationsprozess möglich.

Die Hoffnung, eines Tages in der sozialen Hierarchie aufsteigen und Gewalt ausüben zu können, stellt nach Elias mit Abstand der stärkste Motivator für die angeblich „unterlegenen“ Menschen dar, bestehende politische, wirtschaftliche und soziale Systeme zu erhalten – selbst dann, wenn sie krankmachen und die Lebenserwartung verkürzen. Der philosophische Gedanke von der Alleinherrschaft und Überlegenheit hat – wie Elias detailliert aufzeigt – nicht nur das zwischenmenschliche Verhältnis, sondern auch die Beziehungen zwischen den verschiedenen Staaten und Nationalitäten geprägt. Zwecks Macht- und Statusgewinnung üben auch sie Zwänge aufeinander aus oder stufen andere Bevölkerungen als primitiv, unterlegen und nutzlos ein. Nur auf diesem Wege ist es schliesslich möglich, die Unterlegenheit anderer Völker ideologisch zu begründen, ihre Ausbeutung oder sogar ihre Ermordung politisch zu legitimieren und die eigene Überlegenheit propagandistisch hervorzuheben.

Zivilisiert-Sein bedeutet allgemein gesprochen, den Zustand der kulturellen Vollkommenheit erreicht zu haben. Vor allem aber heisst es, sich von der Tierwelt abgehoben, das „Tier im Menschen“ überwunden zu haben. Die absolut-autoritäre Herrschaftsgewalt, die sich als vollkommen verkauft, führt aber immer wieder das „Recht des Stärkeren“, also das der „Gewalttätigsten“ in seine Normen und Strukturen ein. Die Unterlegenheitsangst, die in einer solchen Atmosphäre besonders gut gedeihen kann, ist daher auch das Fundament, auf dem die Angst vor Macht- und Statusverlust aufbaut. Sie durchzieht heute dank der Leistungs- und Konkurrenzideologie sämtliche Gesellschaftsschichten.

Die Hauptfrage, die sich der Soziologe Norbert Elias zu Beginn seiner Analyse stellte, war: welche Prozesse haben zur Ausbildung der sogenannten „Zivilisation“ im Abendland geführt? Am Ende seiner Untersuchung sieht er jedoch von einem „geführt haben“ ab. Für ihn ist der Zivilisationsprozess weder abgeschlossen noch wirklich vorangekommen. Er hängt dank der absolut-autoritären Ideologie, die global Eingang in die verschiedenen Gesellschaftsstrukturen und Denkgebäude fand, in einer Warteschleife. Solange die sozialen Ängste dem Ausschlussverfahren dienen, Menschen krank machen und Kollektive zerstören, kann seiner Meinung nach von einem „Zivilisiert-Sein“ keine Rede sein. Daher kommt er am Ende seiner Darlegung auch zum Schluss:

„Erst wenn sich diese zwischenstaatlichen und innerstaatlichen Spannungen ausgetragen haben und überwunden sind, werden wir mit besserem Recht von uns sagen können, daß wir zivilisiert sind.“

 

 

Literatur und Zitate: Elias, Norbert: Die höfische Gesellschaft. Untersuchungen zur Soziologie des Königtums und der höfischen Aristokratie. Mit einer Einleitung: Soziologie und Geschichtswissenschaft, Stichting Amsterdam 2002; Ders.: Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische psychogenetische Untersuchungen. Wandlungen des Verhaltens in den weltlichen Oberschichten des Abendlandes, Bd. 1, Amsterdam 1997; Ders.: Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen. Wandlungen der Gesellschaft. Entwurf zu einer Theorie der Zivilisation, Bd. 2. Amsterdam 1997.

Website: OEDC: Rising informal employment will increase poverty (04/2009). URL: http://www.oecd.org/development/risinginformalemploymentwillincreasepoverty.htm. (05/2021).

Bildernachweise: Titelbild) Ehess.fr; Abb. 1) Lv.wikidpedia.org; Abb. 2) Gbg-kaarst.de; Abb. 3) Daumier-register.org; Abb. 4) Chronik-der-mauer-de; Abb. 5) Artifex.ru; Abb. 6) en.wikipedia.org; Abb. 7) Tagesspiegel.de; Abb. 8, 18) Nzz.ch; Abb. 9) De.wikipedia.org; Abb. 10) Luzernerzeitung.ch; Abb. 11, 18-19) Wikipedia.de; Abb. 12) Pinterest.com; Abb. 13) Previval.org; Abb. 14) Senate.gov; Abb. 15) Wissen.de; Abb. 16, 17) Welt.de.

 

By |2022-11-30T07:11:49+00:00Juni 6th, 2021|AnGSt|0 Comments
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