Die Erfindung des „furchtlosen Menschen“ (1/2)

Der griechische Philosoph Xenophanes vertrat wahrscheinlich als erster die Überzeugung, dass nicht die Götter die Menschen erschaffen haben, sondern vielmehr die Menschen die Götter. Die Kritik am Götterglauben, die ein verändertes Weltbild hervorbrachte, mündete schliesslich in der Ausbildung eines neuen Menschenideals: dem von seiner Götter- und Todesangst befreiten „Weisen“. Er stellt noch heute das philosophische Vorbild eines „vollkommenen Menschen“ dar.

 

Kapitel: Vom Mythos zum Logos – Der „furchtlose“ Weise – Eleaten: Götter und Menschen – Heraklit: Weisheit – Sophisten: Erziehung zur Angstlosigkeit und Angstverbreitung – Platon: der tugendhafte Weise – Kyniker: der egoistische Weise

 

Vom Mythos zum Logos
Kosmos

Abb. 1) Die ersten griechischen Philosophen wandten sich der Natur und dem Weltall zu, um den Menschen von seiner Naturfurcht und somit seiner Angst vor den Göttern und seinem Tod zu kurieren. Sie suchten nach dem Urstoff, aus dem die Welt und ihre Dinge bestehen.

Die Epoche des Xenophanes war von Krisen und einem Werteverfall in allen Lebensbereichen geprägt. Die Perserkriege (550-479 v. Chr.) hatten Griechenland fest im Griff. Die Existenz der Götter wurde angesichts der Verwüstung und des Leids zum allerersten Mal in Frage gestellt. Einige Denker wendeten sich vom traditionellen Götterglauben ab und verurteilten ihn als kindliche Schwäche. Die Gläubigen beschimpften sie als armselige Kreaturen, die sich der Angst ergeben haben. Ihr eigener Fokus richtete sich auf den Kosmos, die Natur und den Menschen, für deren Bestehen sie neu rationale Gründe suchten. Heute wird die geistige Neuorientierung jener Zeit als Übergang „vom Mythos zum Logos“ bezeichnet (W. Nestle).

Die ersten Denker beschäftigten sich mit vielen Fragen: Was ist das „Sein“? Was ist „Materie“? Existiert die „Bewegung“ (Veränderlichkeit, Entwicklung) oder ist sie nur eine Täuschung? Besitzt der Mensch die Fähigkeit zur wahren „Erkenntnis“ der Welt, und falls ja, ist es sein „Denken“ oder sind es seine „Sinne“, die ihn dazu befähigen? Nebst vielen weiteren Fragen wird aber auch die „Philosophie“ (unter deren Namen die dazumal bestehenden Wissensgebiete zusammengefasst wurden) selbst einer Untersuchung unterzogen und ihre Aufgabe genauer zu definieren versucht.

In ihren Anfängen wird die Griechische Philosophie, die letztlich in der Römischen aufging, von zwei Grundüberzeugungen dominiert. Der einen nach ist die „Philosophie“ die Wissenschaft von den ersten Ursachen aller Erscheinungen, der anderen nach hat sie den Zweck, das reine Sein jenseits der sichtbaren Dinge zu untersuchen und zu erklären. Diese Neudefinierung hatte zur Folge, dass zukünftig auch zwischen Metaphysik und Physik unterschieden wurde.

Der Übergang vom „Mythos zum Logos“ steht am Beginn der Griechischen Philosophie, deren Anfänge auf etwa 600 v. Chr. datiert wird. Ihre frühste Periode wird heute als die Zeit der „Vorsokratiker“ bezeichnet (ca. 7.-4. Jahrhundert v. Chr.). Unter dem Begriff zusammengefasst wird eine Reihe von Naturphilosophen, die alle danach strebten, den Urstoff zu finden, der die Welt und ihre Dinge hervorbringt und dessen Existenz nicht durch religiöse Vorstellungen erklärt wird.

Herkules (Herakles)

Abb. 2) Überholtes Männerbild: Herkules (Herakles) gilt als Vorbild der „Helden“-Vorstellung. Sein Vater ist der griechische Hauptgott Zeus, seine Mutter eine Sterbliche.

Die Vorsokratiker bemühten sich zuallererst darum, eine neue Lehre vom „Sein“ (Ontologie) zu entwickeln. Sie sollte den Götterglauben ersetzen und die Menschen für immer von ihrer Götter- und Todesfurcht und somit ihrer Naturfurcht befreien. Beherrscht wurde das Denken der griechischen Bevölkerung jedoch noch immer von ihrem Mythos, dessen Entstehungszeit auf das 2. Jahrtausend v. Chr. angesetzt wird. Die einzigen erhaltenen Quellen, die heute über die antike griechische Religion Auskunft geben können, stammen von Hesiod und Homer.

Homer (8. Jh. v. Chr.) beschreibt in seinen Werken „Ilias“ und „Odyssee“ die griechische Götterwelt. Hesiod (um 740-670 v. Chr.) wiederum schildert in seiner „Theogonie“ ihre Entstehung. Während die Götter und Menschen bei Homer noch zweierlei Welten angehören, verschmelzen sie bei Hesiod jedoch zur Einheit. Er setzte nämlich die göttlichen Olympier zum ersten Mal mit dem Menschengeschlecht in eine genealogische Beziehung, indem er die in den Epen genannten Heroen und Heroinnen als die Abkömmlinge von Göttern und Menschen bezeichnet.

Nebst Homers gloriosen und Hesiods geordneter Götterwelt existierten zu jener Zeit jedoch noch ganz andere religiöse Strömungen, die ebenfalls grossen Einfluss auf die Griechische Philosophie nahmen. Sie und ihre Überzeugungen werden heute unter dem Sammelbegriff Mysterienkulte (Eleusinische Mysterien, Dionysoskult, Orphik) zusammengefasst. Die Mysterienkulte, denen schon dazumal etwas “Mysteriöses“ anhing, wurden nicht vom griechischen Götterglauben dominiert. Ihr Glaube ist vielmehr dem Dunkeln und dem Jenseits zugewandt und kennt Begriffe wie „Sünde“, „Busse“ und „Reinigung“.

 

 

Der furchtlose „Weise“
Die Weisen - Platons Akademie

Abb. 3) Die Sieben Weisen. Auf Bildern dargestellt werden sie oft in wechselnden Gruppierungen, die nicht selten mehr als nur sieben Staatsmänner und/oder Gelehrte umfassen. Römisches Mosaik aus Pompeji (1. Jh. n. Chr.).

Die Vorstellung vom „Weisen“ ist uralt – und unter sehr vielen Namen bekannt. Ein hauptsächliches Charakteristikum zeichnet ihn aber immer aus: seine Furchtlosigkeit. Weitgehend abgeschottet von Griechenland entwickelte im 6. Jahrhundert v. Chr. auch Konfuzius (551-479 v. Chr.) in China das Ideal eines angstlosen, gebildeten und edlen „Weisen“. Er sah sich ebenfalls als traditioneller Vermittler uralten Denkens an und mass, wie die griechischen Sophisten auch, der Erziehung eine ganz besondere Bedeutung zu. Wie Epikur wiederum richtete er seine Lehre auf das konkrete Leben der Menschen und ihre praktischen Belange aus.

In der griechischen Tradition galten die Sieben Weisen als Begründer eines erst später philosophisch systematisierten, durchaus praktisch ausgerichteten Denkens und Handelns nach Regeln (7./6. Jh. v. Chr.). Von ihnen sind sinnspruchartige Lebensweisheiten überliefert worden wie „Erkenne dich selbst“, „Masshalten ist das Beste“, „Alles zur rechten Zeit“ oder „Die meisten Menschen sind schlecht“. (Mehr Infos zu den antiken Gelehrten im Beitrag über die „Saturnvorstellung“!).

Die „Weisen“ der Griechen stehen vereint sowohl für den vollkommenen Menschen als auch die Wissenschaft, die er betreibt. Diese standen jedoch nicht immer zur selben Zeit im Mittelpunkt des philosophischen Interesses. Die Geschichte der Griechischen Philosophie, die letztlich in der Römischen aufgeht (Hellenismus), teilt man heute in drei Hauptperioden ein: die Zeit vor Sokrates (Vorsokratiker), die Zeit der Klassischen Philosophie und die der griechisch-römischen Philosophie nach Aristoteles. Gekennzeichnet sind ihre Übergänge durch die Verlagerung des philosophischen Fokus’, der sich im Verlaufe der Zeit immer stärker von Natur und Kosmos weg und hin zu Menschen und Gesellschaft verlegt und damit auf die Ethik.

Die thematischen Schwerpunkte der frühen Griechischen Philosophie umfassten die drei Gebiete Physik (Naturtheorie), Logik und die anfänglich wenig beachtete Ethik. Mit Aufkommen der Sophisten und während der Zeit der Klassischen Philosophie erreichte das griechische Denken seine einzigartige Höhe – und auch die uns bekannten Fachgebiete philosophischer Arbeit wurden ausgebildet: Logik, Metaphysik, Ethik, Natur- und Gesellschaftsphilosophie, Ästhetik und Pädagogik. Von nun an bezeichneten die antiken Historiker die Vorsokratiker als die Begründer der Physik, Sokrates und Platon als die Urheber der Ethik und Aristoteles als den Erfinder der Logik.

Die Auffassung, dass die Angst ausschliesslich Menschen „niederer Geburt“ befällt, war schon zur Zeit der Antike eine allgemein anerkannte Überzeugung und Bestandteil des kulturell verankerten Selbstbilds. Der „Weise“ und seine Beschreibungen stehen für ein Menschideal, das von Beginn an auf den Mann ausgerichtet war – vor allem den vermögenden Mann. Der überwiegende Teil der heute bekannten antiken Philosophen stammte aus angesehenen und oftmals finanziell gut situierten Familien. Die griechische „Philosophie“, welche die „Wissenschaft“ als solche überhaupt erst etablierte, definierte den gebildeten Mann und „Philosophen“ neu als einen über allem stehenden Gelehrten, der dank seiner wissenschaftlichen Kenntnisse von der Natur- und somit der Götter- und Todesangst befreit ist.

 

 

Eleaten: Götter und Menschen
Uranus

Abb. 4) Das Weltbild der Eleaten ist statisch. Sie stellten sich die Welt als das „Eine“ (in Kugelform) vor, das vollkommen und unbeweglich ist. Die Eleaten beschäftigten sich mit der grossen Frage, ob der Mensch überhaupt Erkenntnis erlange könne, und wenn ja, ob es sein Denken oder seine Sinne sind, die ihn dazu befähigen. Ihre Lehre begründete den Monoteismus der christlichen Theologie. Das Bild zeigt den Planeten Uranus.

Die ersten Vorsokratiker haben sich nicht mit dem „Menschen“, sondern mit der Welt und ihren Dingen sowie dem Kosmos auseinandergesetzt. Schliesslich musste erst einmal ein neues „Weltbild“ kreiert werden, auf das die Götter keinen Einfluss nehmen und in das man den „furchtlosen Menschen“ als solches einbetten konnte. Unter dem Begriff „Ontologie“ (Lehre vom Sein) wurden während ihrer Zeit solche Weltvorstellungen diskutiert. Zu den bedeutendsten Gelehrten, die sie letztlich geprägt haben, gehören die Eleaten und Heraklit.

Die Vertreter der Eleatischen Schule haben mit ihrem Weltkonzept nicht nur zur Vorstellung des furchtlosen „Weisen“ beigetragen. Sie haben auch den Begriff „Weisheit“ näher definiert. Die Eleaten unterschieden zwischen dem allein durch das Denken erfassbare „Sein“ und dem von den Sinnen vorgetäuschten „Schein“. Ihr philosophischer Grundsatz, der nur dem Geist (Vernunft, Seele) die Fähigkeit zuspricht, „wahre“ Erkenntnis über die „reale“ Welt erlangen zu können, die Sinne hingegen als Ursache aller Irrtümer festlegt, hat die Wissenschaft revolutioniert und für immer verändert.

Der oben genannte Xenophanes (ca. 580/70- um 470 v. Chr.) ist der frühste Hauptvertreter der Eleatischen Schule, die im 6. Jahrhundert v. Chr. in Süditalien gegründet wurde und eine der ältesten Philosophenschule der griechischen Antike darstellt. Er war sehr wahrscheinlich auch der erste Philosoph, der als nüchterner Logiker gegen die hergebrachte Religion zu Felde zog. Xenophanes stellte nicht die Existenz der Götter, sondern vielmehr die Religion der antiken Griechen in Frage. Er kritisierte vehement die mythologischen Götterbilder, wie sie Homer und Hesiod entworfen hatten. Als besonders anstössig empfand er die populäre Auffassung vom menschenähnlichen Wesen der Götter, die mit Schwächen und Fehlern und überhaupt anthropomorph in den alten Epen beschrieben werden. Ausserdem warf er den Rhapsoden vor, den Göttern menschliche Untugenden anzudichten (Diebstahl, Betrug, Ehebruch usw.) und sie auf diese Weise herabzusetzen.

Xenophanes, Parmenides und Zenon (von Elea) haben die eleatische Lehre entwickelt. Ihre Grundgedanken gingen seit ungefähr Mitte des 6. Jahrhunderts v. Chr. von Xenophanes Lehrmeinung aus. Seiner Lehre nach besteht das Wissen der Menschen aus Vermutungen bzw. Meinungen (gr. doxa). Die Wahrheit ist nicht als solche erkennbar. Es ist jedoch möglich, sich ihr mittels des „Logos“ anzunähern. Bei seinem Nachfolger Parmenides führte dieser Gedanke zur strikten Unterscheidung zwischen der „wahren“, durch die „Sinne“ nicht wahrnehmbaren Welt und der Welt der „Erscheinungen“ (Weg der Meinung).

 

 

Heraklit: Weisheit
Sonne

Abb. 5) Heraklit ging von einer „Vielheit“ der Welt aus. Sein Weltbild ist dynamisch und so auch sein Bild vom Menschen, dem er eine aktive Rolle im Weltgeschehen zuspricht. Seine Überzeugungen beeinflussten sehr viel später die philosophischen Anschauungen des Nihilismus (u.a. A. Schopenhauer, F. Nietzsche). Heraklit, der das Feuer als Urstoff betrachtete, gehört zu den umstrittensten Persönlichkeiten der Philosophiegeschichte.

Das Wort Logos in die Wissenschaft eingeführt und definiert hat Heraklit (um 550/40-480 v. Chr.), der den Beinamen „der Dunkle“ erhielt. Es kann Vieles bedeuten: „Vernunft“, „Aussage“, „vernünftige Rede“, „Prinzip“, „Formel“ oder „Weltgesetz“. Im Gegensatz zu den Eleaten vertrat Heraklit die Überzeugung, dass der Urstoff, der die Welt und alle Dinge hervorbringt, nicht die Luft oder das Wasser, sondern das Feuer sei.

Heraklit blickte aber nicht nur wie seine Vorgänger und Zeitgenossen auf die stoffliche Welt, sondern auch in die Tiefen der menschlichen Seele. „Mich selbst habe ich erforscht!“ lautet ein stolzes Zitat von ihm. Heraklit ist der erste, der in seiner Erkenntnistheorie und Entwicklungslehre den Menschen als Untersuchungsobjekt ins Zentrum des philosophischen Interesses rückt. Darüber hinaus ordnete er den Menschen und sein Verhalten erstmals in einen metaphysischen Sinnzusammenhang ein.

Die Eleaten wie auch Heraklit wandten sich mit ihren Vorstellungen vom griechischen Götterglauben ab. An seine Stelle trat die Seins-Lehre, die alle Erscheinungen in der Natur und im Kosmos rational zu erklären versucht. Die Eleaten gingen von einer „Einheit des Seins“ aus, die sie sich als das Eine, Vollkommene, Unbewegte und Ewige vorstellten. Heraklit hingegen vertrat die Überzeugung, das „Sein“ stelle eine „Vielheit“ dar, die sich erst durch den Kampf der Gegensätze zur Einheit verbindet und vom „Werden“ und „Vergehen“ (Bewegung) bestimmt wird.

Nach Heraklit verbindet der „Kampf der Gegensätze“ (Tag-Nacht, Feuchtigkeit-Trockenheit, Frau-Mann usw.) die Welt zur Einheit. Der wichtigste Kampf stellt für ihn nebst dem Streit aber der Krieg dar, den er als „Vater aller Dinge“ bezeichnet. Die Dinge der Welt werden jedoch seiner Überzeugung nach zu einer Einheit verschmelzen („Aus Allem wird Eins und aus Einem wird Alles“), da die Welt vom „Logos“ regiert wird, der als natürliches Gesetz den Prozess des Wandels vollzieht. Ihn zu erkennen ist Heraklit nach Weisheit.

Heraklit, der heute zu den bedeutendsten griechischen Philosophen gezählt wird, nahm eine eigene aber auch gegensätzliche Position zur Eleatischen Schule und anderen Philosophen seiner Zeit ein. Wie Parmenides aus Elea unterschied aber auch er zwischen dem Sinnfälligen und dem, was dem Denken zugänglich ist. Wahre Weisheit, und da waren sich Heraklit und die Eleaten einig, kann nur durch das Denken im Einklang mit dem „Logos“ erreicht werden.

Heraklits Anschauungen übten einen immensen Einfluss auf die Sophisten, Platon und später auch auf die Stoa (Stoiker) aus, die letztlich das Bild vom „furchtlosen Menschen“ besonders stark geprägt haben. Sein Gedanke von der Einheit der Gegensätze tauchte später unter anderem bei G.W.F. Hegel (1770-1831) wieder auf. Die Ideen seiner Entwicklungslehre und vom ewigen Kampf der Gegensätze wiederum wurden von Ch. Darwin (1809-1882) und F. Nietzsche (1844-1900) sowie H. Spencers (1820-1903), dem Vater des unheilvollen Sozialdarwinismus, aufgegriffen.

Davor wirkte sich Heraklits Welt- und Menschenbild jedoch auf die Ausbildung der christlichen Lehre aus. Auf ihm basieren nämlich die Gott- und Seelenvorstellung des Christentums. Heraklits Verständnis nach hat der Mensch teil am „Logos“, da seine Seele ihm Zugang zu dieser Weltvernunft ermöglicht. Sie ist es, die nach seinem Tode („wie ein Licht, das in der Nacht verlischt“) zurückfällt (ins Feuer und die Vielheit). Der von Heraklit eingeführte Begriff „Logos“ wiederum wandelte sich bei den frühen Kirchenvätern neu zum „göttlichen Wort“ der christlichen Theologie.

 

 

Sophisten: Erziehung zur Angstlosigkeit und Angstverbreitung
Michelangelos David

Abb. 6) Der vollkommene Mensch in der Kunst: Sowohl die griechischen als auch römischen Philosophen waren davon überzeugt, dass es sich bei den Angstlosen und Weisen nur um politisch mächtige und reiche Männer handeln könne. Das Bild zeigt die David-Statue von Michelangelo (16. Jahrhundert).

Die Sophisten sahen ihre Hauptaufgabe in der Erziehung zum politischen Menschen. Er sollte in vollem Umfang der Vorstellung vom „Weisen“ entsprechen, der sich ihrer Überzeugung nach durch seine Angst- und Leidenschaftslosigkeit auszeichnet. Im Mittelpunkt ihres Unterrichts wiederum stand die politisch einflussreiche Redekunst, die Rhetorik. Sie hat den Zweck, den eigenen Standpunkt mittels des stärkeren Arguments (Vermutung, Meinung) durchzusetzen, indem sie die Zuhörer in Angst versetzt.

Hesiod trat vermutlich seit 720 v. Chr. als Rhapsode auf. So wurden die umherziehenden Sänger und Dichter genannt, die öffentlich besondere epische Gedichte vortrugen (vor allem die des Homer und letztlich auch die Hesiods). Sie waren bis ins 5. Jahrhundert v. Chr. die wichtigsten Erhalter und Verbreiter des alten Epos, der den griechischen Mythos beinhaltet. Viele Vorsokratiker waren ebenfalls oft jahrelang als Wanderer in fernen Ländern unterwegs, um ihre philosophischen Erkenntnisse zu erweitern und einem breiten Publikum zu präsentieren.

Zwischen dem 5. und 4. Jahrhundert v. Chr. waren es die Sophisten (gr. sophistai = Lehrer der Weisheit), die umherzogen und ihre Lehrdienste anboten. Zu ihren Hauptvertretern zählen unter anderem Protagoras, Gorgias und Hippias. Sie erteilten gegen nicht gerade geringe Bezahlung Unterricht in praktischer Philosophie, Rhetorik und anderen Fächern der höheren Bildung. Ihre Schüler wiederum waren fast ausschliesslich Sprösslinge vornehmer Familien, die auch politisch engagiert waren.

Die Sophisten zählen zwar zu den Vorsokratikern, doch personifizieren sie ebenso einen Wandel in der Philosophiegeschichte. Ihre Bedeutung liegt unter anderem darin, dass sie den Interessenschwerpunkt von naturphilosophischen, kosmologischen und ontologischen Fragen hin zu ethisch-gesellschaftlichen Fragestellungen verlagert haben. Ihr Ruf war jedoch schon zu ihrer eigenen Zeit ambivalent – und ist es bis heute geblieben. Einerseits, weil sie sich nicht mehr der philosophischen Wahrheitsfindung verpflichtet sahen, und andererseits, weil sich nicht wenige von ihnen auf Kosten der „Philosophie“ bereichert haben.

Die Periode der Sophisten wird auch als die „griechische Aufklärung“ bezeichnet. Die Sophisten habe schliesslich nicht nur zum ersten Mal in der Griechischen Philosophie den Blick von der Natur weg und in vollem Umfang auf den Menschen gelenkt. Sie haben auch die Wissenschaft „Philosophie“ nach Athen gebracht, wo sie der jungen Demokratie (Isonomia) das von ihren Vertretern gewünschte neue Menschenbild lieferten, das die neue Staatsform verlangte. Es hat die Vorstellung des Menschen von sich selbst grundlegend verändert – und seine Angst zum ultimativen Feind erklärt.

Die Sophisten gelten heute als die Träger der antiken Bildungsbewegung. Im Gegensatz zur herrschenden Überzeugung, die Essenz des Menschen (sein „Sein“) wäre bereits bei seiner Geburt vollständig ausgebildet, vertraten sie nämlich die Auffassung, dass der Mensch die Fähigkeit zur Bildung besässe und sich mittels der Wissensaneignung weiterentwickeln könne – wie Heraklit mit seinem ontologischen Konzept vorausgesagt hatte. Die Sophisten waren aber auch die ersten, welche die Erkenntnisse der Vorsokratiker in Frage stellten und als Vermutungen und Meinungen (doxa) abstempelten.

 

 

Platon: der tugendhafte Weise
Antike Wagenrennen

Abb. 7) Die Dreiteilung der Seele nach Vernunft, Mut und Begierde drückt Platon im Bild des Gespanns aus: Die Vernunft entspricht einem Wagenlenker, der Mut einem willigen Pferd, die Begierde einem Widerspenstigen.

Die Sophistik übte einen starken Einfluss auf die nachfolgende Periode der Klassischen Philosophie aus. Zu ihren Hauptvertretern zählen Sokrates, Platon und Aristoteles. Sie haben sich sehr kritisch mit den Sophisten auseinandergesetzt und waren davon überzeugt, dass die sophistische Rhetorik nur dazu befähigen soll, aus Unrecht Recht zu machen – was im Gegensatz zur Aufgabe der „Philosophie“ stehe, die vielmehr die Wahrheit suche, um Weisheit zu erlangen.

Das Denken von Sokrates (um 470-399 v. Chr.) beschäftigte sich nur mit ethischen Fragestellungen. Seine Zeit war nämlich ebenfalls von Unsicherheit geprägt. Werte- und Sittenverfall herrschten, teils infolge der Kritik der herkömmlichen Werte durch die Sophisten, teils auch infolge der gesellschaftlichen und moralischen Zerrüttung, die der Peloponnesische Krieg (431-404 v. Chr.) mit sich gebracht hatte. Mit Sokrates und seinen sophistischen Gegenspielern nahm die Debatte darüber, ob zwischen den Begriffen „Angst“ und „Furcht“ unterschieden werden sollte oder nicht, ihren Anfang. – Die Unterscheidung gewünscht haben sich natürlich die Sophisten. (Mehr Infos über den Peloponnesischen Krieg im Beitrag über „Thukydides“!).

Kritisch gegenüber den Sophisten eingestellt war natürlich auch sein Schüler Platon (428/27-348/47 v. Chr.), aus dessen Dialogen wir überhaupt etwas über Sokrates Denken erfahren. Platon beschäftigte sich in seinen Schriften vor allem mit der politischen Orientierungslosigkeit seiner Zeit, drohte das demokratische Athen doch in die Tyrannis (bereits im Altertum eine rechtlich illegitime Form der Monarchie/Oligarchie) abzugleiten. Besonders erbost hat er sich über die Rhetoriker, die seiner Meinung nach nur die Ängste des Volkes schüren, um sie zu manipulieren und ihre Zustimmung zu erhalten. (Mehr Infos über die Angst in der Demokratie im Beitrag „Montesquieu“!)

Platons Werk wurde sehr stark von Heraklits Lehre beeinflusst. Für Platon besteht das Ziel des irdischen Lebens in der Rückkehr der Seele in ihren Urzustand. Er ist davon überzeugt, dass nur der „Logos“ (Weltvernunft) den Menschen mit seinem Ursprung in Verbindung setzen kann. Die Aufgabe der Vernunft (Seele) ist es daher, weise zu werden. Um seine Gedanken zu veranschaulichen gliederte Platon die Seele in drei Teile und ordnete jeder eine Tugend zu. Die drei Seelenteile fasste er folgendermassen zusammen:

1) Vernunft: das eigentlich Göttliche. Ihre Tugend ist die Weisheit.

2) Mut: das zur Wahrnehmungswelt gehörige (Edlere). Aufgabe des Mutes ist es, der Vernunft zu gehorchen. Seine Tugend ist die Tapferkeit.

3) Begierde: das Wiederstrebende (Niedere). Die Begierde muss sich der Weisung der Vernunft beugen. Ihre Tugend ist die Mässigung.

Platon führte noch eine vierte Tugend auf, die über den anderen drei als oberste Instanz wirkt: die Gerechtigkeit. Alle vier Tugenden zusammen werden bis heute Kardinaltugenden genannt (lat. cardinalis = Angelpunkt).

Wie die Eleaten und Heraklit glaubte auch Platon, dass die sinnliche Welt keine wahre Erkenntnis ermöglicht, sondern nur unsicheres Meinen und Vermuten. Zur Erkenntnis und damit zur Weisheit erlangt der Menschen nach Platon nur durch die Schau der Ideen (Urbilder der Dinge), also durch die rationale Erkenntnis der Welt, sowie durch das Streben nach dem Guten.

Der platonische „Weise“ zeichnet sich nicht nur durch Angstlosigkeit, Wissen, Rechtschaffenheit und eine tugendhafte Lebensweise aus, sondern erfüllt vor allem auch politische und erzieherische Aufgaben. Verdeutlicht hat er diese Überzeugung unter anderem in seinem berühmten „Höhlengleichnis“, wo der zur Erkenntnis gelangte Schauende zwar zuerst überwältigt ist von der Schönheit der „Ideen“, sich jedoch gleich darauf aufmacht, seinen Leidensgenossen über das Geschaute zu informieren. In das Ende des Gleichnisses liess Platon, der über Sokrates’ Verurteilung zum Tode schwer erschüttert war, seine eigene Erfahrung einfliessen – bringen die Getäuschten den zur Erkenntnis Gelangten doch zum Dank um.

Die zunehmende Bedeutung des Denkens und somit des Geistes (Vernunft, Seele) in der Griechischen und schliesslich auch Römischen Philosophie ging mit einer Abwertung des Leiblichen einher. Die „Materie“ wurde in der Griechischen Philosophie von Beginn an negativ bewertet und als Gegensatz des Geistes aufgefasst. Die Leibesfeindlichkeit, die daraus resultierte (und letztlich im Christentum eine besondere Steigerung erfuhr), versuchte Platon mit dem altüberlieferten Glauben an die Seelenwanderung zu überwinden. Nach seiner Überzeugung geht jedoch nur die Seele des „Weisen“ und damit des Furchtlosen und Gebildeten nach seinem Tod wieder ins Reich des göttlich Urgeistigen ein, während alle anderen „Busse“ leisten müssen.

 

 

Kyniker: der egoistische Weise
Diogenes und Alexander

Abb. 8) Diogenes von Sinope und Alexander der Grosse. Diogenes und die Kyniker werden in der Kunst immer mit einem Hund – oder mehreren – abgebildet, um auf ihre Lehre zu verweisen. Vom Begriff „Kynismus“ leitet sich auch das Wort „Zynismus“ her. Das Bild vom Weisen, das die Kyniker ausbildeten, kam der Vorstellung vom Angstlosen am nächsten. Schliesslich hatte dieser – vor allem aufgrund seiner Besitzlosigkeit – nichts, um das er sich ängstigen musste.

Die Akademie (Platon), der Peripatos (Aristoteles), der Garten Epikurs und die Stoa stellten dazumal die vier grossen antiken Philosophenschulen dar. Es gab jedoch noch einige andere Schulen, wie zum Beispiel die der Kyniker, die im 5./4. Jahrhundert v. Chr. gegründet wurde und bis ins 5. Jahrhundert n. Chr. Bestand hatte.

Die Schule der Kyniker wurde von dem Sokrates-Schüler Antisthenes (ca. 455-360 v. Chr.) oder dem Pythagoreer Diodoros von Aspendos (4. Jh. v. Chr.) ins Leben gerufen. Der Name der Schule geht vermutlich auf Diodoros zurück, dem die Zeitgenossen wegen seines schamlos-provozierenden Auftretens den Beinamen „kyon“ (Hund) verliehen haben. Vielleicht leitet er sich aber auch vom Versammlungsort her (Gymnasium Kynosarges), den Antisthenes für den Unterricht nutzte.

Die kynische Lehre betrachtet die Bedürfnislosigkeit als das höchste Gut. Die Kyniker lebten ihr Ideal von einem unabhängigen, alle Kultur- und Besitzwerte verachtenden Dasein öffentlich aus. Sie missachteten die gesellschaftlichen Konventionen und hielten besonders gerne provozierende Reden. Kennzeichnend für den Kynismus ist vor allem die beissende, „zynische“ Kritik an den bestehenden Sitten, Institutionen und religiösen Meinungen.

Mit ihrer Lebenseinstellung kamen die Kyniker dem Idealbild des „furchtlosen Menschen“ zweifellos am nächsten. Sie priesen den Privatbereich, wo sich der Mensch allen gesellschaftlichen Zwängen entziehen und die reine Vernunftfähigkeit ausgelebt werden kann. Das oberste Lebensziel sahen sie im Glück (Wissen), das man ihrer Überzeugung nach durch die Vermeidung von Unglück (Unwissenheit) erlangt. Die Kyniker strebten ein Leben der Selbstverwirklichung an, verstanden als ein Leben nach der Maxime „Zurück zur Natur“. Das unreflektierte Ausleben der Begierden lehnten sie ebenso ab wie die herrschenden Vorstellungen von äusseren Glücksgütern wie Ehre, Reichtum und Gesundheit. Schliesslich muss man sich immer davor fürchten, sie auch wieder zu verlieren.

Etabliert hat sich die Schule der Kyniker erst so richtig mit Diogenes von Sinope (gest. 323 v. Chr.), der eine Tonne sein Zuhause nannte und zum eigentlichen Vorbild des kynischen Lebenswandels geworden ist. Alexander der Grosse, der Schüler des Aristoteles war, soll ihn persönlich in Athen aufgesucht haben. Der Legende nach bot Alexanders ihm an, ihm einen Wunsch zu erfüllen. Doch Diogenes bat ihn nur um eines: „Geh mir ein wenig aus der Sonne.“

 

Hier geht’s zum 2. Teil der Beitragsreihe!

 

Zitate: Capelle, Wilhelm: Die Vorsokratiker. Die Fragmente und Quellenberichte übersetzt und eingeleitet von Wilhelm Capelle, Stuttgart 1968.

Literatur: Brunschwig, Jacques und Lloyd, Geoffrey: Das Wissen der Griechen. Eine Enzyklopädie, München 2000; Cicero: Gespräche in Tusculum, hg. v. Olof Gigon, 7. Auflage, München/Zürich 1998; Epiktet: Handbüchlein der Moral und Unterredungen, hg. v. Heinrich Schmidt, Stuttgart 1973; Epiktet, Teles, Musonius: Ausgewählte Schriften, hg. v. Rainer Nickel, München/Zürich 1994; Epikur: Von der Überwindung der Furcht. Katechismus, Lehrbriefe, Spruchsammlung, Fragmente, hg. v. Manfred Fuhrmann, München 1991; Flashar, Hellmut (Hg. u.a.): Grundriss der Geschichte der Philosophie. Die Philosophie der Antike, Bde. 1-4, Basel 1983 ff; Fuhrmann, Manfred (Hg.): Epiktet – Teles – Musonius: Wege zum Glück, Zürich/München 1987; Gadamer, Hans-Georg: Der Anfang der Philosophie, Stuttgart 1996; Gemelli Marciano, Laura (Hg.): Vorsokratiker, Bde. 1-3, Düsseldorf 2007-2010; Geyer, Carl-Friedrich: Philosophie der Antike. Eine Einführung, 4. Auflage, Darmstadt 1996; Gigon, Olof: Der Ursprung der griechischen Philosophie. Von Hesiod bis Parmenides, Basel und Stuttgart 1968; Gudopp-von Behm, Wolf-Dieter: Thales und die Folgen. Vom Werden des philosophischen Gedankens. Anaximander und Anaximenes, Xenophanes, Parmenides und Heraklit, Würzburg 2015; Horn, Christoph und Rapp, Christof: Wörterbuch der antiken Philosophie, München 2002; Der Kleine Pauly, Lexikon der Antike, hg. v. Konrat Ziegler und Walther Sontheimer, Bde. 1-5, München 1979; Kunzmann, Peter und Burkard, Franz-Peter: Dtv-Atlas, Philosophie, München 2016; Lukrez: Von der Natur (Über die Natur der Dinge), hg. v. Manfred Fuhrmann, München 1991; Mansfeld, Jaap (Hg.): Die Vorsokratiker, Stuttgart 1983; Platon: Die großen Dialoge, hg. v. Manfred Fuhrmann, München 1991; Rapp, Christof: Vorsokratiker, München 2007; Schadewaldt, Wolfgang: Die Anfänge der Philosophie bei den Griechen. Die Vorsokratiker und ihre Voraussetzungen, Frankfurt a.M. 1978; Seneca: Von der Ruhe der Seele und andere Essays, hg. von Manfred Fuhrmann, München 1991; Stapelfeldt, Gerhard: Mythos und Logos: Antike Philosophie von Homer bis Sokrates, Hamburg 2007; Störig, Hans Joachim: Kleine Weltgeschichte der Philosophie, Frankfurt a.M. 1992; Volkmann-Schluck, Karl-Heinz: Die Philosophie der Vorsokratiker. Der Anfang der abendländischen Metaphysik, Würzburg 1992.

Bildernachweise: Titelbild) Pixabay.de (Michelangelo: Schöpfung des Menschen); Abb. 1-2, 4-6) Pixabay.de; Abb. 3) Wikipedia.de; Abb. 7) Pinterest.de; Abb. 8) Bibelwissenschaft.de.

By |2023-11-11T07:31:57+00:00Oktober 23rd, 2020|AnGSt|0 Comments
error: Content is protected !!