Die Angst des Frühmenschen vor dem Hungertod hat eine neue Lebensweise hervorgebracht: die Sesshaftigkeit. Das Aufkommen von grösseren Siedlungen und Städten wiederum hat einstigen Tierkrankheiten den nötigen Nährboden zur Ausbreitung geschaffen. Sie stehen am Anfang der grossen Epidemien, die seit ungefähr 5‘000 Jahren den Menschen in Todesangst versetzen und nun ebenfalls seine Lebenserwartung verkürzen.
Kapitel: Zivilisation und Krankheit – Krankheitsträger „Tier“ – Tod oder Immunisierung – Zeitalter der Seuchen – Evolutionärer Kampf – Künstliche Selektion und ihre Folgen – Globale Immunität
Zivilisation und Krankheit
Unsere frühsten Vorfahren, die in kleinen Verbänden zusammenlebten (ca. 30-40 Personen), mussten sich vor keinen Seuchen fürchten. Epidemien werden schliesslich durch Mikroorganismen ausgelöst, und sie benötigen eine hohe Populationsdichte, um überhaupt ansteckende Krankheiten hervorrufen und sich ausbreiten zu können.
Den nomadisierenden Frühmenschen waren Infektionskrankheiten und Epidemien kaum – wenn überhaupt – bekannt. Sie waren schliesslich ständig auf der Nahrungssuche, warum sie kein Vieh oder andere Haustiere hielten und sich auch nie lange genug an einem Ort aufhielten, wodurch sie Wasserquellen verunreinigt oder genug Schmutz und Dreck angehäuft hätten, die ihrerseits wieder krankheitsverbreitende Insekten anlocken.
Die sogenannte „Neolithische Revolution“, die vor ungefähr 12‘000 Jahren einsetzte und von der modernsten Forschung als Reaktion auf den dazumal allgegenwärtigen Hungertod gewertet wird, änderte jedoch alles. Sie markiert nicht nur den Zeitpunkt, als der Frühmensch seine nomadisierende Lebensweise aufgab und sich zum Ackerbauern und Hirten wandelte, sondern auch den Beginn des sogenannten „Zivilisationsprozesses“ (Elias), der sich durch den Anstieg der Weltbevölkerung, einer Anhäufung von Unrat und zunehmend verunreinigten Wasserreservoirs auszeichnet.
Die Zeit der Neolithischen Revolution, die heute als Startschuss der menschlichen Zivilisation gilt, markiert jedoch nicht nur das Ende einer millionenlangen Lebensweise als Nomaden und den Anfang einer ausgeklügelten Nahrungsmittelherstellung, sondern auch den Beginn einer neuen Bedrohung durch bis dahin unbekannte Krankheiten. Der Engländer Roy Porter (1946-2002), der zu den bedeutendsten Medizinhistorikern unserer Zeit zählt, hat die Folgen des Wandels unter anderem mit den folgenden Worten zusammengefasst:
„Als aus Jägern und Sammlern Hirten und Landwirte wurden, war der Krankheit der Boden bereitet. Sich schnell vermehrende Krankheitserreger, die einst ausschlieβlich Tieren vorbehalten waren, wurden auf Schweine- und Ziegenhirten, Pflüger und Reiter übertragen; damit setzten die endlosen evolutionären Anpassungsvorgänge ein, aufgrund derer der Mensch nicht weniger als 65 durch Mikroorganismen hervorgerufene Krankheiten mit Hunden (angeblich den besten Freunden des Menschen) gemein hat und fast ebenso viele mit Rindern, Schafen, Ziegen, Schweinen, Pferden und Geflügel.“
Dass die Sesshaftigkeit das Aufkommen von Krankheiten und Seuchen begünstigte, lässt sich bereits am Beispiel des Alten Mesopotamiens und Ägyptens nachweisen, wo der Anstieg von Bevölkerung und krankheitsübertragenden Mikroorganismen Hand in Hand ging. Die neue Lebensweise bereitete Insekten, Schädlingen und Parasiten eine einmalige Gelegenheit, sich zu vermehren und auch Nahrungsspeicher mit Bakterien, Pilztoxinen oder Nagerexkrementen zu verseuchen. Dies hatte laut Porter schwerwiegende Auswirkungen auch auf alle späteren Nachkommen, denn die „allgemeine Gesundheit verschlechterte sich; Infektionen wurden immer schlimmer, und die Vitalität der Menschen nahm ab.“
Krankheitsträger „Tier“
Die Vieh- und Haustierhaltung spielt in der Menschheitsgeschichte eine bedeutende aber auch ambivalente Rolle. Sie brachten dem sesshaften Menschen schliesslich nicht nur die Zivilisation, sondern auch durch Insekten und verschiedene Schädlinge verursachte Infektionskrankheiten. Das Aufkommen der Zoonosen, das heisst auf den Menschen übertragbare Tierkrankheiten, führte letztlich sogar zu einem bis heute kaum lösbaren Gesundheitsproblem.
Krisenzeiten sind Angstzeiten, und Menschen schliessen sich nur aus einem Grunde zu Kollektiven zusammen: die gemeinsame Angstabwehr. Auch die Neolithische Revolution ist als eine Angstreaktion zu werten, ging ihr doch eine ökologische Krisenzeit voraus. Verursacht wurde sie durch die Eiszeit, die weite Teile der Erde unfruchtbar und damit unbewohnbar gemacht hatte. Daran änderte sich auch vor ungefähr 20‘000-10‘000 Jahren vorerst nichts, als die Eisdecken abzuschmelzen begannen und der Meeresspiegel anstieg.
Spätestens um 9‘000 v. Chr. jedoch bildeten sich die ersten grösseren Siedlungen im „Fruchtbaren Halbmond“ aus. Der Begriff, der 1938 von dem Ägyptologen James H. Breasted (1865-1935) eingeführt wurde, umschreibt eine fruchtbare Zone, die sich von Mesopotamien über die Oase von Damaskus bis nach Palästina erstreckte und die Trockengebiete Syriens und das Irak umfasste – und heute als wichtigster archäologischer Fundort des 10.-7. Jahrtausends v. Chr. gilt. Da es sich dabei um das (zu damaliger Zeit) niederschlagsreichste Gebiet Vorderasiens handelte, war hier der Ackerbau ohne künstliche Bewässerung überhaupt erst möglich geworden.
Ungefähr um 3‘000 v. Chr. entstanden nicht nur innerhalb dieser Zone, sondern auch in Ägypten, im Industal, am Gelben Fluss und später in Mittelamerika Städte wie das sagenumwobene Babylon. Sie zählten manchmal mehrere Tausend Einwohner, die oftmals Unmengen von Schafen, Schweinen, Ziegen, Hunden, Pferden, Rindern, Meerschweinchen, Enten, Hühnern oder Wildgänsen hielten. Von solchen Ansiedlungen gingen letztlich die verheerenden Krankheitserreger wie unter anderem das besonders tödliche Pockenvirus auf den Menschen über, aber auch andere „zoognostische Krankheiten“ wie die Influenza, Diphtherie, Windpocken oder Mumps. Dazu Porter:
„Viele der schlimmsten Krankheiten des Menschen entstanden durch die Nähe zu Tieren. Rinder steuerten zum Erregerpool die Tuberkulose und Viruskrankheiten wie die Pocken bei. Schweine und Enten bedachten den Menschen mit ihren Grippeerkrankungen, während von Pferden mit den Rhinoviren der gewöhnliche Schnupfen kam. Die Masern, an denen noch immer jährlich etwa eine Millionen Kinder sterben, stehen in enger Beziehung zur Rinderpest (beziehungsweise Hundestaupe), die zwischen Hunden oder Rindern und Menschen hin- und hersprang. Darüber hinaus sind Katzen, Hunde, Enten, Hühner, Mäuse, Ratten und Reptilien Träger von Bakterien wie Salmonella, die beim Menschen oft tödliche Infektionen hervorrufen; mit Tierkot verunreinigtes Wasser verbreitet auβerdem Polio („Kinderlähmung“), Cholera, Typhus, Virushepatitis, Keuchhusten und Diphterie.“
Tod oder Immunisierung
Die Sesshaftigkeit, die sich in erster Linie durch den Eingriff des Menschen auf die Natur auszeichnet, führte zur Ausbildung von Siedlungen und Städten. Hier wurde letztlich auch das Zeitalter der Epidemien eingeläutet. Sie zogen schliesslich nicht nur Menschen und Krankheitserreger an, sondern waren auch diejenigen Orte, wo seit der Neolithischen Revolution und mit zunehmender Populationsdichte viele Tierkrankheiten auf den Menschen übergingen und zu einer drastischen Verkürzung seiner Lebenserwartung beitrugen – und bis heute beitragen. Dazu Porter:
„Bis in das 19. Jahrhundert waren Städte so unhygienisch, dass sich ihre Population nie selbst mittels Fortpflanzung erhalten, sondern sich nur durch den Zustrom der tragischerweise infektionsanfälligen Landbevölkerung vervielfachen konnte. In diesem Prozess von Bedrohung und Verteidigung entwickelten sich die starken Überlebenden der Städte zu einer immunologischen Elite – und zu einer hochinfektiösen Schar, die gefährlich für weniger gestählte Ankömmlinge war und den schlechten Ruf der Städte als Todesfallen bestätigte.“
Auf der anderen Seite führte die Konzentrierung von Mensch und Erreger zur sogenannten „evolutionären Adaptationen“. Das menschliche Immunsystem passte sich den einst tödlichen Infektionskrankheiten an und überwand sie. Auf diese Weise wandelten sich viele ursprünglich epidemische Krankheiten in endemische um:
„Manche Städte, in denen Erreger tödlicher Epidemien so viele töteten oder immunisierten, dass sie selbst mangels Opfern verschwanden, wurden schlieβlich groβ genug, um genügend nicht immune Individuen als dauerhaftes Krankheitsreservoir zu beherbergen – hierfür sind jährlich insgesamt etwa 5000 bis 40 000 Krankheitsfälle notwendig. Masern, Pocken und Windpocken wurden zu Kinderkrankheiten, die bei den Kindern weniger schwer verliefen und eine bleibende Immunität hinterlieβen.“
Zwar bildete sich innerhalb betroffener Bevölkerungen eine gewisse Immunität gegen spezielle krankheitserregende Mikroorganismen aus, doch eben nur innerhalb dieser. Als sich immer mehr Völker dem Zivilisationsprozess anschlossen, kam es unweigerlich zu ihrer Verbreitung. Händler, Seeleute, Invasoren, Soldaten oder auch Missionare bildeten fortan Brücken zwischen unterschiedlichen Erregerpools und übertrugen Krankheiten auf andere Völker, deren Immunsysteme die eingeschleppten Erreger nicht abwehren konnten. Die „überwundenen“ Krankheiten eines Volkes wurden so zur tödlichen Seuche eines anderen, wobei vor allem der Handel und Kriege die pathologischen Explosionen entzündeten.
Die evolutionäre Adaptation führte dazu, dass einige schwere Infektionskrankheiten (waren sie einmal überwunden) bei Erwachsenen und Kindern eine lebenslange Immunität hinterliessen – was natürlich auch die Immunsysteme ihrer Nachkommen stärkte (jedoch nicht schützte, wird sie doch erst nach der Geburt ausgebildet). Nichtsdestotrotz waren die Menschen aber auch zukünftig etlichen schrecklichen und tödlichen Infektionen ausgeliefert, gegen die sie immunologisch schutzlos bleiben sollten. Schliesslich handelt es sich bei den zoognostischen Krankheiten um Tier- und nicht um Menschkrankheiten. Ein besonderes Beispiel ist die Pest, vor allem die Beulenpest. Ihr Erreger (Yersinia pestis), der durch Ratten und Flöhe eine Verbreitung fand, hat der Menschheit ganz besonders zugesetzt.
Zeitalter der Seuchen
Die Frühmenschen fürchteten sich nicht vor tierischen Infektionskrankheiten und Seuchen, waren sie ihnen nicht bekannt. Die Neolithische Revolution aber änderte dies, wie archäologische Funde und ihre medizinische Auswertung zeigen. Erst der antike Geschichtsschreiber Thukydides (um 454/460-396/399 v. Chr.) jedoch hat das Aufkommen einer Epidemie auch schriftlich überliefert.
Thukydides‘ Lebenswerk über den Peloponnesischen Krieg enthält die einzige ausführliche Beschreibung der „Pest“, die 430 v. Chr. in Athen ausbrach und heute zu der schlimmsten Epidemie des Altertums gezählt wird. So heisst es jedenfalls offiziell. Inoffiziell muss man jedoch anfügen, dass bis heute unbekannt ist, um welche Infektionskrankheit es sich dazumal wirklich gehandelt und die Griechen zu Tausenden dahingerafft hat. In der Forschung wird bis heute darüber diskutiert, ob es nicht vielleicht doch die Pocken, die Masern, das Fleckfieber, der Ergotismus (Mutterkornvergiftung) oder die Syphilis gewesen sein könnten. Unumstritten ist nur eines: entweder die Bewohner Attikas starben an der Seuche oder aber sie überwanden und wurden immun gegen sie.
Uns ist heute zwar nur Thukydides Seuchenbericht bekannt. Die Anzahl der Opfer, die weitere Epidemien in anderen Ländern zu jener Zeit gefordert haben (u.a. Ägypten), haben die Hellenen jedoch ebenfalls schriftlich festgehalten. Viele dieser Seuchen fanden letztlich sogar im Alten Testament (Septuaginta, um 3. Jahrhundert v. Chr.) Erwähnung – wobei sie hier natürlich als die Strafe eines erzürnten Gottes interpretiert werden. Die alten Griechen hatten archäologischen Befunden zufolge jedenfalls unter Malaria und wahrscheinlich auch Tuberkulose, Diphtherie und Grippe zu leiden, waren aber (abgesehen von der „Pest“ in Athen) von wirklich katastrophalen Seuchen verschont geblieben. Wirklich verschlimmert haben sich die Zustände erst mit Aufkommen des Römischen Reichs.
Die Römer haben mit ihren Legionen nicht nur den grössten Teil der damaligen bekannten Welt unterworfen, sondern auch im ganzen Reich todbringende Krankheitserreger verbreitet. Durch ihre Eroberungen in fernen Ländern haben sie aber auch unbekannte Erreger aus den entferntesten Winkeln des Reichs nach Italien und in ihre Hauptstadt Rom eingeschleppt. Die erste grosse Epidemie, mit der sie sich auseinandersetzen mussten, war die sogenannte „Antoninische Pest“ (zwischen 165-180 n. Chr.), bei der es sich vermutlich um eine Pockenepidemie gehandelt hat und die Schätzungen zufolge ungefähr fünf Millionen Menschen tötete (was etwa einem Viertel der Bevölkerung in den betroffenen Gebieten entsprach).
Die nächste grosse Seuche erhielt den Namen „Justinianische Pest“ (540 n. Chr.). Sie brach im Oströmischen Reich aus und gilt als erster belegter Ausbruch der Beulenpest (auch Bubonenpest genannt), einer eigentlichen Nagetierkrankheit. Sie befällt den Menschen, wenn infizierte Flöhe nach dem Tod ihres Wirtstieres keine andere lebende Ratte finden, auf die sie sich flüchten können, und stattdessen den Menschen befallen. Die Beulenpest, die zu den gefährlichsten Infektionskrankheiten überhaupt zählt, führte damals bei etwa zwei Dritteln der Infizierten zu einem sehr schnellen Tod.
Nebst der Beulenpest gibt es zwei weitere Pestformen, die noch weit höhere Todesraten aufweisen: die „septikämische Pest“ (oder Pestsepsis) sowie die tödlichste von allen, die Lungenpest (die durch Katzen aber auch direkt durch Tröpfcheninfektion übertragen wird). Im Gewand des sogenannten „Schwarzen Todes“ hat die Beulenpest jedoch die Geschichte Europas ganz besonders geprägt. Unter dem Begriff wird nicht nur der bis dato schwerste Ausbruch einer Epidemie in der Menschheitsgeschichte zusammengefasst, sondern auch die erste Seuche, welche die Bezeichnung einer „Pandemie“ verdient hat.
Der „Schwarze Tod“ wütete zwischen 1300 und 1800 und trat (wie viele Epidemien) in mehreren Wellen auf. Ursprünglich von Asien kommend nahm er seinen Weg über den Nahen Osten nach Nordafrika und von da aus nach Europa, wo er alleine zwischen 1346 und 1350 ungefähr 20 Millionen Menschen das Leben kostete. Hier in Europa hätte die verheerende Beulenpest ihr Ende finden können, doch die Angst vor Macht- und Prestigeverlust und nicht zuletzt die Gier nach Reichtum liessen dies jedoch schon dazumal nicht zu. Eroberungen, Kriege, Armut und erzwungene Wanderungsbewegungen trugen den Pesterreger daher auch immer wieder in andere Länder und führten dort wiederum zum Ausbruch weiterer Epidemien.
Die Verbreitung von Pest und anderen Krankheitserregern besonders unterstützt haben natürlich auch der Seehandel und die Entdeckungsfahrten, die zur selben Zeit ihren Anfang nahmen. Zu ihren Pionieren zählten vor allem die Spanier. Sie läuteten letztlich das Zeitalter einer neuen Epidemie ein: die des sogenannten „Fleckfiebers“ (Typhus exanthematicus), das zwischen dem 15. und 19. Jahrhundert wütete. Sein Erreger, der ursprünglich von angeheuerten Söldnern (die davor auf Zypern gegen die Osmanen gekämpft hatten) nach Spanien eingeschleppt worden war, verbreitete sich von hier aus zuerst nach Frankreich und Italien. Als die Truppen des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation auf dem Balkan gegen die Osmanen (Türken) kämpften, tat sich dem Fleckfieber eine zweite Brücke nach Europa auf. Von hier aus trat es schliesslich seinen Siegeszug in die „Neue Welt“ an, wo es nebst den ebenfalls eingeschleppten Masern und Pocken in Mexiko und Peru die indigene Bevölkerung dahinraffte. Unter Napoleon wiederum fand das Fleckfieber (das von Läusen, Flöhen, Zecken oder Milben übertragen wird) von Frankreich aus schliesslich seinen Weg auch nach Russland.
Evolutionärer Kampf
Ackerbau und Viehzucht begünstigten nicht nur das Bevölkerungswachstum, sondern auch das Entstehen sozialer Hierarchien. Mit ihnen einher ging die zumeist gewaltsame Aneignung von Land und Ressourcen durch einige Wenige. Sie entzogen dem Grossteil der Menschen willkürlich das Recht, Anbau und Zucht aber auch die Jagd betreiben zu dürfen, degradierten sie zu Leibeigenen, Fronarbeitern, Pächtern oder Arbeitern und zwangen ihnen auf diesem Wege die Abhängigkeit auf.
Spätestens ab diesem Zeitpunkt wandelte sich in den ersten grösseren Siedlungen, Städten, Königreichen und ihren Höfen die einstige Angst vor dem Hungertod zur menschengemachten Angst vor sozialer Isolierung. Schliesslich bestimmte fortan die gesellschaftliche Stellung einer Person, ob ihr die nötige Nahrung verweigert wird oder nicht. Die Konzentrierung der politischen und wirtschaftlichen Macht auf diese Orte verdammte am Ende jedoch fast alle Menschen dazu, sich vor allem hier niederzulassen – von den Vermögenden, die dem königlichen, adligen oder grossbürgerlichen Kreis angehören wollten, um ihre Vorherrschaft verteidigen und spezielle Privilegien geniessen zu können, über die Kaufleute und Handwerker, die nur hier erfolgreich ihrem Gewerbe nachgehen konnten, bis hin zu den Bettlern und Arbeitslosen, die nur hier ein Auskommen fanden und ansonsten hätten verhungern müssen.
In Europa wurden insbesondere während des Mittelalters sehr viele Klein- und Grossstädte gegründet, was natürlich wieder eine Zunahme an Krankheitserregern begünstigte und somit auch den Ausbruch gefährlicher Seuchen. Da sie jedoch bereits nach wenigen Jahren „aus allen Nähten“ zu platzten drohten, versuchten ihre Regierungen schon bald mittels strenger Verordnungen den Zustrom armer Zuwanderer zu unterbinden und Bettler zu vertreiben. Spätestens zu dieser Zeit wurde auch die Idee von den Armen als Verursacher von Krankheiten geboren – wie sich auch am Begriff „Bettlerpest“ zeigt.
Bereits dazumal kamen die noch heute weit verbreiteten Überzeugungen auf, dass Krankheiten das Produkt von Gesellschaften und Seuchen das des Fortschritts und somit „menschengemacht“ seien. Schliesslich bieten sich derartige Schuldzuweisungen besonders gut als soziales Ausschlusskriterium an. Die Ergebnisse der Medizingeschichte sprechen jedoch eine ganz andere Sprache. Tatsächlich war und ist der Mensch nie die Ursache von Krankheiten und Epidemien. Er fungiert vielmehr seit jeher als Wirtsträger verschiedener Krankheitserreger. In dieser Form hält er den natürlichen Prozess der evolutionären Adaption am Laufen, die ihrerseits darauf ausgerichtet ist, immunologisch schlechter an die Umwelt Angepasste aus dem Genpool zu „selektieren“. Natur und Evolution streben schliesslich gnadenlos nach Perfektion und nehmen weder auf Ängste noch moralische Grundsätze Rücksicht. Der Medizinhistoriker Roy Porter hat zwei unbequeme Wahrheiten, die diesen Prozess der Anpassung beschreiben, folgendermassen zusammengefasst:
1) „Je weiter sich die Menschen über den Erdball verteilten, desto mehr wurden sie selbst von Schädlingen besiedelt, darunter Parasiten und Krankheitserregern. Da gab es zum einen parasitisch lebende Helminthen (Eingeweidewürmer), Flöhe, Zecken und eine Menge anderer Arthropoden (Gliederfüβer), die Träger von „Arbo“-Infektionserregern sind („Arbo“ steht für arthropodborne). Zum anderen gab es Mikroorganismen, wie Bakterien, Viren und Portozoen. Ihre sehr hohe Reproduktionsrate im Wirtskörper ruft eine schwere Erkrankung hervor; doch wie zum Ausgleich sind die Überlebenden gegen eine erneute Infektion immun. All diese bedrohlichen Krankheiten waren und sind mit dem Menschen im evolutionären Kampf um das survival of the fittest (Überleben des am besten Angepassten) untrennbar verbunden, für den es kein Patentrezept gibt und der dem Menschen keine Privilegien gewährt.“
2) „Handel, Krieg und Weltreiche haben schon immer die Übertragung von Krankheiten zwischen Populationen beschleunigt; ein dramatisches Beispiel dafür liefert das Spanien der frühen Neuzeit. Die kosmopolitischen Spanier wurden Versuchsobjekte eines natürlichen darwinistischen Experiments, denn ihre Häfen an Atlantik und Mittelmeer dienten Scharen von Krankheiten aus Afrika, Asien und Amerika als Umschlagplatz. Um in dieser risikoreichen Umwelt überleben zu können, bedurfte es einer hohen Immunität, die man ausbilden konnte, indem man zahlreiche Kinderkrankheiten überstand – etwa Pocken, Masern, Diphtherie, Magen-Darm-Infektionen und andere Leiden, die in der westlichen Welt heute selten sind. Die spanischen Konquistadoren, die in Amerika einfielen, waren demzufolge immunologische Supermänner und unendlich viel tödlicher als die „Typhoid Mary“; ihre Krankheiten verliehen ihnen eine fatale Überlegenheit gegenüber den schutzlosen einheimischen Populationen, die sie überfielen.“
Typhoid Mary („Typhus-Mary“): Der Fall von Mary Mallon verdeutlicht die neue Auffassung von der Bedrohung durch Immigranten, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts aufkam, aber auch die zunehmende Macht des öffentlichen Gesundheitswesens. Die in Irland geborene Mary Mallon war Köchin und steckte – obwohl selbst völlig gesund – kurz nach 1900 in New York fast 50 Menschen mit Typhus an. Sie wurde festgenommen und auf einer Insel zwangsisoliert. Nach einem Haftprüfungsverfahren erlaubte die Gesundheitsabteilung einige Jahre später ihre Entlassung unter der Bedingung, dass sie fortan als Wäscherin arbeite. Mary hielt sich jedoch nicht an die Vereinbarung und war schon bald wieder (unter einem falschen Namen) als Köchin tätig. Nach einem erneuten Ausbruch der Krankheit und zwei weiteren Toten wurde sie erneut festgenommen und zurück auf die Quarantäneinsel gebracht. Dort wurde sie für den Rest ihres Lebens festgehalten (insgesamt 23 Jahre).
Künstliche Selektion und ihre Folgen
Bereits in den frühsten Epidemie-Berichten werden vier Spezifika immer wieder erwähnt: der allgemeine Sittenverfall, die Zunahme an Verbrechen, die Abstumpfung der Menschen selbst ihren nächsten Familienangehörigen gegenüber und das ungemein grosse Entsetzen darüber, dass der Seuchentod auch vor den Reichen und Gottesfürchtigen keinen Halt macht. Mikroorganismen interessieren sich aber nun einmal weder für das Geschlecht, das Alter oder den Status einer Person noch dafür, ob sie nach den moralisch-religiösen Grundsätzen einer Bevölkerung als „gut“ oder „böse“ eingestuft wird.
Gesellschaften hingegen unterwerfen Kranke und Krankheiten seit jeher einem Werturteil. Die soziale Hierarchisierung, die dem Zivilisationsprozess auf dem Fusse folgte, hat daher auch dazu geführt, dass fortan nicht die biologisch-genetische Veranlagung eines Menschen, sondern vielmehr gesellschaftliche Aspekte (insb. Status, Vermögen, Alter) über seine medizinische Versorgung und damit über sein Überleben oder Sterben entscheiden – wie sich auch an den oben aufgeführten Vorstellungen von Seuchentätern in Gestalt der Armen und Immigranten belegen lässt.
Zur künstlichen Selektion hinzu kam eine „neue“ Art der Hungersnot, die sich mit Aufkommen des Frühkapitalismus im unersättlichen Hunger der „besseren Gesellschaft“ nach immer mehr Konsum (in all seinen Facetten) äusserte. Im Verlaufe der Epochen wurde die Angst vor dem Hungertod durch die Regierungen und Privilegierten zusehends aus den Köpfen der Menschen verdrängt und verschwand aus dem öffentlichen Bewusstsein. Während die Ärmsten unter besonders unhygienischen Verhältnissen und ohne Gesundheitsversorgung ihr Leben fristeten oder sogar auf den Strassen verhungerten, demonstrierten die höheren Schichten durch ein „Sich-Überfressen“ ihren überlegenen Status. Nachvollziehbar ist dies unter anderem an der zunehmenden Einnahme von Verdauungs- und Abführpillen sowie der steigenden Zahl an Einläufen zur Magen- bzw. Darmentleerung seit Ende des 19. Jahrhunderts.
Gleichzeitig nahm jedoch auch die Qualität der Nahrung ab. Besonders immunschwächend auf die Menschen ausgewirkt hat sich die Ausbildung von Monokulturen, deren Geschichte ebenfalls mit der Neolithischen Revolution ihren Anfang nahm. Sie und das neue Konsumverhalten hatten aber schliesslich noch katastrophalere Folgen. Denn gemeinsam tragen sie zur Zerstörung der Naturräume und der allgemeinen Weltressourcen bei, die heutzutage das Überleben der gesamten menschlichen Spezies bedroht. Dazu Porter:
„Die landwirtschaftliche Revolution sicherte die Vorherrschaft des Menschen auf der Erde: Die Wildnis wurde fruchtbar gemacht, aus Wäldern wurden Felder, wilde Tiere wurden gezähmt oder in Schach gehalten; aber die Belastung der Ressourcen deutete bereits das Ungleichgewicht zwischen Produktion und Reproduktion an, das später Krisen verursachte“.
Die Zunahme an “neuen“ Infektionskrankheiten und Seuchen, wie sie vor allem in den letzten Jahrhunderten zu beobachten ist, kann durchaus als ein Versuch der Natur gewertet werden, dieses Ungleichgewicht mit Hilfe der unaufhörlichen und erbarmungslosen evolutionären Adaptation wieder ins Gleichgewicht bringen zu wollen. Wie sie funktioniert und wo ihre „wahre Initiative“ liegt, zeigt sich auch am Beispiel der modernsten Epidemien, die in immer kürzeren Zeitabständen aufzutreten scheinen und sich im Gewand neuer, resistenterer Krankheitserreger zeigen – für die keine Schutzimpfungen zu finden sind. Die menschengemachte Armut, die sich immer durch Mangelernährung und unhygienische Lebensbedingungen auszeichnet, unterstützt diese Entwicklung auf drastische Weise. Dazu Porter:
„Die systematische Verarmung groβer Teile der Dritten Welt, die Einschnitte, die der Zusammenbruch des Kommunismus mit sich brachte, und das Wiederentstehen einer Unterschicht in den Ersten Welt, die aus der Politik der freien Marktwirtschaft seit den achtziger Jahren folgte – all dies hat zum Wiederaufleben von Krankheiten beigetragen. Im März 1997 warnte der Vorsitzende der British Medical Association, Groβbritannien steuere hinsichtlich des öffentlichen Gesundheitswesens wieder auf Verhältnisse wie im 19. Jahrhundert zu. Trotz beeindruckender medizinischer Fortschritte erscheint die Zukunft der Weltgesundheit zu Beginn des 21. Jahrhunderts weitaus düsterer als noch vor 50 Jahren.“
Globale Immunität
Das Aufkommen von Schiffen, Kutschen, Automobilen, Eisenbahnen und Flugzeugen haben dazu geführt, dass die Menschen in den letzten Jahrhunderten selbst die entlegensten Winkel der Erde bereisen konnten. Weite Strecken, für welche die Römer, spanischen Eroberer, einstigen Kaufleute oder christlichen Missionare viele Monate (oder sogar Jahre) benötigt hatten, werden heutzutage innerhalb weniger Stunden zurückgelegt. Diesem Umstand ist es zu verdanken, dass sich viele Mikroorganismen noch rasanter verbreiten konnten, aber auch gegen viele Erkrankungen eine Art „globale Immunität“ ausgebildet hat.
Nichtsdestotrotz erleben nicht nur viele altbekannte, einst als „ausgerottet“ gefeierte Krankheitserreger in den letzten Jahrzehnten immer wieder ein „Revival“, sondern auch ihre Mutationen. Im 19. Jahrhundert beispielsweise machten vor allem Berichte über die hohe Mortalität von Masernepidemien wieder die Runde. Obwohl man über einen aktiven Impfschutz gegen die Masern verfügt, stellen sie auch heutzutage dank der erzwungenen Bevölkerungswanderungen und Zunahme von immer mehr unter der Armutsgrenze lebenden Menschen (denen aufgrund der weltweit beherrschenden Profitmaximierung eine umfassende Gesundheitsversorgung verweigert wird) wieder eine akute Bedrohung dar.
Seit dem 19. und 20. Jahrhundert treten aber tatsächlich auch immer wieder neuartige oder mutierte bzw. der neuen Umwelt angepasste Krankheitserreger in Erscheinung. Im 19. Jahrhundert war es unter anderem die „Cholera“; im 20. Jahrhundert wiederum beherrschte das Thema „AIDS“ die Schlagzeilen und versetzte die Menschen in Angst und Schrecken. Seit Beginn der 1980er Jahre haben sich über 75 Millionen Menschen mit dem HIV-Erreger infiziert, dessen Inkubationszeit mehrere Jahre betragen kann und gegen den es keine aktive Schutzimpfung gibt. Ungefähr ein Viertel der Betroffenen ist seitdem an der ursprünglichen Affenkrankheit gestorben. Ebenfalls Ende des 20. Jahrhunderts kam unter anderem die „Vogelgrippe“ (H5N1) auf, 2002/03 war es das SARS-assoziierte „Coronavirus“ und 2009/10 die „Schweinegrippe“ (H1N1). Heute ist es das „neue“ SARS-CoV2 („neues Coronavirus“), dessen Ausbreitung von der Weltgesundheitsbehörde (WHO) am 11. März 2020 offiziell als Pandemie eingestuft wurde.
Welche eigentlichen Tiererkrankungen und anderen Krankheitserreger die Menschheit in Zukunft noch geisseln werden, ist zwar unbekannt. Mit Blick auf die Geschichte der Epidemien kann man jedoch schon jetzt eines mit Bestimmtheit sagen: das neue Coronavirus, das zurzeit in aller Munde ist, weltweit das öffentliche Leben lahmlegt und die Weltbevölkerung (wie vor über 100 Jahren „Typhus Mary“) in die Isolation zwingt, wird trotz der erschreckend hohen Anzahl an Infizierten und Toten zweifellos weder als der schlimmste noch der tödlichste Erreger in die ca. 5‘000-jährige Geschichte der Epidemien eingehen – gewiss aber als erster, der global eine „fehlgeleitete Angst“ zu verbreiten wusste. Denn zurzeit werden nicht nur die Todesängste der Weltbevölkerung mit dem Schüren politischer, wirtschaftlicher und sozialer Ängste unnötig verstärkt, wodurch das menschliche Immunsystem ganz erheblich geschwächt wird. Auch die umfassende Immunisierung, die durch die erzwungene Quarantäne (vorerst) verunmöglicht wird, spielt einer zukünftigen, zweifelsfrei noch bevorstehenden Seuche in die Hände, deren Krankheitserreger mit grosser Wahrscheinlichkeit noch sehr viel aggressiver und tödlicher sein wird. – Schliesslich unterliegen auch Mikroorganismen dem Naturgesetz der evolutionären Adaption.
Zitate: Porter, Roy: Die Kunst des Heilens. Eine medizinische Geschichte der Menschheit von der Antike bis heute, Heidelberg/Berlin 2000.
Literatur: Kaufmann, Stefan H.E. (u.a. Hg.): Wächst die Seuchengefahr? Globale Epidemien und Armut: Strategien zur Seucheneindämmung in einer vernetzten Welt, Frankfurt a.M. 2008; Mendelsohn, J. Andrew: Von der „Ausrottung“ zum Gleichgewicht. Wie Epidemien nach dem ersten Weltkrieg komplex wurden, in: Strategien der Kausalität. Konzepte der Krankheitsverursachung im 19. und 20. Jahrhundert, hg. von Christoph Grandmann und Thomas Schlich, Pfaffenweiler 1998, S. 227-268; Pfister, Christian: Bevölkerungsgeschichte und historische Demographie 1500-1800. München 1994; Porter, Roy: Die Kunst des Heilens. Eine medizinische Geschichte der Menschheit von der Antike bis heute, Heidelberg/Berlin 2000; Ruffié, Jacques und Sournia, Jean-Charles: Die Seuchen in der Geschichte der Menschheit, 4. Auflage, Stuttgart 2000; Thiessen, Malte (Hg.): Infiziertes Europa. Seuchen im langen 20. Jahrhundert, München 2014; Winkle, Stefan: Kulturgeschichte der Seuchen, Düsseldorf/Zürich 1997; Vasold, Manfred: Pest, Not und schwere Plagen. Seuchen und Epidemien vom Mittelalter bis heute, München 1991; Vögele, Jörg (u.a. Hg.): Epidemien und Pandemien in historischer Perspektive, Wiesbaden 2016.
Bildernachweise: Titelbild (Arnold Böcklin), Abb.) 3-4, 6) Wikipedia.de; Abb. 1) Catacombes.paris.fr; Abb. 2) Geo.de; Abb. 5) Pinterest.de; Abb. 7) Süedkurier.de.