Basel in Angst – Chemiekatastrophe „Schweizerhalle“

Am 1. November 1986 brach im Industriegebiet „Schweizerhalle“ eines der grössten Feuer der Schweiz aus. Während das Ereignis von Seiten des Pharma- und Chemiekonzerns, der Politik und Behörden verharmlost wurde, kämpfte die Bevölkerung mit Todesängsten und gesundheitlichen Problemen. Am Beispiel von Augenzeugenberichten werden die damaligen Geschehnisse nachgezeichnet.

 

Kapitel: Offizielle Darstellung – Die Bevölkerung – Schul- und Arbeitszwang – Dicke Luft – (Keine) Gesundheitsschäden – No Exit – Geprägt fürs Leben – Vorahnung, Zukunftsangst und Verdrängung – Politische „Ohnmacht“ – Volksmacht?

 

Offizielle Darstellung
Brand Schweizerhalle

Abb. 1) Brandbekämpfung „Schweizerhalle“.

Am 1. November 1986, kurz nach Mitternacht, meldeten Fussgänger den Brand in einer Lagerhalle der Firma Sandoz. Eine halbe Stunde später informierte das Polizeikommando Liestal (Basel-Land) die Einsatzzentrale und benachrichtigte die Feuerwehr.

Ein Sprecher auf Radio „Basilisk“ meldete erstmals um 0.50 Uhr, dass in der „Schweizerhalle“ (Industriegelände im basellandschaftlichen Gebiet von Muttenz und Pratteln) ein Feuer ausgebrochen sei. Von 3.40 Uhr an verbreiteten die Radiostationen Alarmmeldungen und Verhaltensanweisungen.

Um 3.43 Uhr ertönten erstmals die Sirenen in Muttenz und rissen die Bevölkerung aus dem Schlaf. Die Leute wurden angewiesen: „Fenster schliessen! Zu Hause bleiben! Radio hören!“ Eine Stunde später entschied der Krisenstab, auch die Bevölkerung in der Grossstadt Basel zu alarmieren.

Nachdem der Brand durch 160 Feuerwehrleute gelöscht werden konnte, gab der Krisenstab um 7 Uhr wieder Entwarnung. Alarm und Ausgangssperre wurden aufgehoben und die öffentlichen Verkehrsbetriebe aufgefordert, ihren Betrieb wieder aufzunehmen. Um 8 Uhr hiess es, die Schulen seien geöffnet und alle Kinder und Jugendlichen müssten zum Unterricht erscheinen.

Zwischen 8 und 8.30 Uhr informierten Polizei, Feuerwehr und die Vertreter der Sandoz an den einberufenen Pressekonferenzen, dass die Lage unter Kontrolle sei und weder Menschen noch Tiere zu Schaden gekommen seien – abgesehen von ein paar Fischen.

 

 

Die Bevölkerung

Die Bevölkerung der Region Basel hat die frühen Morgenstunden des 1. Novembers 1986 weit weniger nüchtern erlebt. Eine unabhängige Expertengruppe, die den Chemieunfall später untersucht hat, fasste ihre Stimmung in den darauffolgenden Tagen folgendermassen zusammen: „Die Katastrophe von Schweizerhalle erfüllt die Bevölkerung der Region Basel mit grosser Sorge. Infolge der widersprüchlichen und teilweise sogar unwahren Aussagen zuständiger Instanzen und der Verantwortlichen der Firma Sandoz ist in der Bevölkerung ein Misstrauen entstanden, das nur durch eine ehrliche und lückenlose Auskunft über das Geschehene abgebaut werden kann.“

Atompilz Schweizerhalle

Abb. 2) Ein „Atompilz“ über der Schweizerhalle versetzte zuerst die Bevölkerung in Muttenz und Pratteln am Morgen des 1. Novembers 1986 in Angst und Schrecken.

Der kantonale Regierungsrat sah sich am 27. November gezwungen, in einer Ausserordentlichen Sitzung Stellung zu nehmen. Er beschrieb die Geschehnisse am frühen Morgen des 1. Novembers mit den Worten: „In keiner Weise unterschätzt werden darf aber auch die psychische Belastung, welche die Brandkatastrophe, verbunden mit starker Geruchseinwirkung und nächtlichem Alarm, für die Menschen dieser Region bewirkt hat. Zum Teil während mehreren Stunden waren Kinder und Erwachsene – eingesperrt in der eigenen Wohnung – ihrer Angst, ja zum Teil Todesangst ausgeliefert.“ Das Statement gab zwar die allgemeine Gemütslage der Bevölkerung wieder, entsprang aber vielmehr dem politischen Kalkül. Es sollte Volksnähe und Verständnis suggerieren, um die Volkswut zu besänftigen.

In einer heute kaum noch bekannten Dokumentation heisst es ebenfalls: „Die häufigste seelische Reaktion auf die Katastrophe war Angst, Todesangst und vor allem Angst um die Angehörigen, um die Kinder. Es folgte oft eine länger anhaltende Phase von Abgeschlagenheit, Depression und Ohnmacht.“ Sie erschien unter dem Titel „Sandoz Katastrophe. Die gesundheitlichen Folgen. Ergebnisse der Umfrage der Aktion Selbstschutz und der Schweizerischen Gesellschaft für ein soziales Gesundheitswesen (SGSG)“. Ihre Auswertung widersprach in manchen Punkten den öffentlichen Stellungsnahmen und wurde (soweit mir bekannt ist) bis heute nicht im Internet zugänglich gemacht.

Der Umfragebericht, der im Juni 1987 in kleiner Auflage erschien (2500 Exemplare), basiert auf 800 ausgefüllten Fragebögen, die zwischen Mitte Dezember 1986 und März 1987 gesammelt wurden. Bei den Befragten handelt es sich um 2/3 Frauen und 1/3 Männer aller Altersklassen. Darüber hinaus beinhaltet die Dokumentation 242 Angaben von Kindern und Jugendlichen. Im Gegensatz zu den offiziellen Umfragen hatten die Betroffenen hier die Möglichkeit, in kurzem Wortlaut mitzuteilen, was jeder Einzelne am 1. November 1986 und in den Folgetagen erlebt hat.

 

 

Alarmierung

„Ich habe den Brand von meinem Wohnzimmerfenster beobachtet und hatte ziemliche Angst. Besonders die deutliche, sichtbare Wolke (die fast einem Atompilz gleichsah) hat mir besonders Angst gemacht. Das schlimmste war die riesengrosse Machtlosigkeit. Man wusste nicht, was bis zum Morgen noch alles geschehen würde.“

„Wir hatten Besuch, sodass wir erst um 3.30 Uhr zu Bett gingen. Nachdem wir zum Lüften das Fenster geöffnet haben, konnten wir den gasigen Geruch wahrnehmen. Schlafen konnten wir aber nicht mehr. Unsere Tochter, welche fest in einem der hinteren Räume schlief, erfüllte uns mit Angst. Besonders nach dem Anruf bei der Feuerwehr. Ich bekam panische Angst, besonders als der widerwärtige Geruch durch die Fenster und Türe durchdrang. Ich begann dann unkontrolliert am ganzen Körper zu zittern und konnte keinen “klaren und vernünftigen“ Gedanken fassen. Dieser Zustand wurde erst besser, als unsere Freunde angerufen haben und wir uns auch damit beschäftigten, andere anzurufen. Bei diesem Horror wache ich oft nachts auf und bin schweissgebadet. Vor dem 1.11. habe ich immer bei offenem Fenster geschlafen. Seither tue ich dies nicht mehr. Ob ich physische Schäden habe, kann ich nicht beurteilen. Psychisch leide ich, habe beklemmende Angstgefühle, die oft völlig unmotiviert scheinen. Bei der Arbeit habe ich z.T. Konzentrationsprobleme, weil ich z.B. besorgt bin, was meine Familie während meiner Abwesenheit alles zustossen kann.“

„Ein paar Minuten vor 4 Uhr erwachte ich durch einen beissenden Gestank und während des Fensterschliessens hörte ich die Sirenen. Am Telefon 117 sagte man mir, es brenne in Schweizerhalle, ich solle Fenster schliessen und Radio hören. … Ich lag halb schlafend, das Radio im Bett am Ohr und wartete. Ca. 4.30 Uhr kam eine Durchsage, wieder kein Hinweis auf Basilisk. Voll Angst wartete ich immer wieder auf eine Durchsage. Irgendwann hörte ich draussen eine Polizeidurchsage. Durch die verschlossenen Fenster, Vorfenster verstand ich nichts. Aufmachen oder was dann? Das Auto in der Einstellhalle, aber wie kommen wir bis dorthin? Würden wir nicht ersticken bis wir dort wären? Würden wir eventuell ersticken in der Wohnung? Die Angst war gross. Um 8.30 Uhr sind wir ins Mitteland zu Verwandten gefahren.“

„Um 4 Uhr morgens habe ich die Sirenen von Muttenz gehört. Habe sofort Fernseher und Radio eingeschaltet, jedoch ohne Erfolg. Musik im Radio, Fernseher stumm. Um 4.20 dann vom Radio Basilisk Durchsage Fenster und Türen schliessen und fast im gleichen Augenblick den penetranten Gestank nach Gas und faulen Eiern. Obwohl wir in einem neueren Haus wohnen, stank die Wohnung wie in einer Gaskammer. Angst und Hilflosigkeit überfielen mich, wieviel Stunden würde es brauchen, bis wir schliesslich ohnmächtig ersticken müssen. Zum Glück war ich nicht ganz allein, mein Mann und mein Sohn erlebten die gleiche Angst. Immer wieder die Meldung aus dem Radio, Sandoz Brand! Zum Glück haben wir nicht gewusst, was alles noch passieren könnte, in welcher Lebensgefahr wir steckten, ich hätte mindestens versucht zu fliehen. … Im Laufe des Tages habe ich dann alles verfolgt im Radio. Von Stunde zu Stunde wurde meine Wut und Empörung grösser und das Vertrauen in die Chemie und Behörde kleiner. Die Namen Moret, Winkler, Fasel etc. bringen mich auf die Palme. Mir war tagelang schlecht, Husten und Schnupfen, Augenentzündung, der ganze Körper verlangte nach Kratzen. Nachts immer die Fenster schliessen, ansonsten ich stundenlang Husten musste. Kopfweh weil mir der Sauerstoff fehlte. Kurzum diese Tage werde ich mein lebenlang nicht mehr vergessen.“

„Ich hatte in den Morgenstunden eigentliche Todesängste, ich dachte: Jetzt ist die Stunde Null gekommen, weil “sie alles im Griff haben“, verrecken wir jetzt jämmerlich. In den folgenden Tagen und Wochen (bis heute) verspüre ich grosse Angst vor unserem “Fortschritt“ und eine ungeheure Wut den verantwortlichen Hampelmännern gegenüber.“

„Ich hatte Angst. Meine erste Frage war: Müssen wir jetzt sterben?“

„Angstzustände, Panik, Herzklopfen, Todesangst um die Kinder, Hilflosigkeitsgefühl, das Gefühl des Ausgeliefertsein.“

„Ich habe in dieser Nacht Angstzustände erlebt wie noch nie in meinem ganzen Leben.“

„Einfach abgeschnitten sein. Wirst von irgendjemand einfach umgebracht. Hast dich damit abzufinden, dass du einfach nicht mehr raus kannst. Das war meine Stimmung. Keine Esswaren im Haus. Angst eigentlich vor der grossen Hysterie der Menschen, der Panik.“

„Die 2 Stunden bis der Alarm aufgehoben wurde, war ein psychischer Terror. Ich stand z.T. Todesängste aus, fühlte mich eingeschlossen und völlig ohnmächtig und hilflos, da mir bewusst war, wenn diese Gase giftig wären, keine Chance auf eine Bergung bestünden, vor allem ohne Gasmasken.“

„Psychisch ging es mir in der Katastrophennacht schwankend zwischen ängstlich, wütend mit Momenten von grosser Angst als das Telefon nicht funktionierte und ich allein mit 2 Kindern im Hause war. Zurückgeblieben ist eine riesengrosse Wut gegen die Chemiebosse und Amtsstellen und eine Empfindlichkeit gegenüber Gerüchen von aussen.“

„Am Morgen des 1.11. hatte ich einen Schock. Ich lebe allein und kenne kaum jemanden. Das Alleinsein war das Schlimmste. Gedanken an den Tod. Würde ich aus der Wohnung hinausgehen in den Keller, falls man uns dazu aufforderte? Wahrscheinlich nicht. Am Abend ging ich in die Stadt und betrank mich sinnlos. Es tat unheimlich gut, unter Leuten zu sein, die das Gleiche erlebt hatten, die darüber sprachen, und von denen ich wusste, dass sie ähnlich denken wie ich.“

 

Die Alarmierung der Bevölkerung stand nach dem Chemiebrand im Mittelpunkt vieler Debatten. Einerseits, weil sie erst Stunden nach der Brandentdeckung in die Wege geleitet worden war, andererseits, da sehr viele Einwohner nicht sofort alarmiert werden konnten. Der Krisenstab entschied erst um 4.40 Uhr die gesamte Region zu warnen, obwohl die dichte Besiedelung ein Übergreifen der Giftgase sehr wahrscheinlich machte. Bevor die Sirenen auch in Kleinbasel und Riehen ertönten, verging jedoch nochmals fast eine Stunde. Die Bevölkerung im Grossbasel wiederum konnte erst gar nicht gewarnt werden. – Hier war das Alarmsystem nämlich ausser Betrieb.

Der kantonalen Regierung und ihren Behörden war nicht nur die Bedrohung durch die Chemie bekannt, sondern auch, dass die Region Basel über kein gut funktionierendes Alarmsystem verfügte. Mit der Revision der Zivilschutzordnung (27. November 1978) waren die Kantone zwar verpflichtet worden, die nötigen Alarmanlagen anzuschaffen und einsatzbereit zu halten. Die Umsetzung scheint für die Verantwortlichen jedoch nicht dringlich genug gewesen zu sein. Erst im Dezember 1985 bewilligte der Grosse Rat endlich einen Kredit für die Erneuerung der Sirenen. Am 1. November 1986 war aber noch immer keine der zwanzig vorgesehenen Hochleistungssirenen montiert. Letztlich standen nur elf mit Lautsprechanlagen ausgerüstete Polizeifahrzeuge zur Verfügung, um Tausende von Einwohnern im Raum Grossbasel über die Bedrohung zu informieren.

Dass der Chemieunfall als wirkliche Bedrohung eingestuft wurde, zeigt sich an der Alarmierung der Bevölkerung selbst. Informiert wurde sie schliesslich nur widerwillig. Die Regierung teilte auch nicht die Meinung der Bürger und Bürgerinnen, die auf eine konsequente Alarmierung in Notfallsituationen bestand. Begründet wurde dies mit ihrem angeblichen Hang zur irrationalen Angst: „Die Alarmierung einer ganzen Region stellt einen derart schwerwiegenden Eingriff in die Freiheiten der Bevölkerung dar, dass sie nicht leichtfertig und ohne eine gewisse Wahrscheinlichkeit eines Ereigniseintrittes ausgelöst werden darf. Auch wenn der Grundsatz ‚besser einmal zuviel als einmal zu wenig‘ seine Gültigkeit hat, kann es nicht Aufgabe eines Katastrophenstabes sein, die Bevölkerung unnötig in Schrecken oder gar in Panikstimmung zu versetzen. … Zudem erlebt jeder die Alarmierung und die damit verbundene Angst ganz persönlich und deshalb völlig subjektiv. Informationen werden dementsprechend aufgenommen und lassen sich daher auch nicht völlig objektiv beurteilen.“

 

 

Schul- und Arbeitszwang

„Ich fühlte mich unsicher und ohnmächtig dem Ganzen gegenüber. Wir hätten keine Möglichkeit gehabt, uns zu schützen. Die Aufhebung des Alarms um 7 Uhr und die Meldung, die Kinder in die Schule zu schicken, hat mich mehr beunruhigt als beruhigt.“

„In der Katastrophennacht haben wir mit Decken die Ritzen gestopft (altes Haus), der Gestank kam trotzdem rein. Man wusste ja nicht, wie giftig es wirklich war. Mein Mann musste zur Arbeit. Ich bekam fast keine Luft mehr (Angst). … Am Radio: Die Kinder sollen zur Schule. Eine der Katzen hechelte bis 10 Uhr morgens, zitterte am ganzen Körper, nicht giftig! Kind bleibt zu Hause, hat eine Woche später Lungenentzündung. Es war insgesamt 14 Tage krank, bis der trockene bellende Husten verschwand, vergingen ein paar Wochen.“

„Dann nach unendlicher langer Ewigkeit das Polizeiauto, Gefahr vorbei, Tram, Autobus, Bahn wieder in Betrieb, Kinder sollen ruhig wieder zur Schule. Mein Kind hätte ich jedoch auf keinen Fall wieder zur Schule geschickt, sicher nicht in diesem seelischen Zustand.“

„Beide Kinder klagten am 1.11. Nachmittag über brennende Augen und Schleimhäute, eigenartigen Geschmack im Mund, Appetitlosigkeit und Angstzustände. Am Abend des 2.11. mussten beide erbrechen und konnten auch am 3.11. wegen immer noch anhaltender Übelkeit und Müdigkeit nicht zur Schule gehen. Besonders das jüngere Kind litt noch bis zu den Weihnachtsferien unter Angstzuständen. Es konnte nur schwer einschlafen und wachte sehr früh wieder auf. Dadurch wurde es hypernervös und durfte zu allem noch eine Strafarbeit über ein “störendes Verhalten in der Klasse“ schreiben.“

„Gereizte Bindehaut. Meine beiden Katzen mussten mit starker Augenentzündung behandelt werden, obwohl sie in geschlossenem Raum schliefen! Was aber wesentlich schlimmer war, war die psychische Belastung resp. Reaktion. Neben der Angst, die schrecklichen Gefühle der Hilflosigkeit und Machtlosigkeit. … Ich musste am 1.11. zur Arbeit. Als ich aber die Situation in Basel “roch“, verweigerte ich; selbstverständlich auf Kosten eines freien Tages!“

„Es ging mir schlecht, vor allem weil ich Angst hatte – und die Pflicht hinaus zu müssen unter allen Umständen, denn ich betreue eine Person, die alt und gebrechlich ist. Und ich hatte Angst, atmen zum müssen.“

„Vom 1.11.- 4.11.86 wurde ich von Niesattacken und einer ständig laufenden Nase geplagt. Die Gesichtshaut löste sich wie nach einem Sonnenbrand. Vom 4.-7.11. ging ich trotz Schlappheit zur Arbeit. Am 8.11. erstmals treten Halsschmerzen auf. Am 9.11. Fieber, Halsschmerzen werden immer schlimmer, ganzes Gesicht schwillt an. Am 10.11. ganzes Gesicht und Hals stark aufgedunsen, enorme Halsschmerzen, Kopfschmerzen, Atembeschwerden, … Am 17.11. ging ich wieder zur Arbeit. Ich fühlte mich elend, ausgeliefert und hilflos. Angst breitete sich immer mehr aus. Langsam stieg aber auch die Wut in mir hoch. Wo sind die Leute, die Verantwortung tragen können? Auf alle Fälle nicht in der Industrie und Politik.“

 

Nebst der Alarmierung stand vor allem auch der Schulzwang im Zentrum der Diskussion. Zwischen 6 Uhr und 7.30 Uhr war mehrmals durchgegeben worden, an allen Schulen würde der Unterricht am 1. November – einem Samstag – ausfallen. Eltern wurden dazu aufgerufen, ihre Kinder unter keinen Umständen aus dem Haus zu lassen. Doch um 8 Uhr erklärte der Vorsteher des Erziehungsdepartements, Hansruedi Striebel, am Radio, dass die Gefahr vorüber sei. Daher würde in Basel-Stadt der Schulunterricht stattfinden und die Kinder und Jugendlichen müssten um 9.30 Uhr zum Unterricht erscheinen. Die Kindergärten und Schulen in den Baselbieter Agglomerationsgemeinden hingegen blieben geschlossen. Ein Arbeitsunterbruch wiederum wurde zu keinem Zeitpunkt in Betracht gezogen.

Am Morgen des 1. Novembers zeigten die Autoritäten weder Verständnis für die Angst der Eltern und Kinder noch das nötige Empathievermögen. Während der Ausserordentlichen Sitzung war die kantonale Regierung gezwungen, dies einzugestehen: „Der Vorsteher des Erziehungsdepartementes beschloss – im Einvernehmen mit dem Krisenstab – am Samstagmorgen ab 9.30 Uhr die Kindergärten und Schule zu öffnen, weil nach dem Endalarm von 6.57 Uhr grundsätzlich kein Anlass dazu bestand, nicht zu dem normalen Leben zurückzukehren. Allerdings trug der Vorsteher des Erziehungsdepartements bei seinem Entscheid der grossen Angst und Aufregung, welche der Brand in Schweizerhalle bei vielen Eltern, Kindern und Lehrkräften ausgelöst hatte zu wenig Rechnung.“

 

 

Dicke Luft

„Ich hatte Angst, da der Gestank (Gift) immer mehr in die Wohnung eindrang, obwohl die Fenster und Läden geschlossen waren. Ich fühlte mich ausgeliefert und hilflos.“

„In der Nacht vom Chemieunfall panische Angst vor allem wegen unserer kleinen Tochter. Trotz der geschlossenen Fenster drang der Geruch ins Haus. Wir lagen im Bett mit nassen Tüchern im Gesicht. Wir wollten zuerst zu Verwandten “flüchten“, hatten aber das Auto ca. 30m vom Haus entfernt und getrauten uns nicht hinaus, da man ja nicht wusste, wie giftig die Gaswolke sei.“

„Ich wurde von einem Freund und dem Gestank geweckt. Nach dem Verschliessen aller Fenster (unsere 2 Katzen kamen freiwillig „durch den Gestank ins Haus“) merkten wir, dass der Gestank durch alle Ritzen kam. Wir hatten Angst, sassen am Radio. Nach einer Bemerkung am Radio “es bestehe noch kein Grund für Panik“ hatten wir fatalistische Gefühle: Wir öffneten eine Rotweinflasche.“

„Am 1.11.86 musste ich in die Stadt. Als der Regen einsetzte, ca. 15.30, begannen erst alle Beschwerden. Was atmet der Mensch alles ein? Man wusste ja nichts. Mit Taschentuch vor Mund und Nase eilte ich per Taxi nach Hause. Es war unheimlich und unangenehm. Ich war nicht in Panik. Ich fühlte mich einfach rundum nicht mehr wohl: Kopfweh, beissende Haut, bitter – ätzender Geschmack in Mund und Nase, sehr penetrant; müde schlapp. Die nachfolgend beschriebenen Beschwerden, weil sie immer noch andauern und sporadisch (pro Woche ca. 3 Tage lang) erscheinen, machen mir Angst und ich bin dauernd müde und reduziert. Heute, Samstag 13.12. ist die Luft wieder so “spitz“ und meine Augen brennen und schmerzen stark. – Den 1. und 2. Nov. hat man irgendwie “verkraftet“… “das geht wieder vorbei“ … aber, dass es heute noch immer so ist, das macht mir Angst und zusätzlich seelisch “krank“. Ich möchte gerne aus Basel flüchten für einige Zeit.“

„War am 1.11. mit Velo unterwegs. Atmungsbeschwerden, Reizung der Atemwege während dem Velofahren. Unbehagen plagte mich sowie komische Ängste. …Ich bin für eine Dauerüberwachung der Luft und Wasserproben und zwar von unbestechlichen, wahrheitsliebenden Personal, denn für “ungefährlich für die Bevölkerung“ brauchen wir nur einen Kassettenrecorder, der das immer wiederholt. In meinen Augen war das ein absehbarer Massenmordanschlag, da Sicherheitsvorkehrungen, Auffangbecken, Alarmanlagen u.s.w. fehlten.“

„Noch in der Katastrophennacht: Augenbrennen, Übelkeit, Atembeschwerden. 1.11/2.11.: Die gleichen Symptome, dazu leichter Durchfall, Appetitlosigkeit, Schwindel. Psychisch: Riesige Angst, drückte sich auch aus mit rasendem Puls über beide Tage. 3.11.-5.11.: Irgendwie fühlte ich mich hundemüde, tief traurig, depressive Anflüge: Die Tränen liefen mir immer wieder hinunter. Seit dem ersten Nov. bis heute (24.1.87): Häufige Kopfschmerzen, immer wieder Durchfall und Magenschmerzen. Meine Stimmung ist im Schnitt eher depressiv, niedergeschlagen.“

„Am 1. 11. gegen 10 Uhr mit dem Velo zum Einkaufen. Tuch vor Mund und Nase. Nach der Rückkehr brennende Augen, der Gesichtshaut, im Hals- und Luftröhrenbereich. Bessert sich nach dem Essen. Am Nachmittag während der Berichte im Radio und TV kommt innere Erregung und Wut hinzu. Wohl wegen der ständigen Beschwichtigungen der Katastrophe. Gegen 17 Uhr setzt Regen ein, sehr starke Zunahme des Gestankes und damit wieder brennen der Schleimhäute. Metallischer Geschmack im Mund, Kopfschmerzen. … Um ruhiger zu werden nehme ich einen Teelöffel Beruhigungstropfen. Habe Angst vor eventuell doch grösserer Gefährdung, als offiziell zugegeben wird. Finden freie Zimmer in X. Kinder gehen sofort zu Bett. Mein Mann und ich noch in der Gaststube, dort hören wir nur “Schweizerhalle“ und vor allem gedankenlose Witze. Wut und Erregung nehmen wieder zu. Für eine ruhige Nacht gibt mir mein Mann von seinem Schlafmittel. Bin aber um 4.30 Uhr wieder hellwach. Will noch länger schlafen, nehme deshalb noch eine Tablette dazu. Beim Hinunterschlucken “macht es mir den Hals zu“. Will husten, atmen, schlucken, schreien alles zugleich. Nichts geht. Mit grosser Mühe gelingt es Luft einzusaugen, davon erwacht mein Mann. Er beruhigt mich, schlafe irgendwann ein bis 6.30 Uhr. …Höre Diskussionen im Radio. Kann den Aussagen “alles harmlos“ keinen Glauben schenken. Wieder grosse Erregung, immer wieder Gefühl der “Halsenge“, nehme Beruhigungstropfen. Gegen Abend Zunahme des Gestankes. Die Kinder müssen erbrechen. Bin sehr unruhig, nehme nochmals Beruhigungstropen ein und wieder passiert es. Beim Hinunterschlucken “macht es mir den Hals zu“. Während der Nacht (2. auf 3.11.) schlafe ich nicht. Habe Herzjagen, höre den Puls überall, vor allem im Hals und Kopf. Dazu das Gefühl von Lähmungserscheinungen im Nacken, glaube, nicht mehr schlucken zu können und vor allem Angst. Gegen morgen kann ich weinen, aber die Verkrampfung löst sich nicht. Bin den ganzen Tag erregt…. Besserung erst am ca. 8.11. Während der ganzen Zeit schlafe ich sehr schlecht ein und mit viel Unterbrechungen. Dazu schneller Puls, Angst, Halsenge. Tagsüber sehr müde ohne Appetit. Natürlich wütend und hilflos.“

 

Selbstschutz Schweizerhalle

Abb. 3) Zum Selbstschutz genötigt: über mehrere Tage wurde die Region Basel vom Gestank der verbrannten, giftigen Chemikalien beherrscht. Sandoz und Regierung taten ihn als „Belästigung“ ab.

Im politisch-offiziellen Vokabular wurden die giftigen Gase von Beginn an als „Belästigung“ taxiert und die gesundheitlichen Beschwerden der Bevölkerung als nichtig abgetan. Als die Verantwortlichen um 7 Uhr morgens der Alarm einstellten und Entwarnung gaben, wusste jedoch noch niemand irgendetwas über die Zusammensetzung der entstandenen Giftwolke über der Region. Schnellanalysen, die Angestellte der Sandoz durchführten, zeigten nach offiziellen Angaben an, dass unter anderem Schwefeldioxid, Ammoniak, Phosphorsäureester und Mercaptane in die Luft geschleudert worden waren. Sie stufte deren Werte jedoch als „gering“ und somit „unbedenklich“ ein.

Tatsächlich waren gesichertere Messwerte erst im Verlaufe des 3. Novembers zu erwarten. Dies gestanden die Vertreter der Sandoz in einer Radiosendung am 2. November ein („Plattform“-Sendung, Radio Basilisk). Dass man Entwarnung gegeben hatte, ohne zu wissen, ob die freigesetzten Giftstoffe – und vor allem auch ihre Vermengung – eine Bedrohung darstellten, musste später auch die Kantonsregierung zugeben. Fast einen Monat nach dem Brand liess sie verlautbaren: „Nach wie vor offen ist indessen die Frage, welche gasförmigen Stoffe zur Zeit des Brandes neu entstanden sein könnten.“ Nichtsdestotrotz wurde die Gefährlichkeit der Giftwolke und die Belastung der Luft durch Quecksilber – die später nachgewiesen werden konnte – weiterhin bestritten.

Die Regierungsvertreter schossen sich von Beginn an auf das angeblich völlig harmlose „Mercaptan“-Gas ein, das sich in der ganzen Region ausbreitete und durch seinen Gestank die Menschen in Angst und Schrecken versetzte. Ihrer Meinung nach hatte es eine Massenpsychose der Bevölkerung ausgelöst, warum sich die verängstigten Leute auch derart unvernünftig und uneinsichtig zeigten. Doch auch in seinem Fall mussten sie letztlich eingestehen, dass der giftige Effekt des Mercaptan kaum erforscht und seine gesundheitsschädigenden Auswirkungen grösstenteils unbekannt waren.

 

 

(Keine) Gesundheitsschäden

„Am 6.11. liess ich meinen Urin von meiner Hausärztin in ein Institut zur Bleiuntersuchung schicken. Am 7.11. Blutungen in der 9. Schwangerschaftswoche. 3 tägiger Spitalaufenthalt im Bruderholz. Am 16.11 endlich den Untersuchungsbericht – Quecksilber po. 49 nanomol. Am 20.11. Urinuntersuchung. Ergebnisse negativ. Ende Nov. 3. Untersuchung. Das Resultat ist mir bis heute noch nicht bekannt. Der Frust nach der ersten Untersuchung war sehr gross. Die Erklärung vom Institut sehr negativ. Diese Vergiftung habe ich mir selber zuzuschreiben, sicher sei mir das Fieberthermometer in die Brüche gegangen. Nach meiner Verneinung erklärte mir dieser Typ, dann war dies halt vor langer Zeit der Fall. Sicher sei Quecksilber irgendwo in einem Teppich, und wenn ich darüber laufe, hole ich mir so diese (unerklärlichen) Werte. Die Untersuchungsergebnisse wurden in keinem Fall irgendwie mit dem Unfall in Verbindung gebracht.“

„Eiternde Munddecke, Dauer 4 Wochen. Hatte noch nie sowas. Der Arzt deutete es als herabgesetzte Abwehrkraft. Psychisch: lange, bis Mitte Januar, hatte ich immer wieder angstvolle Erinnerungen an jene Nacht mit der Klarheit, dass so etwas und dann eventuell bedeutend schlimmer, sich jederzeit wiederholen kann. Auslöser: Sirenenähnliche Töne, schlechte Gerüche in der Luft, Diskussionen über den Unfall. Ich hatte 3 Angstträume von AKW-Unfällen, in denen ich das “nicht mich in Sicherheit bringen können“ als Horror erlebte.“

„Gegen 6 Uhr morgens – bei anhaltendem Gestank im Zimmer – wurde mir plötzlich schwindlig und beklommen. … Ich sprach mit einer Bekannten am Telefon, die ich länger nicht mehr gesehen hatte, als mir plötzlich beklommen wurde. Ich bat sie, einen Arzt zu benachrichtigen, mir sei plötzlich nicht gut, ich bekäme kaum Luft … Dies ist das Ende, dachte ich. Für uns alle. … Dies überlebe ich nicht, dachte es in mir. Ich war ganz reaktionsunfähig, bekam kaum Luft. Spürte das Bedürfnis, mich von 2 mir nahe stehenden Personen zu verabschieden. … Kurz darauf fuhr die Ambulanz vor. Ob ich ins Spital wolle. Selbstverständlich! Ich hätte Kreislaufbeschwerden und bräuchte sofort Hilfe. Ich müsste keine Angst haben, es sei nicht gefährlich. … Die Notfallstation war voll, soweit ich sah.“

„Nach ein paar Tagen fühlte ich mich ca. 14 Tage lang unerklärlich müde, hatte undefinierbare Beschwerden wie schwere Glieder, Benommenheit, Schwindel. Der sowieso nötige Besuch beim Hausarzt ergab aber keine messbaren oder beweisbaren Ergebnisse und ich wurde auch sehr zurechtgewiesen, als ich darauf hinwies, ich dächte an Nachwirkungen von Schweizerhalle.“

„Blasen im Mund und auf Lippen. Der Zahnarzt sagt, das käme von einem Virus. Bis vor Weihnachten zeitweise Übelkeit, Kopfschmerzen, Durchfall.“

„Am 1.11. hatte mein kleines Kind einen Pseudocroup-Anfall. Von diesem Datum an bis anfangs Dezember dauernd Schnupfen und Husten. Nach mehrmaligem Arztbesuch habe ich den Arzt gewechselt, weil mein Kind plötzlich dazu noch Fieber hatte. Dann Nachweis von Pneumokokken. Ich fand, dass die Ärzte die Katastrophe in keiner Art und Weise mit der Krankheit meines Kindes in Zusammenhang bringen konnten. Mafia! Mein psychischer Zustand: Von unerhörter Aggression und Depression überfallen!“

„In der Nacht auf den 4.11. erwachte ich mit Juckreiz und roten Flecken am Körper. Die Hände und die Lippen waren geschwollen, was mich beängstigte. Darum fuhr ich in die Notfallstation. Da ich zum Znacht ein Käsefondue gegessen habe, wurde ich mit einer angeblichen Käseallergie abgewimmelt.“

„Gleich nach der Katastrophe begann eine mir bis anhin nicht bekannte “grippenartige Seuche“. Zuerst führte ich sie auf meine starke psychische Reaktion zurück. Aber auch heute noch leide ich unter starkem Husten, Schweiss- und Kälteausbrüchen, Heiserkeit. Soweit ich mich zurückerinnern kann, hatte ich noch nie eine solche “Grippe“. Psychisch ging es mir kurz nach der Katastrophe sehr schlecht. Ich hatte grosse diffuse Angst. … Zu dieser Angst kam eine grosse Deprimiertheit, Hoffnungslosigkeit, absolut kein Einfluss auf das Geschehene nehmen zu können.“

 

Die Anzahl an Menschen, die gesundheitlich durch den Chemieunfall geschädigt wurden, wird heute in den Medien mit ungefähr 1250 beziffert. Auf „Wikipedia“ werden die Personenschäden im Artikel „Grossbrand von Schweizerhalle“ mit über 1250 angegeben (Stand 2019), im Beitrag „Sandoz“ hingegen werden nur 3 Personen genannt! Gemäss der „Schweizer Ärztezeitung“ (7.1.1987) hatten 261 praktizierende Ärzte und Ärztinnen 1363 Patienten empfangen, die unter Beschwerden litten, die sie auf das Feuer zurückführten. So heisst es jedenfalls im Dokumentationsbericht. (Verifizieren konnte ich die Angaben leider nicht, da das Zeitschriftenarchiv nicht gewillt war, den Artikel freizugeben.) Ob die Ärzte und Ärztinnen wiederum von selbst aus Erkrankungen als Folge des Chemiebrandes eingestuft haben, ist ebenfalls unbekannt.

Brand Schweizerhalle

Abb. 4) Behandlung ausgebrannter Fässer.

Tatsächlich darf davon ausgegangen werden, dass die Dunkelziffer weit höher lag. Viele Leute haben nach eigenen Angaben nämlich trotz Erkrankung keine medizinische Betreuung in Anspruch genommen. Die Initianten der Umfrage kamen zu dem Schluss: „Es muss … davon ausgegangen werden, dass etwa bei der Hälfte der Bevölkerung nach dem Chemieunfall vom 1.11. gesundheitliche Beschwerden auftraten.“ 43% der von ihnen Befragten gaben an, unter Beschwerden gelitten zu haben und/oder noch immer unter ihnen zu leiden. Den wahren Umfang an Erkrankten konnten jedoch auch sie nur schätzen.

Verharmlost wurde der Chemiebrand nicht nur von Seiten der kantonalen Regierung und der Sandoz, sondern sehr häufig auch durch die Angestellten des öffentlichen Gesundheitswesens, das von den Chemie- und Pharmaindustrien abhängig ist. Die Umfrage der „Aktion Selbstschutz“ und des SGSG ergab, dass sich zwei Drittel der Befragten, die eine medizinische Versorgung in Anspruch nahmen, von den Ärzten ernst genommen gefühlt haben. Der Rest hingegen hatte vielmehr das Gefühl, dass ihre Erkrankung bagatellisiert und konsequent auf andere Ursachen zurückgeführt wurde.

Dass die Regierung am 3. November überhaupt Massnahmen zur Erfassung der gesundheitlichen Schädigungen einleitete, ist vor allem als eine Reaktion auf die Empörung und Sorge der Bevölkerung zu sehen. Die Arztpraxen in der Region erhielten jedoch erst eine Woche nach dem Chemiebrand die offiziellen medizinischen Fragebögen, die sich ausschliesslich auf die Erfragung körperlicher Symptome beschränkten. Die Liste der Krankheitssymptome selbst wurde von der Kantonsregierung am Ende auf einige besonders häufig Vorkommende gekürzt: „Abgesehen von vielseitig festgestellten Reizerscheinungen der Atemwege, Augenbrennen, Brechreiz, Übelkeit, Kopfschmerzen und Schwindel, sind keine schwerwiegenden gesundheitlichen Schädigungen bekannt geworden.“

Die in der Umfrage geäusserten Beschwerden entsprachen in Art und Häufigkeit zwar im Wesentlichen denen der offiziellen Untersuchungen, es ergaben sich aber auch zum Teil erhebliche Abweichungen und Ergänzungen zu diesen. Für gewöhnlich weiteten sich die Reizsymptome nämlich zu einer obskuren „Erkältung“ oder „Grippe“ aus, deren Ursache nicht ermittelt wurde. Ausserdem vermerkten die Befragten viele weitere Beschwerden, welche die Autoritäten mehrheitlich verschwiegen, darunter unter anderem Sensibilitätsstörungen (u.a. Kribbeln, Taubheitsgefühl), undefinierbare Lymphdrüsenschwellungen, Gleichgewichtsstörungen, Haarausfall und Nasenbluten.

Fischsterben Schweizerhalle

Abb. 5) Umweltkatastrophe und Fischsterben: das Löschwasser der Feuerwehr wurde direkt in den Rhein geleitet, der sich blutrot färbte. Es löschte auf einen Schlag die gesamte Aalpopulation aus. Heute gilt der Rhein als der am meisten mit Mikroplastikpartikeln (Weichmacher) verseuchte Fluss der Welt.

Der kantonale Regierungsrat bestritt von Anfang an die gesundheitliche Gefährdung der Bevölkerung, die er immer wieder als nicht akut einstufte. Er betonte, dass die Sanität Basel-Stadt um 01.30 Uhr über den Brand informiert worden sei und sie selbst wenig später gemeldet hätte, dass es keine Verletzten gäbe. Dass um diese Uhrzeit fast die gesamte Bevölkerung der Region noch schlief, scheint für die Verantwortlichen nebensächlich gewesen zu sein. Ebenso, dass sie gleich mit der Alarmierung aufgefordert worden war, in ihren Wohnungen und Häusern zu bleiben. Einige unabhängige Fachleute, welche die gesundheitlichen Konsequenzen der Chemiekatastrophe untersucht haben, kamen letztlich zum Schluss: „In den ersten Tagen nach dem Brand wurden viele Massnahmen zum Schutze der Gesundheit versäumt, u.a. wurden Menschen, welche am Unglücksort im Einsatz standen, nur ungenügend untersucht.“

Die Umfrage der „Aktion Selbstschutz“ ihrerseits gibt an, dass einige betagte Personen in der Folge von „Schweizerhalle“ hospitalisiert werden mussten, 20% der Befragten wegen ihrer Beschwerden arbeitsunfähig waren und 30% sogleich einen Arzt (zumeist Hausarzt oder Hausärztin) aufgesucht hätten. Bei vielen hatte sich auch ein bestehendes Leiden plötzlich verschlimmert (u.a. Asthma, Allergien, chronische Entzündungen, Rheuma). In ihren Fällen wurden jedoch die erneut eingetretenen Symptome ebenfalls nicht auf den Unfall zurückgeführt.

Nicht nur die gesundheitliche Beeinträchtigung der Bevölkerung verharmloste man, sondern auch die der Tiere. Von staatlicher Seite hiess es: „Über die Wirkung der Schadstoffe auf Tiere liegen, abgesehen von der katastrophalen Vergiftung des Rheins, kaum Angaben vor. Bei Veterinäramt des Kantons wurden einige wenige tote Vögel abgegeben. Bei der Sektion der Tiere konnten keine signifikanten Vergiftungserscheinungen nachgewiesen werden. Über aussergewöhnliches Erbrechen, Atemnot oder andere Schäden an Tieren gingen keine Meldungen ein.“ Auch hier sprechen die Zeitzeugenberichte eine ganz andere Sprache.

 

 

No Exit

„Ich hatte Angst … Ich fühlte mich ausgeliefert und hilflos. Wir erwogen auch, in die Berge zu fahren, um wenigstens das Wochenende in besserer Luft zu verbringen. Dabei ergab sich aber folgendes Problem: Wir benutzten die öffentlichen Verkehrsmittel und hatten zunächst keine Möglichkeit Basel zu verlassen.“

„Psychisch: Die erste Zeit vor allem Panik und Angst, dann Wut und ein starker Wunsch wegzugehen (die Frage ist nur: wohin?).“

„Gefühlsmässig hatte ich zuerst einen Schock und dann unwahrscheinliche Aggressionen und eine tiefe innere Bedrückung.“

„Zuerst habe ich geschaut, ob alle Fenster gut verschlossen sind, dann habe ich die Lüftungen im Bad noch verschlossen, als dann aber der Gestank immer mehr durch die Lüftung drang, bekam ich Angst. Als die Entwarnung kam, sind mir vor Freude die Tränen gekommen. Wir sind dann übers Wochenende von Basel weggefahren, richtig geflohen!“

„Zuerst hatte ich Angst, Panik, dann eine Hilflosigkeit und später eine Wut, die ich nicht loswerde, und die auch die Ursache meiner Magenbeschwerden ist.“

„Am 1.11. Augenbrennen, Kratzen im Hals, nach Aufenthalt im Freien. Übelkeit. Hatte danach Basel verlassen. Erwachte noch einen Monat nach der Katastrophe nachts schweissgebadet und hatte das Gefühl, das Radio anstellen zu müssen. Angstgefühle und Atembeschwerden halten an. Ich bin entschlossen, von Basel wegzuziehen.“

„Als die Sirenen losgingen, hatte ich Angst – Panik. Ich wollte so schnell wie möglich weg. Vor allem wegen unserem Kind wollte ich raus aus Basel. Ich fühlte mich sehr machtlos und ratlos. Noch Tage danach, noch 2 Wochen später, fühlte ich mich betrogen: Es hiess von allen Seiten, es sei nichts passiert – aber ich hatte das Gefühl, es sei sehr viel passiert – mehr als wir je erfahren würden. Die Angst ist auch jetzt nicht ganz verflogen.“

„Ich war und bin immer noch verzweifelt und machtlos, traurig und wütend, ohnmächtig. Wir werden von Basel wegziehen, dieser Entschluss war am 1.11.86 klar. Ich habe auch Angst, diesen Horror nochmals zu überleben.“

„Psychisch ging es mir schlecht, labil hin und her zwischen Aggression, Depression und Panik wegen meiner Schwangerschaft. Das Schlimmste dabei ist, dass ich nicht weiss, wem ich glauben soll und mich selbst nicht mehr orientieren kann zwischen Paranoia und Leichtgläubigkeit z.B. in der Frage des Trinkwassers. Wie soll ich mich verhalten? Was für Schäden könnte mein Kind haben? Niemand kann diese Frage beantworten.“

„Ich hatte sehr grosse Angst. Ich habe die Angst z.T. auch heute noch, auch wegen meiner 2 Kinder… Am liebsten würde ich von hier wegziehen. Wir sitzen hier auf einem Pulverfass. Das ist mir am 1.11. erst richtig bewusst geworden.“

„Gefühlsmässig schwankte (und auch jetzt noch) ich stark zwischen Angst und Verzweiflung und wahnsinniger Wut. Das Schlimme daran war, dass ich nie recht wusste, wohin mit meiner Wut.“

„Bis Mitte Dezember plus minus: Bedrückt, wütend, Fluchtbedürfnis, Hilflosigkeit. Aus der Bedrohung entstand Aggressivität gegenüber dem Verharmlosen.“

„Ich habe eine verdammte Sauwut auf alles chemische Zeug und auf die Besitzer der Chemischen, die davon profitieren. … Ich habe das Gefühl, es sei ein Klotz im Hals, der weder heraufkommt noch herunter will. Ich glaube, ich ersticke bald. Dann hatte ich schrecklichen Husten, Kopfweh hatte ich auch vermehrt. Ich verliere die Stimme.“

„Ich war sehr angeschlagen, ich war traurig und wütend, ich habe immer noch Angst, ich fühle mich ausgeliefert, ich singe nicht mehr, ich höre auf jedes Geräusch, ich bin ganz einfach in Basel nicht mehr glücklich. Mir reicht’s, ich habe genug. Ab 1. April nicht mehr in Basel wohnhaft.“

„Nach einer “Flucht“ aus Basel während 2 Wochenenden hat sich mein Zustand gebessert. Psychischer Zustand: Wut, Angst und Depression.“

 

Der Mensch kann nur mit einem Flucht- oder Angriffsverhalten auf seine Angst reagieren. Die Ohnmacht des Kulturmenschen, der sich im Kollektiv „gefangen“ fühlt und ohne Reaktionsmöglichkeit ist, wird in den Augenzeugenberichten sehr oft spürbar. Der Grossteil der Bevölkerung sah sich genötigt, der Forderung von Politik und Behörden, mit Gelassenheit auf die Bedrohung ihres Lebens zu reagieren, nachzukommen. Schliesslich verdanken die Basler der Pharma- und Chemieindustrie ihren Wohlstand. Manche flüchteten zwar für ein paar Tage aus der Region, sahen sich aber gezwungen, wieder zurückzukehren, wollten sie den weiterhin von ihren Vorzügen profitieren.

Die Frage, wohin der Mensch überhaupt noch flüchten könne, würden die Mächtigen doch überall auf der Welt das Sagen haben und den Tod der von ihnen „Abhängigen“ gewissenlos in Kauf nehmen, wird in den Berichten ebenfalls sehr häufig geäussert. Der Zorn auf die Verantwortlichen war dementsprechend sehr gross. Kein Wunder, kommt schliesslich die Aggression zum Vorschein, wenn die Flucht vor einer Gefahr verunmöglicht wird. Zwischen den Zeilen der Schicksalsberichte wird jedoch auch immer wieder ein Wechselbad zwischen Wut und Hilflosigkeit beschrieben. Denn nicht nur die kurzzeitige Flucht, sondern auch der verbale Angriff auf die Verantwortlichen, die durch ihre Abwesenheit glänzten, konnte die Angst nicht bewältigen. Die oft genannte Verzweiflung, nichts gegen die Autoritäten ausrichten zu können und ihrer Macht vollständig ausgeliefert zu sein, mündete daher auch bei vielen in einer Depression.

 

 

Geprägt fürs Leben

„Die Sirenen aktivierten bei mir alte Kriegsängste.“

„Kam mir wieder wie ein hilfloses Kind während des Krieges vor. Bombenalarm und Bombenangriffe, die ich erlebt habe, kamen urplötzlich wieder in Erinnerung. Angst, Hilflosigkeit! Panik. Schwitzen vor Angst, zitternde Hände und Knie. … Fand es grauenvoll für Kinder und Grosskinder, die mir telefonierten und denen ich Mut zusprechen musste. Ich wusste nicht, mit was ich sie trösten sollte, denn von Gottvertrauen wollten sie nichts hören! Noch grauenvoller fand ich es, dass man, das heisst die Polizei, Leute hinderte zueinander zu fahren, wie z.B. meine Tochter, die zu mir wollte, um “mit mir zu sterben“ wie sie sagte.“

„Unsere 6-jährige Tochter hatte Angst vor der Nacht, wollte nur noch bei geschlossenem Fenster schlafen, äusserte vermehrt Ängste vor einem eventuellen Kriegsfall oder weiteren Chemiekatastrophen.“

„Kinder: 12-jährig: Gesundheitlich war ich nicht belastet. Jedoch schlief ich schlecht und es beschäftigte mich sehr beim Einschlafen. In der Schule sanken 2-3 Noten, was bis dahin nie vorkam. Auch heute mache ich mir Sorgen über das, was noch kommen wird.“

„Meine 12-jährige Tochter hatte oft Kopfschmerzen und musste erbrechen. Sie hat bis heute nie mehr mit offenem Fenster geschlafen.“

„Knabe (10) er war an diesem Tag 5 Min. draussen. Nach einigen Tagen hatte er einen grossen Ekzemschub (er ist auf Pollen und verschiedene Esswaren allergisch). Er hatte viel stärker Angst als sonst, was da immer passieren könnte machte ihm sehr Angst.“

„Angst, Angsträume. Selbstvorwürfe, dass ich am 1.11. mit meiner 3 jährigen Tochter auf den Petersplatz gegangen bin. Tochter 3 Jahre: Schlaf unruhiger als sonst. Redet noch heute viel von Giftgas, von toten Fischen und fragt, wann es wieder Fische im Rhein gibt.“

„Psychisch ging es mir vorher immer gut, jetzt habe ich oft Angst“.

„Ich habe Horrorträume, Angst ins Bett zu gehen“.

„Ich hatte noch lange Zeit sehr Angst, ich dachte es passiert wieder, jetzt noch immer, aber nicht mehr so stark. Ich habe als Reaktion gewisse Türen und Fenster besser abgedichtet (obwohl ich weiss, dass es kaum etwas nützt). Habe auch Tabletten besorgt mit denen ich im Fall “Verreisen“ könnte, werde sie zwar nicht brauchen können, da ich ein Kind habe, solange es lebt muss ich auch durchhalten.“

„Ich hatte unbeschreibliche Angst in jener Nacht und musste immer an die Katastrophe an Bophal denken. Nach dem 1.11. möchte ich keine Kinder mehr zur Welt bringen, obwohl dies das Grösste für mich ist. Ich bin nachdenklich geworden. Die Wut ist geblieben.“

„Seit dem Chemieunfall (Katastrophe) wage ich nachts das Fenster nicht mehr offen zu lassen. Beim geringsten Geruch in der Luft steigen mir sämtliche Angstgefühle jenes Morgens wieder hoch“.

„Ich hatte vor allem psychische Probleme: Angst (ich hatte den Feuerschein und die Wolke am Himmel gesehen), grosses Ohnmachtsgefühl, Hilflosigkeit, Wut. Wochenlang war ich übersensibilisiert auf Gerüche, sirenenartige Geräusche (Mixer etc.) und bekam sofort Angst.“

„Depressive Verstimmung, freudlos, Trauer, Appetitlosigkeit, Völlegefühl, Magenbeschwerden. Mässiges Kopfweh, Druckgefühl, Schwierigkeit mit Partner, Kind, auf Menschen einzugehen.“

„Ich denke häufig vor dem Einschlafen: Hoffentlich passiert nichts. Ich bin bei kleinen körperlichen Unpässlichkeiten viel ängstlicher als vorher (Kopfweh bei den Kindern). Wir haben alle immer wieder Horrorträume (Brand, Flucht, Eingesperrtsein, Verfolgung). Die Nacht vom 31. auf den 1.11. war ein Horror.“

„Erste Woche nach erstem November mehrmals täglich starke und sehr plötzliche Schwindelanfälle (schwarz vor den Augen). Psychisch: Ein Gefühl konstanter Bedrohung und Angst. Ab und zu Suizidgedanken (soll ich mir mein Leben selber nehmen, bevor es mir so genommen wird).“

„Gefühlsmässig hatte ich oft Angst, schlief schlecht, hatte verwirrende Träume. Ich hatte oft Angst meine Frau alleine zu lassen, Angst, es könne wieder etwas passieren.“

„Die Angst der ersten Tage ist einem Ohnmachtsgefühl gewichen. Ich getraue mich auch nicht mehr so richtig durchzuatmen.“

„Psychisch: Seit Chemieumfall vom 1.11. wiederholte Depressionen mit Angstzuständen (Herzklopfen, Atemnot und Albträumen). Allgemein: Tiefe Erschütterung des Grundvertrauens, Zukunftsangst im Bewusstsein der immer grösser werdenden kaum mehr verkraftbaren Bedrohung. (Atom, Umweltzerstörung, Luftverschmutzung).“

„Seither bei jedem veränderten Geschmack der Luft und bei Sirenentönen Angstgefühle.“

„In dieser Zeit war ich auch öfters niedergeschlagen, dann wieder leicht erregbar und wütend, also sehr wechselhafte Stimmungen ausgesetzt. In erster Linie verspürte ich aber auch Angst (öfteres Zusammenzucken, Einbildung oder nicht?) es stinke wieder oder Sirenen seien in Betrieb und zog mich deshalb viel in die “eigenen vier Wände“ zurück.“

„Ca. die ersten 4 Wochen verfiel ich in eine Lethargie, hatte Depressionen und hätte einfach nur noch schlafen wollen … Seit dem 1.11. fühle ich mich bis heute, März 87, nie mehr so wie vorher, etwas stimmt einfach nicht mehr. Es ist für mich schwierig zu beurteilen, wie weit meine Beschwerden (Kopfweh, Genitalpilz, Appetitlosigkeit, Atemnot, Lustlosigkeit, Depressionen, mehrmals starke Grippen, Husten, der nicht mehr nachlässt, Muskelschmerzen, “kötzelig“) mit dem 1.11. oder der Smoglage oder meiner Angst zusammenhängen. Ich bin sensibilisierter als vor dem 1.11. und habe bei jedem Schmerz oder Krankheit Angst, es könnten Folgen des 1.11. sein.“

„War ca. 4 Wochen völlig depressiv. Hatte Angst, war kraft- und lustlos, fragte mich, nach dem Sinn meines Seins, war kontaktunfähig, hatte das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen und totale Horrorträume.“

„Psychisch: Fühlte ich mich am 1.11. so schlecht, dass ich momentan den Sinn und die Freude am Leben verlor; also die Depression war perfekt. Die Angst die ist geblieben, auch in den Träumen macht sich das bemerkbar. Als es am 20.11. in der Nacht donnerte glaubte ich gleich…“

„Ich hatte Angst, ich fühlte und fühle mich heute noch hilflos ausgeliefert der Macht der Mächtigen!“

„Angst vor jedem Telefon und sirenenähnlichem Geräusch. Gefühlsmässig sehr frustriert und unendlich traurig. Ich werde diese Nacht ein Leben lang nicht vergessen. Ich hatte so ANGST wie nie zuvor.“

 

Sehr viele Leute änderten nach dem Chemiebrand ihr Denken und Verhalten. Kaum verwunderlich, ist die biologische Angst dafür verantwortlich, dass sich dem Menschen Angsterfahrungen einprägen (emotionales Gedächtnis). Er soll schliesslich nicht noch einmal in dieselbe Gefahrensituation kommen, dieselben schädlichen Erfahrungen machen und einer bereits bekannten Bedrohung ausgesetzt werden. Die Angst, die in erster Linie unbewusst wirkt, passt sich jedoch auch immer ihrer Umwelt an.

Seit sich der Mensch zwecks Angstabwehr zu Kollektiven zusammenschliesst, werden diejenigen, die Angst zeigen, als willensschwach, feige, charakter- und wertlos eingestuft. Diese Betrachtungsweise prägt auch das heutige Angstverständnis. Sie war auch der Grund, warum die „Aktion Selbstschutz“ zu einer Umfrage motiviert war: „Unsere Untersuchung stellt Öffentlichkeit her und damit auch Respekt für etwas, was sonst eher abschätzig als “Angst, Panik, Hysterie“ pauschal klassifiziert wird.“

Die Erfahrung, wegen seiner Angst abgelehnt zu werden, hat der Grossteil der Weltbevölkerung gemacht – und dies mit grosser Wahrscheinlichkeit bereits in seiner Kindheit. Kein Wunder, fürchtet sich der Mensch vor allem davor, für ängstlich gehalten zu werden. In den Zeitzeugenberichten wird ebenfalls immer wieder die eigene Unsicherheit erwähnt, ob die ganzen physiologischen Erkrankungen nach dem 1. November nicht einfach nur „psychischer Natur“ gewesen seien. Der negative Einfluss des anerzogenen Angstverständnisses auf das Selbstbild wird hier offenkundig.

Der Sozialpsychologe Erich Fromm (1900-1980) führte die Ängste der Menschen auf eine Hauptangst zurück: die Angst vor sozialer Isolierung. Tatsächlich sind die modernen Angstvorstellungen kaum mehr darauf ausgerichtet, das biologische Überleben zu gewährleisten. Vielmehr sollen sie den „sozialen Tod“ verhindern, der auf Anpassungszwängen aufbaut. Diese sind laut dem Soziologen Norbert Elias (1897-1990) daher auch die Hauptursache von Angst- und Depressionserkrankungen. Die Angst für ängstlich und damit für schwach und psychotisch gehalten zu werden, war aus diesem Grunde wohl auch einer der Hauptgründe, warum sehr viele der Betroffenen sich dazumal nicht medizinisch untersuchen liessen – und darüber hinaus, dass Selbstdiagnosen sowie Selbstmedikationen in den letzten Jahrzehnten weltweit derart massiv zugenommen haben.

Die Angst vor der Angst entzweit eine Gesellschaft letztlich also ebenfalls. Dies zeigt sich unter anderem auch am Beispiel derjenigen Zeitzeugenaussagen, die von einer plötzlichen Kontaktunfähigkeit, Selbstisolierung und Suizidgedanken berichten. Geschürt wurden Misstrauen und Sozialphobie zweifellos auch durch die Reaktionen der Politiker und Politikerinnen, deren eigentliche Hauptaufgabe der Schutz der Bevölkerung ist. Denn sie waren ganz offensichtlich – gleich den Vertretern der Chemieindustrie – in erster Linie mit der Bewältigung ihrer ganz persönlichen Angst beschäftigt, ihrer Angst vor Macht- und Prestigeverlust.

 

 

Vorahnung, Zukunftsangst und Verdrängung

„Ich habe seit dem 1.11. sporadisch Migräne-Anfälle, die ich in diesem Ausmasse nicht kenne an mir. Ich habe 13 Jahre lang in der Chemie gearbeitet; die Probleme sind mir vertraut. In mir innen trage ich seit Jahren das Gefühl der Abhängigkeit und Sorge um die Basler Region herum. Ich habe darüber oft gesprochen; es traf uns zwar unvorbereitet, aber nicht unerwartet.“

„Vom Sonntag 2. Nov. an hatte ich starkes Asthma für meine Verhältnisse. Beeinflusst war meine Atmung, psychisch, wie ich Angst davor hatte tief zu atmen. Wenn es nach meinem Geist gegangen wäre, hätte ich überhaupt nicht mehr geatmet. Da ich schon im Sommer das Gefühl hatte, dass in der Umgebung Basel Probleme mit der Chemie entstehen würden, war ich nicht weiter überrascht, als die Meldung der Katastrophe verbreitet wurde. Trotzdem reagierte mein ganzer Körper ohnmächtig. Ich konnte kaum was anderes tun als schlafen. Viele Fragen in Bezug auf menschliches Sein wurden bei mir wieder wach gerufen.“

„Damals reagierte ich mit Wut und unendlichem Ohnmachtsgefühl, weil ich das schon seit langem voraussehe, Katastrophen wie Tschernobyl … Hass auf die Verantwortlichen, die nie etwas begreifen wollen und auf jede Angstargumentation verzichten. Angst auch um meine nächsten Verwandten, um einen erwachsenen Sohn und absolute Resignation, die sich nur im ganz privaten und durch gute Freunde etwas aufhellen lässt.“

„Psychisch ging es mir mies. Ich empfand das ganze Klima in dieser Stadt verschissen. Dies dauerte bis etwa Ende November an. Seither ist das Thema Schweizerhalle weniger aktuell.“

„Am 1.11. Todesängste, Erstickungsängste, Platzangst. Gefühl von Isoliertsein, eine Stunde schlottern. Mittags um 2 Uhr Übelkeit und Hustenreiz. Am 2.11. Übelkeit. In den Tagen danach Weltuntergangsgefühle, Machtlosigkeit gegenüber den jetzigen Gegebenheiten (Selbstzerstörung der Menschheit).“

„Täglich Kopfschmerzen, schon beim Aufwachen. Die Zeit war sehr anstrengend, ich fühle mich erschöpft, habe konkrete Ängste vor Katastrophen, z.B. AKW, was früher viel diffuser, abstrakter war.“

„Ich war immer ein Optimist. Seit dem Unfall bin ich viel traurig. Ich sehe plötzlich die Zukunft in Schwarz. Ich bin traurig für meine Kinder und alle anderen jungen Leute“.

„Wir machen uns seit dem 1.11.86 noch vermehrt Gedanken, was die Zukunft uns, und vor allem unseren Kindern bringt. Das Schlimmste für mich ist, dass ich nicht daran glaube, dass sich irgendetwas ändern wird und ich mit Angst vor der Zukunft weiterleben muss.“

„Ein grosser Teil meiner Lebensfreude hat der Trauer Platz machen müssen, aber auch dem Willen alles nur Mögliche zu tun, um der jüngeren Generation eine Jugend zu ermöglichen, die wir noch erleben durften: Herrliche Luft, wunderbares frisches Wasser, praktisch kein Lärm etc.“

„Das Problem bei mir ist die Gewissheit, dass der Mensch seine Zukunftsgestaltung nicht im Griff hat. Die gewaltige Verharmlosung von Behörden und Medien macht es möglich, das Gefahrenbewusstsein zu verdrängen. Solche Katastrophen werden sich wiederholen.“

„Nach einem Anruf in der besagten Nacht zuerst grosse Angst, dann sofort Verleugnung.“

„Angst hatte ich keine, weil ich gar nicht realisierte, wie gefährlich es hätte sein können.“

„Nach dem Chemie-Unfall ging es mir gefühlsmässig sehr schlecht, da ich Angst vor der Zukunft hatte und weiterhin habe. Das Problem der Umweltzerstörung ist mir klar geworden und dass man als einfacher Bürger machtlos ist.“

„Zuerst war ich wie vor den Kopf gestossen und glaubte die verharmlosenden Nachrichten nur zu gerne. Als ich anfing zu realisieren, wie wir belogen wurden, war ich empört und später verzweifelt, als ich merkte, wie sehr unsere Jungen litten, körperlich und seelisch. Auch meine alte Mutter wurde krank (und mein Hund). Die ständig neuen Katastrophenmeldungen rissen mir den letzten Nerv aus. Aber am schlimmsten war letzten Endes die Angst davor, dass sich doch nicht ändern lassen würde in unseren Gewohnheiten und unserer Profitgier.“

„Ich schreibe Ihnen weniger wegen mir, sondern wegen der Symptome, die ich bei meinen Schülern (14-15 Jahre) festgestellt habe. Mit einer Ausnahme haben die Schüler keinen Arzt aufgesucht und ihre Beschwerden auch sonst nirgends gemeldet. Im Nov. 1986 fehlten von 20 Schülern insgesamt 10, einige davon mehrmals. Entschuldigungsgründe waren: Schwindel, Kopfschmerzen (2 Schüler erklärten glaubhaft, vorher nie Kopfweh gehabt zu haben), diffuses Unwohlsein, akute, organisch nicht erklärbare Rücken-, Bauch und Kopfschmerzen. Die psychischen Reaktionen dieser Klasse waren ziemlich einheitlich: Mehr oder weniger bewusste Verdrängung. Sie drückten mir gegenüber die Überzeugung aus, dass jegliches Umdenken keinen Sinn habe, da die nächste Katastrophe bestimmt in Bälde zu erwarten sei und früher oder später tödlich sei. Bis es soweit sei, wolle man das Leben aber noch geniessen und insbesondere auch auf Auto, Mofa und sonstigen Luxus nicht verzichten.“

 

Vor allem die Menschen in den befriedeten, kapitalistisch-demokratischen Ländern haben die Realität der immerwährenden Bedrohung des Lebens zu verdrängen gelernt. Der Glauben an die „vollkommene Sicherheit“ ist jedoch eine Illusion. Das weiss auch der Angstmechanismus im Gehirn. Er aktiviert daher auch manchmal ein Angsterleben, selbst auf die Gefahr hin, sich zu irren. Wir nennen diesen Zustand eine „Vorahnung haben“, und manche Zeitzeugen von 1986 hatten sie.

Demonstration Sandoz

Abb. 6) Demonstration der Basler Bevölkerung am 8. November 1986.

Dass die Region Basel ein gefährlicher Ort darstellt, ist den allermeisten ihrer Einwohner zwar bekannt, wurden doch die Städte und Gemeinden auf einem Erdbebengebiet errichtet. Die grösste menschengemachte Gefahr stellen aber bis heute die Chemie- und Pharmakonzerne dar. Das Sicherheitsgefühl, das der Bevölkerung von den Medien und Politikern immer wieder vorgegaukelt wird, zeigt jedoch seine Wirkung. Der dauererregte Mensch, dessen Aufmerksamkeit durch sie gezielt auf andere Katastrophenthemen gelenkt wird, erliegt aber auch eher früher als später der Reizgewöhnung. Und wer keine starken Reize mehr wahrnimmt, nimmt letztlich auch keine Gefahren mehr wahr.

Die 1970er und 1980er Jahre waren nicht nur von Chemie- und Atomkatastrophen geprägt, sondern auch vom Aufkommen neuer Protestbewegungen. Die grösste Katastrophe, die noch heute das Interesse zu wecken vermag, ereignete sich im April 1986 in Tschernobyl. Der Reaktorunfall führte dazu, dass eine mit radioaktivem Material angereicherte Wolke weite Teile Europas verstrahlte. Genau 185 Tage nach dem Ereignis brach der Brand in der „Schweizerhalle“ aus. Ein Grund, warum die Bevölkerung ihn oft als „Tschernobâle“ oder „Sandobyl“ bezeichnete und diese überhaupt mit Angst und Sorge auf den Chemiebrand reagiert hat.

Vor allem in der Schweiz hat das Gefahren- und Umweltbewusstsein jedoch nicht sehr lange angehalten. Im Frühling 1987 konnten die „Grünen“ zwar viele Wähler für sich gewinnen, doch noch im selben Jahr zog auch schon die „Schweizerische Autopartei“ erfolgreich ins Bundesparlament ein. Das Konkurrenz- und Nutzdenken, das Wohlstand, Macht und Profit einbringen soll, wird schliesslich nicht nur den Schweizer Politikern und Wirtschaftslobbyisten anerzogen, sondern auch der einfachen Bevölkerung, die ebenfalls nicht gewillt ist, auf ihre selbsternannte „Sonderstellung“ in der Welt zu verzichten.

 

 

Politische „Ohnmacht“

„Der Regierungsrat hält fest, dass der Katastrophenstab des Kantons Basel-Stadt aufgrund der am 1. November 1986 entstandenen Lagen bzw. vorliegenden Nachrichten im Zusammenhang mit dem Chemie-Grossbrand von Schweizerhalle im wesentlichen sach- und zeitgerecht das Nötige und Mögliche veranlasst und getan hat.“

„Es ist nicht zu bestreiten, dass Pannen aufgetreten sind. Von einer Summierung zu sprechen ist jedoch übertrieben.“

„Nicht bilanzierbar sind überdies die massiven immateriellen Beeinträchtigungen der Menschen dieser Region, insbesondere alle Folgen von Angst.“

„Es ist davon auszugehen, dass die Messungen der Lufthygiene primär nicht auf den Katastrophenfall ausgerichtet sind. Schnell-Messungen im Katastrophenfall sind nur möglich, wenn ein voll ausgerüsteter Chemiewehr-Messwagen mit Spezialrüstung und geschulter Besatzung zu Verfügung steht. Jeder der drei Chemie-Grossbetriebe verfügt über einen solchen Chemiewehr-Wagen, welcher vom Kanton angefordert werden kann. Falls der Kanton zusätzlich einen eigenen Notfall-Messwagen einrichten wollte, könnte dies nur mit den personellen Pikett-Mitteln der Feuerwehr geschehen. . … Die Regierung ist jedoch vorläufig der Ansicht, dass der Nutzen eines solchen eigenen Messwagens in keinem Verhältnis stehen würde zu den beträchtlichen (und wiederkehrenden) Kosten, die er verursachen würde.“

„Der Fall ‚Schweizerhalle‘ hat deutlich gezeigt, dass es niemals möglich sein wird, innert nützlicher Frist alle denkbaren Giftstoffe zu messen.“

„Der Endalarm schliesslich erfolgte, nachdem die – relativ spärlich – vorhandenen Messwerte wichtigster möglicher Luftschadstoffe nicht erwarten liessen, dass für die Bevölkerung eine drohende schwere Gefährdung der Gesundheit bestand.“

„Es trifft zu, dass bei grossen Giftgaskatastrophen die Institutionen des Gesundheitswesens, vor allem auch das Kantonsspital Basel, eine normale medizinische Versorgung der Bevölkerung nicht mehr gewährleisten können. Hier stossen wir an die Grenzen einer möglichen Katastrophenbewältigung.“

„Nach Art. 47 Umweltschutzgesetz können die Behörden Auskünfte veröffentlichen, sofern sie von allgemeinem Interesse sind und keine überwiegenden Interessen entgegenstehen, wobei Geschäftsgeheimnisse in jedem Fall zu wahren sind.“

 

Die kantonale Regierung tat den Chemieunfall als Bagatelle ab. Als es aber darum ging, sich vor der empörten Bevölkerung zu rechtfertigen, deuteten die Autoritäten das Ereignis plötzlich zur „Katastrophe“ um: „Katastrophen sind definiert als überraschend auftretende Ereignisse, bei denen die üblichen oder für den ‘Normalfall‘ vorhandene Mittel in einem krassen Missverhältnis zu den momentan benötigten Mitteln und Einrichtungen stehen.“ Mit der Neudefinierung des Geschehens konnten sie sich nun nicht nur volksnah präsentieren, sondern auch jeglicher Verantwortung entziehen.

Chemie Basel

Abb. 7) Das Trinkwasser in der Region Basel ist bis heute aufgrund der Sandoz Katastrophe mit gesundheitsschädlichen Schadstoffen verunreinigt. Obwohl das Chemieunternehmen (heute Novartis) von rechtswegen eine Sanierung durchführen müsste, konnte es sich bis heute der Verantwortung entziehen. Die Basler Regierung, welche die Grenzwerte anpasste, bewertet die Wasserqualität daher nichtsdestotrotz als gut. Reto Fontana hielt die Verantwortungslosigkeit der Autoritäten in dieser politischen Karikatur fest.

Am 27. November 1986 wurde eine Ausserordentliche Sitzung abgehalten (aus ihr stammen die oben aufgeführten Zitate). Der damalige Präsident des Grossen Rates, F. Rudolf von Rohr, äusserte zu Beginn seiner Rede: „Auch wenn das Ereignis dieser Katastrophe und die erste Verantwortung im basellandschaftlichen Schweizerhalle liegen, so stellt sich doch auch für uns heute zutiefst die Frage, was wir tun können, um solche Katastrophen unmöglich zu machen. … Wir müssen gemeinsam zu Kurskorrekturen finden (ich wiederhole mich), damit Wohlstand nicht länger Lohn der Angst ist. Denn das Zeichen von Schweizerhalle ist ein Meilenstein. Dazu braucht es Bereitschaft und guten Willen auf allen Ebenen.“ Doch auch dieses Statement entsprang dem politischen Kalkül. Von staatlicher Seite kontrolliert wurde die Chemische Industrie schliesslich schon dazumal nicht. Anstrengungen, etwas daran zu ändern, wurden ebenfalls nicht unternommen.

Die „Eigenverantwortung“ der Chemieindustrie zeichnet sich seit jeher durch ihr Versagen aus. Der offizielle Untersuchungsausschuss der Regierung kam aufgrund „theoretischer Überlegungen“ zur Überzeugung, dass der Chemiebrand im Depot 956 durch das „Berliner Blau“ (ein anorganisches Pigment, mit dem Fässer verschweisst werden) ausgelöst wurde. Dass es zu Brandausbrüchen neigt, war der Sandoz bereits seit Mitte der 1960er Jahre bekannt. In einem Artikel der „Basler Zeitung“ (März 2017) wiederum heisst es, der Brand sei durch Feuerwerkskörper für eine Abschiedsparty ausgelöst worden, die man hier deponiert hatte. So oder so war in der besagten Lagerhalle, wo zur Zeit des Umfalls 1‘351 Tonnen Chemikalien gelagert waren, nach Angaben der Verantwortlichen nie eine Feueralarmanlage montiert worden. Die Möglichkeit eines Brandes hatte man ausgeschlossen.

Das mit giftigen Chemikalien kontaminierte Löschwasser, das die Feuerwehrleute direkt in den Rhein weiterleiteten (Auffangbecken gab es ebenfalls keine), färbte dessen Wasser auf der ganzen Breite rot und löschte auf über 250 Km die Fischpopulation aus. Die Wasserwerke rheinabwärts wiederum wurden erst am 3. November über die Lage informiert. Der Chemiebrand hatte zwar sehr negative Auswirkungen auf die Umwelt und die Gesundheit der Bevölkerung, nicht jedoch auf die verantwortliche Industrie. Die Brandkatastrophe „Schweizerhalle“ zog keine entscheidenden Konsequenzen für den Chemiekonzern nach sich. Juristisch zur Rechenschaft gezogen wurde niemand. Die Sandoz, die bereits dazumal zweistellige Milliardenprofite verzeichnete, kaufte sich von allen Anschuldigungen frei. Sie leistete insgesamt eine Schadenersatzzahlung von 43 Millionen Franken, die man zwischen der Schweiz, Deutschland, Frankreich und den Niederlanden aufteilte.

 

 

Volksmacht?

„In der Region Basel lodern regelmässig Flammen aus Gebäuden der Chemiefabriken. Die grossen und kleinen Brände sind zwar unerwünscht, gehören aber wie selbstverständlich zu diesem Industriezweig.“

„Während 100 Jahren verenden im Rhein immer wieder die Fische. Das Fischsterben hört erst auf, als die Basler chemische Industrie 1982 – als letzte der Schweiz – Kläranlagen in Betrieb nimmt. Bis vier Jahre vor dem Grossbrand bei Sandoz in Schweizerhalle ist es alltäglich, dass ungereinigtes Chemieabwasser in den Rhein fliesst.“

„‘Der rote Rhein bei Basel‘ – solche Schlagzeilen wiederholen sich seit Beginn der 1960er-Jahre in der Basler Presse. Immer wieder fliesst der Strom rot eingefärbt durch die Stadt, weil flussaufwärts aus einer Geigy- beziehungsweise ab 1971 Ciba-Geigy-Fabrik bei Schweizerhalle Farbstoff in das Gewässer gelangt. Von etwa 1880 bis 1982 gehören zudem Farbstoff-Fahnen im Rhein zum Alltag. Die farbige Verschmutzung quillt aus den Abwasserrohren der chemischen Industrie.“

„Ab Ende der 1950er-Jahre stinkt es bei Schweizerhalle und bis in die Stadt Basel regelmässig nach Chemie. Und das so penetrant, dass 1971 die Lehrer 2‘500 Muttenzer SchülerInnen in die «Gestanksferien» schicken, wie es die Basler Nachrichten nennen. Die Menschen beklagen sich über Kopfschmerzen und Übelkeit. Dank der lange angekündigten Luftreinhalteverordnung, die der Bundesrat 1985 schliesslich in Kraft setzt, riecht es allmählich weniger, bis am 1. November 1986 die Lagerhalle der Sandoz abbrennt.“

„Bereits eine der allerersten Chemiefabriken der Region verschmutzt das Trinkwasser. Weil die Verantwortlichen ihren Chemiemüll in einem Industriekanal ablagern, vergiften sich 1864 in Basel sieben Menschen beim Teetrinken. Von 1945 bis 1965 deponiert die Industrie den Giftmüll meistens nahe ihren Fabriken in der grundwasserreichen Rheinebene und somit in der Nähe von Trinkwasserfassungen. In Muttenz zum Beispiel lagert sie ihn in den drei Kiesgruben Feldreben, Margelacker und Rothaus ab. Diese liegen in direkter Nachbarschaft zu den Trinkwasserbrunnen für 200‘000 Menschen. Nicht weit entfernt stehen die Chemiefabriken von Schweizerhalle, wo 1986 beim Sandoz-Brand giftiges Löschwasser im Boden versickert. Es gefährdet das Trinkwasser, wie es im gleichen Gebiet die Chemiemülldeponien seit 40 Jahren tun.“

„Für Behörden, Regierungen und chemische Industrie in der Region Basel gehören also Brände, Gestank, roter Rhein, tote Fische und gefährdetes Trinkwasser so selbstverständlich zu dieser Branche wie Säuren, Basen, Hitze und Druck. Sie bewerten solche «Ereignisse» nicht als ausserordentlich, sondern als übliche Begleiterscheinungen dieser Industrie. So auch am 1. November 1986, als in Schweizerhalle die Lagerhalle brennt. Der mitten in der Nacht aufgebotene Beamte des Baselbieter Umweltamts schlägt denn auch nicht Alarm, sondern geht schlafen, nachdem der Grossbrand gelöst ist. Gegen 7 Uhr morgens sind die Umweltämter Basel-Landschaft und Basel-Stadt für das besorgte Landratsamt Lörrach auf der deutschen Rheinseite ‚telefonisch nicht mehr erreichbar‘. Polizei und Feuerwehr veranstalten um 8.30 Uhr noch eine Medienkonferenz, bevor sie ‚mehr oder weniger zur Alltagsroutine‘ übergehen, wie die Baselbieter Regierung später einräumt.“

„In der über 100-jährigen Geschichte der Branche kommen Anstösse in Richtung einer umweltverträglicheren Produktion nie von der Industrie selbst oder von den lokalen Behörden. Sie stammen in der Regel aus den Staaten rheinabwärts und vom Bund.“

„Der Fall ‚Schweizerhalle‘ und seine Folgen für die Gesundheit der Bevölkerung in der Region und für den Rhein stehen im Brennpunkt des lokalen und internationalen öffentlichen Interesses. Das rüttelt auch die Basler chemische Industrie wach. Sie reagiert nicht, weil sie will, sondern weil sie sich gezwungen sieht. Um die Lage nicht weiter zu polarisieren, gibt sie den Forderungen in den Bereichen Luftreinhaltung und Schutz des Rheins genau so weit nach, wie sie muss: Sandoz entschuldigt sich, verspricht Schadenersatz, finanziert einen Fonds zur ‚Rheinsanierung‘, nimmt (endlich) Agroprodukte mit Quecksilber vom Markt und erklärt sich öffentlich bereit, den Brandplatz aufzuräumen. … Ein neuer Wind des umwelt- und sicherheitstechnischen Aufbruchs weht durch die Fabriken und Amtsstuben der Region Basel. … Aber etwa fünf Jahre später beginnt das Umwelt- und Sicherheitsengagement der Industrie schon wieder abzuflauen. Ein Mitarbeiter des Umweltamts, des Kantons Basel-Stadt bilanziert rückblickend: ‚Spätestens mit der Fusion von Ciba-Geigy und Sandoz zu Novartis‘ 1996, ‚ist der umwelt- und sicherheitstechnische Schwung weg‘. Die Umweltbehörden in den Kantonen Basel-Stadt und Basel-Landschaft würden systematisch geschwächt: ‚in den Konzernen diktieren wieder die Buchhalter, wie es läuft.‘ …“

„Die Gefahr für das Trinkwasser, die nach dem Brand bei Sandoz 1986 vom versickerten Löschwasser auf dem Brandplatz ausgeht, verschwindet schnell aus dem Blickfeld des öffentlichen Interesses. Die eigentliche Sanierung des Brandplatz-Untergrunds beginnt erst 1991 weitgehend unbeachtet. Fünf Jahre nach dem Brand ist der öffentliche Druck verschwunden; genauso wie die Bereitschaft von Sandoz, ein tatsächliches Aufräumen zu bezahlen. 1991 ist es schon wieder wie vor ‚Schweizerhalle‘: es bestimmt nicht die Behörde, wie die Brandplatzsanierungsarbeiten vonstattengehen, sondern eine abermals erstarkte Sandoz. Ohne viel öffentliches Aufsehen zu erwecken, schliesst sie 1992 die Sanierung ab. Im Boden des Brandplatzes zurück bleibt eine ‚Schweizerhalle‘-Deponie.“

„2009 gelangen noch immer vier bis sechs Mal mehr Schadstoffe ins Grundwasser, als laut Sanierungsziel tolerierbar wäre. Sie gelangen in ein Grundwasser, das schon vor dem Brand seit über 40 Jahren mit Chemikalien belastet ist, die aus den Produktionsanlagen der chemischen Industrie in Schweizerhalle und aus den Chemiemülldeponien in der Nähe stammen. Via Grundwasser gelangen die Schadstoffe immer wieder ins Trinkwasser von über 200‘000 Menschen in der Stadt und der Agglomeration Basel. Das Risiko für das Trinkwasser und dessen zeitweise Verschmutzung spornen die neu verantwortlichen Chemie- und Pharmakonzerne, Novartis, Roche, Ciba SC und Syngenta jedoch keineswegs dazu an, mit ihren Altlasten endlich radikal aufzuräumen. Dies zeigt nicht nur die gescheiterte Sanierung des Brandplatzes in Schweizerhalle. Dies führen auch die meist ungenügend differenzierte Untersuchung, die schlechte Planung und die halbherzige Sanierung der Chemiemülldeponien durch die Basler chemische Industrie von 2001 bis 2010 vor Augen. Sie räumt meist nicht wirklich auf. Sie wägt ab, was im Minimum zu tun ist, damit sie den öffentlichen Druck besänftigen kann, um in Zukunft nicht das zu tun, was sie tun müsste.“

 

Der Brand in der „Schweizerhalle“ war in den Medien bereits nach wenigen Tagen kaum mehr ein Thema. Die spärliche Literatur, die bis zum heutigen Tage zum Thema veröffentlich wurde, spricht Bände. Eine Aufarbeitung der Geschehnisse wird auch in den nächsten Jahrzehnten nicht möglich sein, halten die Verantwortlichen doch sämtliche Unterlagen zum Ereignis bis heute unter Verschluss. Dass wissenschaftliche Recherchen zur Basler Chemie und ihrer Umweltsünden systematisch verunmöglicht werden, musste auch der Geograf und Geschäftsführer des Ärzteverbands für Umwelt (AEFU) Martin Forter feststellen, der zu den besten Kennern der Basler Chemiegeschichte zählt. Mit Hilfe staatlicher Unterlagen konnte er jedoch vieles aufdecken, das unter den Teppich gekehrt werden soll. Aus seiner Forschungsarbeit, die unter dem Titel „Falsches Spiel“ veröffentlicht wurde, stammen die oben aufgeführten Zitate.

Chemiemuell-Deponie

Abb. 8) Von der Verunreinigung von Land und Wasser betroffen ist nicht nur die Basler Region. Die grossen Chemieunternehmen verschmutzen durch illegale Entsorgungen die Umwelt in vielen weiteren Gebieten der Schweiz. Das Bild zeigt die giftige Chemiemüll-Deponie „Bonfol“ (JU).

Für den Sozialpsychologen Erich Fromm war das 20. Jahrhundert das Jahrhundert der Grossunternehmen und Monopolisten, die ihre „autoritäre Macht“ manifestieren konnten und seitdem die Politik bestimmen. Das Ereignis „Schweizerhalle“, das letztlich die Machtposition der Basler Chemieunternehmen dank Fusionen sogar noch gestärkt hat, belegt seine Überzeugung. Der kantonale Regierungsrat gestand zwar seine Unfähigkeit ein, den Anwohnern und Anwohnerinnen genügend Schutz im Falle einer Chemiekatastrophe bieten zu können. Er wies jedoch auch jegliche Verantwortung von sich und deutete die Sandoz sogar zum „Opfer“ um: „Die öffentliche Information der Firma Sandoz über die Rheinvergiftung muss im Hinblick auf das anfängliche Verschweigen des tatsächlichen Vergiftungsumfanges und der wiederholten Korrekturen in den Aussagen als hilflos bezeichnet werden.“

Der Grossteil der Basler Bevölkerung entzieht sich jedoch ebenfalls seit jeher der Selbst- und Umweltverantwortung. Kein Wunder, hat ihre Empörung die kantonale Regierung, die Behörden und die Chemische Industrie am allermeisten überrascht. Für die Verantwortlichen war „der Grossbrand bloss eines von zahlreichen «Ereignissen», wie sie für die chemische Industrie keine Ausnahme sind“, wie Martin Forter es formuliert. Davor galt dies auch für die Einwohner der Region, die sich schon längst an die negativen Auswirkungen ihres Wohlstandes gewöhnt und mit ihnen abgefunden haben. Sie mussten erst mit der eigenen Angst und dem eigenen möglichen Tod konfrontiert werden, um erneut ein Interesse für die allgegenwärtige Gefahr zu entwickeln.

Die Angst vor dem biologischen Tod war am 1. November 1986 in der Basler Region omnipräsent. Nichtsdestotrotz wurde sie schon sehr schnell wieder durch die Angst vor dem sozialen Tod abgelöst. Und wer ihn nicht erleiden will, muss sich angstlos zeigen. Dies bekamen auch die Umweltschützer und Umweltschützerinnen zu spüren, die das Wissen um der Katastrophennacht beziehungsweise der durchgemachten Todesängste, Verzweiflung, Ohnmacht und der systematischen Vergiftung des Bodens sowie der Grund- und Trinkwasserdepots lebendig halten wollten. Sie wurden schon bald nach der Chemiekatastrophe wieder abfällig als „Alternative“ beschimpft und in der Öffentlichkeit als Störfaktoren wahrgenommen. Kaum verwunderlich, markieren die 1980er Jahre schliesslich auch das Aufkommen der Globalisierung (global economy), die Eigennutz und Profitgier zu Haupttugenden erklärt hat.

 

„Hören wir auf damit, nach Entschuldigungen für die Verantwortlichen zu suchen: Jene, die diese Abfälle verursachten, wussten sehr wohl, was sie taten. Wer mag glauben, dass Wissenschaftler, die komplexe chemische Moleküle schufen, sich nicht über die ökologischen Risiken der von ihnen produzierten Abfälle im Klaren waren? Die unmittelbar Verantwortlichen sind bekannt. Die Pharma- und Chemiekonzerne müssen ihre Verantwortung wahrnehmen, die Abfälle beseitigen und der Bevölkerung ihr Trinkwasser zurückgeben. Jegliche Ausflüchte sind eine Gefahr für die Gesundheit von mehr als 200‘000 Menschen in der Region Basel und für viele andere anderswo – und dies wegen Konzernen, die ausgerechnet im Bereich Gesundheit tätig sind.“ – Philippe Roch, bis 2005 Direktor des Bundesamts für Umwelt, Wald und Landschaft (heute Bundesamt für Umwelt, BAFU)

„Am 1.11. bin ich ca. 5 Jahre älter geworden. Wie und wem kann ich das beweisen? Das Gefühl im Kriegszustand zu leben, machtlos, stimmlos, ausgeliefert dem Bruttosozialprodukt, der Wachstumssteigerung, dem Profit, der Statistik u.s.w. und so fort. Absoluter psychischer und physischer Tiefpunkt war am 6.11.86. Bis da lief ich aus, nach und nach wie eine Batterie. Eine Art langer Schockzustand. Nachher erst konnte ein Verarbeitungsprozess in Gang kommen. Betroffenheit lässt sich Nichtbetroffenen nicht mitteilen. Das habe ich als Betroffener in der Zwischenzeit erfahren. Emigrieren von hier? Es gibt keine Grenzen mehr. Die Eigen- und Kollektivverantwortung endet tödlich, weil sie seit dem 1.11. klar ja zum Selbstmord sagen, ganz legal. Grenzwerte dienen lediglich statistischen Zwecken, wie auch die jüngste Zeit beweist. Wir haben nichts dazu gelernt.“

 

2018 führte das „Historische Museum Basel“ eine Ausstellung durch, die den Rhein zum Thema hatte. Auf grossen Leinwänden zeigte man Filmaufnahmen vom Unterwasserleben dieser wichtigen europäischen Wasserstrasse. – Fische sah man hier keine. Natürlich konfrontierten die Aussteller*innen die Besucher auch mit seinen Umweltproblemen. Informiert wurde einerseits darüber, dass der Fischbestand aufgrund der freigesetzten chemischen Schadstoffe und Hormone durch die Chemie- und Pharmaunternehmen weiterhin kontinuierlich schwindet. Andererseits erfuhren sie hier, dass der Rhein der am stärkste mit Mikroplastikpartikeln verseuchte Fluss der Welt ist. Diese sogenannten „Weichmacher“ verändern nicht nur die DNA des Menschen, sondern fördern auch Krebserkrankungen und Unfruchtbarkeit. Von Seiten der Behörden wird die Wasserqualität des Rheins jedoch nichtsdestotrotz als „gut“ und „unbedenklich“ eingestuft. Und die Basler Bevölkerung fühlt sich weiterhin sicher. Sie gibt sich dem Badespass hin – bevor das Ende naht.

 

Der vollständige Umfragebericht der „Aktion Selbstschutz“ und der SGSG kann hier runtergeladen werden! Er ist in zwei Teile gegliedert: 1) Umfragebericht und Ergebnisse und 2) Dokumentation-Augenzeugenberichte.

 

Literatur: Forter, Martin: Falsches Spiel: Die Umweltsünden der Basler Chemie vor und nach «Schweizerhalle», Zürich 2010; Ders.: Farbenspiel. Ein Jahrhundert Umweltnutzung durch die Basler chemische Industrie, Zürich 2000; Grosser Rat des Kantons Basel-Stadt, 79. Jahrgang, 1986/87 (Ausserordentliche Sitzung vom 27. November 1986); Sandoz Katastrophe. Die gesundheitlichen Folgen. Ergebnisse der Umfrage der Aktion Selbstschutz und der Schweizerischen Gesellschaft für ein soziales Gesundheitswesen (SGSG), Gazette der Aktion Selbstschutz, Nr. 6, Juni 1987, hg. v. Aktion Selbstschutz, Basel 1987.

Zitate (siehe vollständige Literaturangaben): Forter (2010); Grosser Rat, Ausserordentliche Sitzung (1986/87); Umfrage Aktion Selbstschutz (1987).

Bildernachweise: Titelbild, Abb. 3) Sozialarchiv.ch; Abb. 2, 5) Srf.ch; Abb. 4) Barfi.ch; Abb. 6 -8) Forter, Martin: Falsches Spiel: Die Umweltsünden der Basler Chemie vor und nach «Schweizerhalle», Zürich 2010.

 

 

By |2023-10-28T12:48:18+00:00November 1st, 2019|AnGSt|0 Comments
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