Angstphysik – Warum Angst tödlich sein kann

Die Angst ist in ihrer ursprünglichen Form nichts anderes als pure Energie. Das biologische Angsterleben nimmt schliesslich nicht nur mit einem Reizimpuls seinen Anfang. Vielmehr setzt dieser Impuls auch spezielle Körpermechanismen in Gang, welche die Antriebsenergie hochfahren und den Menschen aktionsbereit machen. Die Angstenergie ist zwar ebenfalls den Naturgesetzen der Physik unterworfen, doch sie stellt auch eine physikalische Grösse für sich dar.

 

Kapitel: Energiequelle – Triebkraft – Energiedruck – Energiekreislauf – Energieübertragung – Sender und Empfänger – Kreativer Fluss – Materialisierte Angstenergie – Energiespirale – Kommunikationsfluss – Überreizung – Reizgewöhnung

 

Energiequelle
Gluehbirne

Abb. 1) Antriebsenergie: die biologische Angst zeichnet sich durch ihren energetischen Charakter aus. Sie macht den Menschen aktionsbereit und gibt ihm die „Kraft“, um sich im Überlebenskampf durchzusetzen und sich fortzupflanzen.

Der Mensch besteht aus Materie und somit aus gebündelter Energie. Kein Wunder, ist die Energie, die er aus der Sonne und vor allem aus der Nahrung bezieht, auch sein Lebenselixier. Energie in Bewegung umzuwandeln ist wiederum eine Hauptaufgabe der Angst. Sie ist schliesslich für das körperliche und geistige Überleben des Menschen verantwortlich und soll eine gesunde Wechselwirkung zwischen ihm und seiner Umgebung ermöglichen. Aus denselben Gründen passen sich sein Angstverhalten und seine Angstvorstellungen (Ängste) auch immer der Umwelt an.

Im Mittelpunkt der biologischen Angst steht die Amygdala. Bei ihr handelt es sich um einen sogenannten Überlebensmechanismus. Die Amygdala fungiert als eine Art Schaltzentrale, die Sinnesreize (aus dem Organismus oder der Umwelt) auf ihren Stärkegehalt hin überprüft und die Reaktionen auf sie koordiniert. Die Reize selbst – und damit auch ihre Auslöser – werden dabei in zwei Kategorien eingeteilt: in solche, die das eigene Leben potenziell gefährden (schädlich) und solche, die es stärken könnten (nützlich).

Wird unser Angstmechanismus durch einen starken Reizimpuls aktiviert, übernimmt er unverzüglich die Kontrolle über den Organismus und leitet spezielle körperliche Reaktionen ein. Sie versetzen den Körper in Erregung und mobilisieren die vorhandene Körperenergie. In ihrer Funktion als Koordinatorin dieser sogenannten Antriebsenergie agiert die Amygdala für gewöhnlich inkognito. In den allermeisten Fällen empfinden wir während einer Angstsituation daher auch kein Angstgefühl und auch unsere Erregung wird uns normalerweise nicht bewusst.

 

 

Triebkraft
Steckdose - Angstgesicht

Abb. 2) Die Angst setzt den Menschen in Bewegung, damit er Energie aufnehmen (u.a. Nahrung) oder sie materialisieren kann (u.a. Produzieren von Kleidung).

Bereits die alten Philosophen und Literaten vor über zwei Jahrtausenden beschrieben die Angst als einen Erregungszustand und die stärkste Triebkraft des Menschen. Um einkaufen zu gehen, einem Auto auszuweichen, eine Jacke zu produzieren, nach einer Wasserflasche zu greifen oder einen attraktiven Sexualpartner zu umwerben, braucht er schliesslich die nötige Antriebsenergie. Ohne die Fähigkeiten, Angst erleben zu können, würde der Mensch nichts davon tun.

Der Mensch braucht Energie, um seinen Organismus am Laufen zu halten und seinen Körper in Bewegung setzen zu können. Sein Angstmechanismus setzt sie dort ein, wo sie gebraucht wird. Seine Angst sorgt also dafür, dass er sich nimmt, was er zum Überleben braucht und Gefahren abwehren kann, falls ihm eine Schädigung oder sogar der Tod droht. Daher bestimmt sie auch immer über seine Beweggründe. Sie sind ebenfalls für gewöhnlich nur dem Unterbewusstsein bekannt, soll der Mensch in einer Angstsituation schliesslich nicht lange „überlegen“, sondern sofort „handeln“.

Hätte der Mensch keine Angst vor der Einsamkeit oder vor dem Hunger, weder die Gesellschaft seiner Mitmenschen noch ein saftiger Apfel könnten ihn stark reizen. Was der Mensch für gewöhnlich als seine „Individualität“ wahrnimmt oder seine „persönlichen Vorlieben“ bezeichnet, ist in Wahrheit also nichts anderes als das, was sein Angstmechanismus als „nützlich“ oder „gefährlich“ einstuft. Aus diesem Grund kann er sich auch nicht nur „vor“, sondern auch „um“ jemanden oder etwas „ängstigen“.

 

 

Energiedruck
Gluehbirne

Abb. 3) Überschüssige Antriebsenergie: bereitgestellte beziehungsweise angestaute Antriebsenergie muss in Umlauf gebracht werden. Denn wird sie nicht in „Bewegung“ umgesetzt, hat dies schwerwiegende Folgen, wirkt sich doch angestaute Überschussenergie nachweislich zerstörerisch auf Körper und Geist aus.

Das Angstpotenzial des Menschen ist normalerweise so unsichtbar wie die Münzen im Wunschbrunnen. Seine Energie ist schliesslich in seinen Körperzellen gespeichert. Sichtbar wird es erst, wenn die Antriebsenergie bereitsteht. Sie treibt den Menschen jedoch nicht nur zur Bewegung an. Sie zwingt ihn auch, immer auf einen Angstauslöser zu reagieren.

Wird die Antriebsenergie hochgefahren, baut sich Druck im Inneren auf. Das bereitgestellte Energiepotenzial will zum Einsatz kommen, durch eine Handlung wieder freigesetzt werden. Ein Engegefühl ist die Folge. Der Mensch steht plötzlich unter dem Drang oder auch Zwang, handeln zu müssen. Es verwundert daher kaum, dass das „Wort Angst“ nichts anderes als die „Enge“ bedeutet.

Manchmal kommt es vor, dass ein Angsterleben initiiert wird und plötzlich die Nachricht reinkommt, dass doch keine Gefahr besteht oder der Nutzen die ganze Aufregung nicht wert ist. Vielleicht haben einem die Sinne einen Streich gespielt. In solchen Momenten sorgen spezielle biologische Mechanismen dafür, dass die Energiebündelung unterbrochen wird und die Erregung wieder abnimmt.

Nur allzu oft kommt es aber vor, dass der Mensch in Bewegung gesetzt wird, jedoch aufgrund bestehender Moral- oder Rechtsgrundsätze gezwungen ist, seine ihm angeborenen Verhaltensreaktionen zu unterdrücken. Beschimpft ihn beispielsweise ein Vorgesetzter, kann er weder vor ihm flüchten noch ihn angreifen, ohne Konsequenzen befürchten zu müssen. Was passiert nun mit der bereits mobilisierten Antriebsenergie? Sie wirkt fortan als eine Art Überschussenergie, die den Menschen weiterhin kontinuierlich „antreibt“ – und deren Auswirkungen sich auch in der Sprache offenbaren. Denn er bleibt „energiegeladen“, „gereizt“, „genervt“, „gestresst“, „angespannt“, „aufgeregt“ und „unter Druck gesetzt“.

Wird der Energiehaushalt nicht durch eine Flucht- oder Angriffsreaktion wieder ins Gleichgewicht gebracht, bleibt also auch der Druck im Körper bestehen. Daher kann der Mensch nicht nur sprichwörtlich „vor Energie platzen“, „explodieren“ oder „in die Luft gehen“, er muss tatsächlich ein Ventil suchen, um „Druck abzulassen“. Ansonsten fühlt er sich „bedrückt“, „eingeengt“ oder „beklemmt“. Kann er die überschüssige Angstenergie nicht einsetzen und etwas gegen seinen Zustand „unternehmen“, hat dies Folgen. Denn der Energiedruck wirkt sich nachweislich zerstörerisch auf seinen Organismus aus, beeinträchtigt er doch die Tätigkeit des Hormonsystems und der Organe.

 

 

Energiekreislauf
Gluehbirne

Abb. 4) Die Energie der Angst kann niemals zerstört, sondern immer nur weitergegeben werden. Um den Übergang zu ermöglichen, verändert sie immer wieder ihre Form.

Das die ursprüngliche Angst pure Energie ist und eine physikalische Grösse darstellt, zeigt sich nicht nur am Beispiel der biologischen Angst, sondern auch an ihrem Wortschatz. Nicht umsonst bezeichnen wir Personen, die angriffslustig sind, manchmal als „Hitzköpfe“ oder solche, die sich nach aussen hin angstlos zeigen als „coole Typen“. Wenn wir solche Ausdrücke benutzen, sind wir uns aber für gewöhnlich ebenfalls nicht bewusst, dass sie auf den energetischen Charakter der Angst zurückzuführen sind – oder besser gesagt: sich von ihm herleiten. Und dies ist kaum verwunderlich, hat die Angstenergie doch nun eine andere „Gestalt“ angenommen.

Der Energieerhaltungssatz wird als das wichtigste Prinzip der Naturwissenschaften bezeichnet. Er besagt, dass Energie nicht vernichtet und nicht erzeugt werden kann. Sie kann nur verschiedene Formen annehmen. Formuliert wurde der Energieerhaltungssatz erstmals 1847 durch den deutschen Physiker Hermann von Helmholtz (1821-1894). Die bekannteste Formel, die auf ihm aufbaut, ist E=mc² von Albert Einstein (1879-1955). Sie erklärt die Äquivalenz von Energie und Masse.

Am Beispiel des Energieerhaltungssatzes lässt sich sehr präzise erklären, warum sich auch die Angstenergie (Antriebs- und Überschussenergie) niemals in Luft auflöst, sondern immer wieder neue Formen annimmt. Ihr natürlicher Energiekreislauf umfasst schliesslich nicht nur die sinnliche Erfahrung, ihre biochemische Verarbeitung und das angeborene Angstverhalten. Alle Reaktionen, die durch ein Angsterleben ausgelöst werden (beispielsweise ein Zittern oder eine Flucht), senden ebenfalls immer starke Reize aus, die bei einem Beobachter die Amygdala aktivieren können.

 

 

Energieübertragung
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Abb. 5) Die Angst ist nicht nur sprichwörtlich „ansteckend“. Ihr grösstes Anliegen ist es schliesslich, die gesamte Spezies „Mensch“ vor dem Aussterben zu bewahren.

Der Physiker Gustav R. Kirchhoff (1824-1887) hat sich vor allem mit der Erforschung der Elektrizität beschäftigt. Er stellte das berühmte Strahlungsgesetz auf. Es besagt, dass jeder Körper bei Erwärmung eine kontinuierliche Strahlung abgibt, die je nach Temperatur sichtbar oder unsichtbar ist. Je wärmer das Objekt ist, umso höher auch sein vorhandener Energiegehalt. Erst eine Bewegung führt letztlich zum Verlust seiner Energie oder Stärke.

Am Beispiel des „Energieerhaltungssatzes“ und Kirchhoffs „Strahlungsgesetz“ lassen sich wichtige Naturgesetze der Angst aufzeigen. Sie erklären beispielsweise, warum die Angst tatsächlich – wie bereits die frühen Philosophen und Universalgelehrten es auszudrücken pflegten – ansteckend ist und auf andere übertragen werden kann. Die Natur hat es nämlich so eingerichtet, dass unsere Angst auch als Mittel zur Kommunikation dient. Von ihr hängt schliesslich nicht nur das eigene erfolgreiche Überleben ab, sondern auch das der ganzen menschlichen Spezies.

Eine in Erregung versetzte Person übt unweigerlich energetische Impulse auf ihre Mitmenschen aus. Nicht nur der Körper einer in Angst versetzten Person fängt daher automatisch zu vibrieren an, sondern auch diejenigen in ihrer unmittelbaren Umgebung. Bei einem anderen Menschen, der diese starken Reizsignale empfängt, kann also ebenfalls ein Angsterleben initiiert werden. Er weiss nun instinktiv, dass eine Gefahr droht oder etwas, das sein Überleben verbessern könnte, in Reichweite ist. Die Angst kommuniziert jedoch auch auf anderem Wege mit der Umwelt, zeigt sich die Erregung ja nicht nur in den angstbedingten Körperreaktionen (Zittern, Schwitzen usw.), sondern auch in Form anderer Reaktionen, wie der Mimik, einem veränderten Verhalten und anderen, nach aussen sichtbar gemachten Emotionen –, die ebenfalls wieder starke Reize aussenden.

Eine besondere Rolle bei der Beurteilung durch andere spielt vor allem die Aufmerksamkeit, die bei einem Angsterleben als erstes einsetzt. Sie soll uns dazu befähigen, den Auslöser der starken Reize zu identifizieren. Werden wir aufmerksam, bemerken unsere Mitmenschen dies natürlich ebenfalls. Ihr Angstmechanismus deutet unseren suchenden Blick oder unsere weltabgewandte Versunkenheit in uns selbst entweder als Warn- oder Nützlichkeitssignal. Schliesslich kann unsere Reizquelle nicht nur für uns, sondern auch für andere eine Gefahr oder einen Nutzen darstellen. Daher fragen Leute, die von uns angesteckt werden, nicht selten: „Was ist mit dir los?“, „Was geht in dir vor?“, „Was bewegt dich?“ oder auch „Was willst du nun unternehmen?“

 

 

Sender und Empfänger
Gluehbirne

Abb. 6) Dass Angst und Wut dasselbe sind, also denselben Zustand beschreiben, hat der Physiologe Walter B. Cannon (1871-1945) bereits vor über hundert Jahren empirisch nachweisen können.

Der Mensch erlebt in erster Linie unter anderen Menschen Angst. Hier herrscht schliesslich auch das Molekülchaos, hier springen die Angstreize von einem zum anderen über und wirken „elektrisierend“. Besonders gut versinnbildlichen können dies die unheilvolle Massenpanik oder auch Massenschlägereien, die beide oft zu Verletzungen oder sogar Todesfällen führen. Aber auch die Sozialphobie ist an dieser Stelle erwähnenswert, die nicht umsonst die am häufigsten anzutreffende „Angsterkrankung“ darstellt – und vermutlich auch die am häufigsten verschwiegene. Die Sozialphobie und die Panik werden jedoch im Gegensatz zur Schlägerei normalerweise unwillentlich durch die Mitmenschen ausgelöst.

Wer andere willentlich zu elektrisieren versucht, um „Dampf abzulassen“ oder seinem Willen „Nachdruck“ zu verleihen, muss selbst gewaltig „unter Strom stehen“. Ein Angstauslöser zeichnet sich daher auch dadurch aus, dass er durch Worte oder sein Verhalten starke Reizimpulse aussendet, um sein eigenes überschüssiges Energiepotenzial wieder loszuwerden. Ein Geängstigter wiederum ist sozusagen der Energieempfänger, wird doch bei ihm die Antriebsenergie hochgefahren und zumeist auch angereichert.

Zwischen den Menschen kann es nicht nur „knistern“, es können auch die „Funken sprühen“. Doch wo liegt der Unterschied? Tatsächlich fällt es vor allem einem Aussenstehend sehr oft schwer, Angstauslöser und Geängstigter auseinanderzuhalten, und dies nicht ohne Grund. Denn um die Energiezufuhr und -abfuhr zu regeln, mutiert der geängstigte Mensch immer zum Auslöser von Angst und umgekehrt. – Stellen Sie sich nur einmal ein schreiendes Baby und seine aufgeschreckte Mutter vor oder aber eine erschreckte Mutter, die ihr Kind zum Weinen bringt.

Die Energie sucht immer ihren Fluss. Entsprechend ist auch die Grenze zwischen Sender und Empfänger fliessend, wollen schliesslich beide etwas oder jemanden „in Bewegung setzen“. Besonders gut ist dieser Energieaustausch an der Flucht-oder-Angriff Reaktion aufzuzeigen. Aus biologischer Sicht ist die Angriffsreaktion nämlich darauf ausgerichtet, einen Angstauslöser in Angst zu versetzen; während der Flüchtende wiederum immer eine Angstreaktion auslöst, da die Bewegung ein angeborener Auslöser von Angriffen ist. Besonders gut nachvollziehbar ist der Austausch auch am Verhalten eines Menschen, der durch eine erregte Person angesteckt wird und die auf ihn übertragene Energie auf sie zurückwirft. Reagiert er nämlich mit einem „Komm mal wieder runter!“ oder „Jetzt reg dich mal wieder ab!“, initiiert er automatisch beim Auslöser wieder ein Angsterleben, da solche Kommentare einen aggressiven Akt darstellen und von der Amygdala entsprechend als Angriff gewertet werden.

 

 

Kreativer Fluss
Energie

Abb. 7) Die Angst ist die Mutter der Kreativität. Sie befähigt den Menschen, Probleme zu lösen und Überschussenergie zu kanalisieren und materialisieren.

Starke Reize können aus unserem Organismus kommen. Sie setzen uns in Bewegung, damit wir uns Nahrung oder einen Sexualpartner suchen. Sie können aber auch von aussen auf uns eindringen, damit wir mit unserer Umwelt agieren und auf ein Essen oder attraktive Person aufmerksam werden. Bei den Angstauslösern kann es sich aber nicht nur um die Organe oder andere Menschen handeln. Auch anorganische Objekte bestehen aus Materie, geben Strahlungen ab und können uns stark reizen.

Die moderne Physik geht von der Überlegung aus, dass unser Gehirn den Input von unseren Sinnesorganen interpretiert und ein Modell „der Welt“ anfertigt. Kein Wunder, ging irgendwann im Verlaufe der Evolutionsgeschichte die Amygdala mit der Grosshirnrinde, die unser Bewusstsein hervorbringt, eine Verbindung ein. Für den Menschen bedeutete dies einen immensen evolutionären Vorteil. Fortan konnte er nicht nur starke Reize aus seinem Inneren und seiner Umgebung wahrnehmen und auf sie reagieren, sondern auch über die Reizquelle nachdenken, ihre Gefahr oder Nützlichkeit für sein Überleben einschätzen und Strategien entwickeln, um ihr zu entkommen oder sie für sich in Anspruch zu nehmen.

Ihr Zusammenkommen markiert für den Menschen die Geburtsstunde seiner Kreativität. Sie soll ihm dabei helfen, Mittel und Wege zu finden, falls die Reaktion auf einen Auslöser behindert wird. Seit jeher nutzt der Mensch sie daher auch, um der unsichtbaren Angst Konturen zu geben und sie für sich sichtbar zu machen. Als er sich seiner selbst und seiner Angst bewusst wurde, bot sie ihm aber auch eine neue Möglichkeit, seine Überschussenergie zu konservieren und – wenigstens für eine Zeitlang – im Zaum zu halten. Die Konservierung selbst wurde in erster Linie durch die Gemeinschaftsbildung und Hierarchisierung nötig. Denn fortan bestimmten die „höher Stehenden“, wovor man sich ängstigen darf; was man bekämpfen oder in Anspruch nehmen und vor wem oder was man flüchten darf. Seither nutzt der Mensch seine Kreativität daher auch vor allem dazu, sein individuell-natürliches Angstverhalten zu kaschieren, seine unerwünschten Ängste zu verschleiern und sein überschüssiges Angstpotenzial zu materialisieren.

 

 

Materialisierte Angstenergie
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Abb. 8) Dass sich der Mensch eine Welt voller Zwänge geschaffen hat, zeigt sich vor allem an seiner Produktionswut -, die seine Umwelt zerstört.

Der Mensch, der nicht mit einer natürlichen Flucht- oder Angriffsreaktion auf seine Angst reagieren kann und Überschussenergie anreichert, wird „umtriebig“. Er beginnt mit Hilfe seiner Kreativität Mittel und Wege zu suchen, um eine Reaktionsmöglichkeit herbeizuführen – schliesslich geht es um „Leben oder Tod“. Manche suchen in solchen Momenten die Flucht in Tagträume, Mordphantasien oder Liebesaffären. Andere wiederum nehmen ihre Angst in Angriff. Sie versuchen ihre „ganze Energie“ in ein Projekt, eine Erfindung oder in die Herstellung eines Objekts zu „stecken“, um die überschüssige Energie loszuwerden.

Im Fall der materialisierten Angst kommen der „Energieerhaltungssatz“ und das „Strahlungsgesetz“ schliesslich gleichfalls zum Tragen. Nicht nur, weil die überschüssige Angstenergie ebenfalls verschiedene Formen annehmen kann, sondern auch, weil die Schöpfungen, die sie hervorbringt, immer auch die Fähigkeit besitzen, wieder starke Reize auszusenden – egal, ob es sich bei ihnen um Worte, Kunstwerke, Waffen, Musik, Medikamente oder aber Umwelt-Initiativen, Sozial-Bewegungen und Sport-Aktivitäten handelt. Und auch sie halten manche vielleicht für nutz- oder gefahrlos, andere jedoch für nützlich oder schädlich.

Die überschüssige Energie kann also nicht nur durch Faustschläge oder Waffengewalt, sondern auch in Begriffen, Ideologien oder in Geschenkpapier verpackt an die Mitmenschen weitergereicht werden. Zwar besitzt sie nun eine andere „Form“, doch auch in dieser dient sie als Kommunikationsmittel. Besonders gut zu veranschaulichen ist dies am Beispiel der Göttergaben, Götzenbildung, magischen Beschwörungen, religiösen Ritualen oder traditionellen Wettkämpfen, die zu den frühsten Formen der Angstbewältigung gehören.

Spätestens jetzt zeigt sich aber auch ein erster Knackpunkt der Angst und warum sie sich negativ auf die Beziehungen zwischen den Menschen auswirken kann. Denn nicht selten wandelt sich die facettenreiche Überschussenergie in diesem Stadium ihres Seins auch zu einem Machtinstrument. Schliesslich wollen auch andere über ihre Schöpfungen verfügen oder Einfluss auf sie nehmen, um die eigenen angstbedingten Probleme und Hindernisse zu bewältigen und ihre Überlebenschancen zu verbessern.

 

 

Energiespirale
Energiespirale

Abb. 9) Angstenergie kann nur durch eine Reaktion auf den wahren Angstauslöser auf gesunde Art und Weise abgegeben werden. Wer sie auf Kosten eines Ersatzobjekts zu verarbeiten versucht, der wird unweigerlich scheitern.

Der Kreislauf der Angst wandelt sich zur Spirale, wenn ein Geängstigter nicht auf den wahren Angstauslöser reagieren kann. Hier liegt wiederum der eigentliche Knackpunkt, warum der Mensch – psychisch und physisch – an seiner Angst erkranken (und letztlich auch sterben) kann. Denn die Angst kann ausschliesslich durch die Konfrontation mit dem wirklichen Auslöser oder einer erfolgreichen Flucht vor ihm bewältigt werden. Weder die Wahl eines Ersatzobjekts, dem die Rolle des Angstauslösers aufgezwungen wird, noch eine Flucht in die Phantasiewelt oder stundenlanges Trainieren vermögen die Überschussenergie vollständig abzubauen, da die Reizung anhält.

Dasselbe gilt also auch für die überschüssige Angstenergie, die auf kreative Weise konzentriert und konserviert wurde. Der kreative Akt soll zwar neue Wege eröffnen, um in einer ausweglos erscheinenden Situation oder im Fall von Hindernissen auf den wahren Auslöser reagieren und den Überschuss an Energie endgültig freisetzen zu können. Doch innerhalb der hierarchisierten Gesellschaftssysteme ist er vielmehr zur Ersatzhandlung degeneriert, welche die Aufmerksamkeit vom wahren Angstauslöser ablenkt. Daher bleibt nicht nur das Angstpotenzial bestehen, es erhöht sich auch kontinuierlich.

Wer beispielsweise seine Angst vor dem autoritären Vater durch die Gründung einer politischen Bewegung zu bewältigen sucht, die einem ungerechten Staat den Kampf ansagt, ist von Beginn an zum Scheitern verurteilt. Ebenso derjenige, der sich vor dem Alter fürchtet und tagtäglich sein Schönheitsprogramm abspult oder sich einem Facelifting unterzieht. Denn spätestens beim nächsten Gedanken an den Vater oder nächsten Blick in den Spiegel wird auch die Amygdala wieder aktiviert.

Dass sich nicht nur Angstverinnerlichung und Aktionslosigkeit negativ auswirken, sondern auch fehlgeleitete Ersatzhandlungen zur Bewältigung der Angst, zeigt sich besonders an der Wahl eines Ersatzobjekts. Da sich der Geängstigte immer zum Auslöser wandelt, richtet sich nämlich die Überschussenergie sehr oft gegen den Menschen selbst und gegen Unbeteiligte. Die politische Radikalisierung beispielsweise könnte dazu führen, dass man im Gefängnis landet oder sich ein Mensch- und Weltbild ausdenkt, das letztlich Millionen den Tod bringt. Die Angst vor dem Alter wiederum könnte dazu führen, dass man Alte diskriminiert oder aber, getrieben nach der ewigen Jugend, auf dem Operationstisch stirbt. So oder so zeigt sich, dass sowohl die Suche nach einem „Sündenbock“ als auch der „Kampf gegen sich selbst“ vielmehr Angstenergie produzieren anstatt sie abzubauen.

 

 

Kommunikationsfluss
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Abb. 10) Die Angst dient auch der Kommunikation mit den Mitmenschen. Dieser Umstand kann sich sehr positiv aber auch sehr negativ auf ein Kollektiv auswirken.

Die Angst kommuniziert nicht nur mit uns, sondern immer auch mit den Mitmenschen. Hätte der Mensch keine Angst vor dem Hunger, vor Krankheiten, vor dem Erfrieren oder der sozialen Isolierung, er hätte weder den Pflug und das Antibiotikum erfunden noch würde er Kleider herstellen und Organisationen gründen. Aus diesem Grunde wird die Kreativität für gewöhnlich auch positiv bewertet. Doch nicht nur die Antriebs-, sondern auch die Überschussenergie bedient sich der Kreativität, warum man ihr stets mit Misstrauen begegnen sollte. Schliesslich entspringen ihr auch Feindbilder, Mordpläne, Blondinen-Witze und Terrorvereinigungen.

Dass sowohl die Kreativität als auch die Konzentrierung von Überschussenergie ihre Schattenseiten haben, zeigt sich auch am Beispiel des Zivilisationsprozesses. Wo Gesellschaften ein grosses Angstpotenzial anreichern, wird nämlich nicht nur immer sehr viel „erfunden“, viel „produziert“ und viele „Informationen ausgetauscht“, sondern auch ständig nach „Aufmerksamkeit“ verlangt, soll der Energieüberschuss doch „übertragen“ werden. Es erstaunt daher auch kaum, dass nach Kriegszeiten nachweislich immer zuallererst die Kunst, Musik, Theater und Mode eine Blütezeit erleben.

Eine besondere Hochzeit erlebt in Krisenzeiten daher immer auch der technische Fortschritt im Bereich Kommunikation: Flaschenpost, Buchdruck, Telegraphie, Radio, Kino, Fernsehen oder Internet, sie alle wurden in Zeiten der Angst erfunden – wobei die Modernsten bekanntlich nur dank der Elektrizität genutzt werden können. Die technischen Möglichkeiten der Nachrichtenverbreitung haben sich im Verlaufe der Menschheitsgeschichte zwar immer wieder verändert, ihre Funktion ist jedoch seit jeher dieselbe: der Informationsaustausch, um Ängste zu schüren oder sie zu besänftigen.

Am besten nachvollziehbar ist die Aufgabe der Kommunikation am Beispiel der Werbung, die schon immer als erste von neuen Technologien profitiert hat. Sie appelliert schliesslich ebenfalls an die Angst der Konsumenten, bauen ihre Kampagnen doch entweder auf einer Warnung oder einem Versprechen auf. Sie, wie die Erzeugnisse und Dienstleistungen, die sie anpreist und zum Grossteil der Überschussenergie entspringen, tragen jedoch nicht nur dazu bei, Mensch- und Weltbilder zu verändern und im Bewusstsein der Leute zu manifestieren. Sie bringen seit jeher auch Angstvorstellungen hervor, die für das wirkliche Überleben in keiner Weise wichtig sind und den Menschen nicht vor dem biologischen, sondern vielmehr „sozialen Tod“ bewahren sollen.

Da sich die Angst immer ihrer Umwelt anpasst, kann dies für den Menschen daher auch negative Folgen haben. Ein gutes Beispiel ist das „Selfie“, das nur allzu oft der Angst vor sozialer Isolierung und der eigenen Bedeutungslosigkeit entgegenwirken und bei anderen die Aufmerksamkeit erregen soll – die man sich eigentlich von jemand ganz anderem gewünscht hat. Bei vielen löst der Gedanke, kein neues und noch aufsehenerregenderes Eigenbild ins Internet stellen zu können, ein unnötiges Angsterleben aus. Nicht wenige unter ihnen begeben sich sogar in Todesgefahr, nur um diese Art der Eigenwerbung betreiben zu können. Dabei verbessert es weder die Überlebenschancen noch bewältigt es die Angst vor Wertlosigkeit und Ausgrenzung.

 

 

Überreizung
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Abb. 11) Das Gehirn kann nur dann angemessen auf Reize reagieren und sie verarbeiten, wenn der Mensch sie mit Hilfe seiner Sinne wahrgenommen hat. Aus diesem Grunde stellt die geistige Angst, die durch Erziehung oder Ideologien Verbreitung findet, sein grösstes Problem dar. Denn sie löst immer wieder aufs Neue ein Angsterleben bei ihm aus.

Kann der Mensch nicht mit seinem natürlich-angeborenen Verhalten auf seine Angst reagieren, wird er kreativ. Wird jedoch die Kreativität ebenfalls durch Verbote eingeschränkt, beginnt er sprichwörtlich gesprochen „den Teufel an die Wand zu malen“ und sich „das Schlimmste vorzustellen“. Schliesslich können nicht nur böse Menschen oder hungrige Löwen die Amygdala aktivieren, sondern auch Vorstellungen, Worte oder Ideen. Das Gehirn kennt schliesslich keinen Unterschied zwischen Realität und Phantasie.

Die Erkenntnisse der Neurowissenschaften zeigen, dass die Angst dann den grössten Einfluss auf das Gehirn hat, wenn der Reiz der Vorstellungskraft überlassen bleibt und nicht unbedingt bewusst wahrgenommen wird – mit anderen Worten: wenn eine Person manipuliert wird. Nur eine direkte, bewusste Wahrnehmung (zum Beispiel der Anblick eines ängstlichen Gesichtes oder Feuers), ermöglicht es dem Menschen, genau einzuschätzen, ob wirklich eine Bedrohung vorliegt oder nicht.

Vor allem der moderne Mensch, der seine Kommunikationstechnologie zum „heiligen Gral“ erkoren hat, versetzt sich heute tagtäglich freiwillig in Angst, indem er Radio hört, Fernsehen schaut, Zeitungen liest oder im Internet surft. Unbekümmert wie ein Säugling saugt er auf diesem Wege unzählige Gefahrenwarnungen wie auch Nützlichkeitsversprechen auf – und verinnerlicht fast ebenso viele unnötige Ängste. Besonders problematisch ist diesbezüglich, dass das biologische Angstsystem keinen Schutzmechanismus besitzt, welcher der Angstverbreitung Einhalt gebieten könnte. Schliesslich ist es darauf justiert, Erfahrungen zu sammeln und zu lernen. Nur das völlige Abschotten der Sinne könnte das Auslösen eines Angsterlebens verhindern. Der Mensch, der keine Sinneseindrücke mehr wahrnehmen kann, ist jedoch normalerweise auch ein toter Mensch.

Wird das Angstsystem mit zu viel starken Sinneseindrücken überflutet oder kommt es nicht mehr zum Stillstand, kollabiert es. Bei einer Störung reagiert der menschliche Körper daher auch tatsächlich wie eine Glühbirne: er gibt zuerst ungewöhnlich viel Energie ab und explodiert schliesslich – äusserlich wie innerlich. In besonders vielen Fällen äussern sich Überreizung und Überschussenergie daher auch in der Gewalt, in einer Depression oder im Stress, der früher oder später in einem „Burn-Out“ mündet. Und sie alle verkürzen die Lebenserwartung drastisch.

 

 

Reizgewöhnung
Gluehbirne

Abb. 12) Dringen zu viele starke Reize auf den Menschen ein, stumpfen seine Sinne ab. Er kann keine Gefahren mehr wahrnehmen und ist sich auch nicht bewusst, dass sein Organismus um sein Überleben kämpft.

Unser Angstmechanismus koordiniert inkognito und ohne unser willentliches Zutun den Einsatz der körpereigenen Antriebsenergie und hält sie in ihrem natürlichen Fluss. Wenn dem Menschen seine Angst bewusst wird, ist dies für gewöhnlich kein gutes Zeichen und ein Hinweis darauf, dass er gerade in Gefahr ist, verletzt zu werden und zu sterben. Hat er zu viel ungesunde Überschussenergie angereichert, ist dies auch tatsächlich der Fall.

Werden die Sinne wahllos mit Angstreizen überflutet, ist nicht nur die Überreizung, sondern auch die Reizgewöhnung vorprogrammiert. Ein Organismus, der andauernd erregt ist und unter Druck steht, kann schliesslich kaum mehr starke Reize wahrnehmen. Gestört wird durch sie aber auch die natürliche Kommunikation des Angstsystems. Der Informationsaustausch wird zwar auf ein Minimum reduziert, um Körper und Geist zu schützen, doch bietet die Reduktion keinen Schutz, sie verlangsamt nur den bereits eingesetzten Sterbeprozess. Er zeigt sich in der Abstumpfung, Verdrängung und Verleugnung.

Sobald die Überreizung die Informationsleitungen sabotiert, wird die Zusammenarbeit zwischen Amygdala und Grosshirnrinde erschwert. Der Mensch ist kaum noch in der Lage, Gefahren und Nützliches für sein Überleben wahrzunehmen oder zu unterscheiden. Was ihn bedroht und was ihn stärken könnte, wirkt sich nun oft nicht mehr aktivierend auf ihn aus, treibt ihn nicht mehr an und setzt ihn somit auch nicht mehr in Bewegung. Der überreizte Mensch nimmt daher, zumeist ohne, dass es ihm bewusst wird, das Sterben von Geist und Körper ohne Abwehr in Kauf.

Die Hauptangst des modernen Menschen ist die vor dem „sozialen Tod“, die der  Angst vor sozialer Isolierung entspringt. Sie hält ihn mittels Zwang zur Angstverinnerlichung und Aktionslosigkeit in einer Dauererregung gefangen. Aus diesem Grunde steht der Geängstigte nicht nur seinem eigenen Tod mit Gleichgültigkeit gegenüber, sondern auch dem seiner Mitmenschen. Schliesslich führen Überreizung und Reizgewöhnung auch dazu, dass die Fähigkeit zur Empathie verloren geht. Lässt einen die Angst, die Schädigung und das Sterben der anderen „kalt“, dann ist dies ein Hinweis darauf, dass man bereits in der Selbstisolierung lebt, die keinerlei Schutz mehr bietet. Wird die natürliche Angstproduktion vergrössert, der Energiefluss zum Energiestrom und Überschussenergie angereichert, wirkt sich dies also nicht nur negativ auf die Wechselbeziehung zwischen Mensch und Umwelt aus, sondern letztlich auch auf die gesamte menschliche Spezies.

 

Literatur: Angaben zur Amygdala und dem Angstwortschatz siehe die Literaturangaben in den Beiträgen „Amygdala“ und das „Wort Angst“. Des Weiteren: Elias, Norbert: Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen. Wandlungen der Gesellschaft. Entwurf zu einer Theorie der Zivilisation, Bd. 2, Frankfurt a.M. 1980; Kandel, Eric R.: Auf der Suche nach dem Gedächtnis. Die Entstehung einer neuen Wissenschaft des Geistes, München 2006; Leyhausen, Paul: Zur Naturgeschichte der Angst, in: Die politische und gesellschaftliche Rolle der Angst, hg. v. Heinz Wiesbrock, Frankfurt a.M. 1967. Zu den Naturgesetzten der Physik siehe u.a. Hawking, Stephen und Mlodinow, Leonard: Der grosse Entwurf. Eine neue Erklärung des Universums, Reinbek bei Hamburg 2011.

Bildernachweise: Titelbild, Abb. 1-12) Pixabay.com.

By |2023-11-01T05:53:40+00:00Oktober 1st, 2019|AnGSt|0 Comments
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