RAF – Terrorangst in Deutschland

Die „Rote-Armee-Fraktion“ (RAF) war eine linksradikale Gruppe, die zwischen 1970 und 1998 von West-Berlin aus mit Mordanschlägen, Sprengstoffattentaten, Entführungen und Geiselnahmen die damalige Bundesrepublik Deutschland (BRD) in Angst versetzte. Ihr Ziel war es, den „staatlichen Herrschaftsapparat“ zu zerstören und die Ungerechtigkeit durch den Kapitalismus zu beseitigen. Ihre Aktionen haben letztlich aber nicht nur die Furcht vor dem Terror und vor weiblichen Terroristen geschürt. Sie haben auch zur staatlichen Einschränkung der Menschen-, Grund-, und Bürgerrechte geführt.

 

Kapitel: Vorgeschichte – RAF Generationen – Der „Deutsche Herbst“ – Isolationsangst – Schwanengesang: das Ende der RAF – Vergangenheitsbewältigung – Öffentlichkeit und Mordopfer – Terroristinnen-Schreck – Staatliche Angstbewältigung – Was ist Terrorismus?

 

Vorgeschichte

Andreas Baader (1943-1977), Gudrun Ensslin (1940-1977), Ulrike Meinhof (1934-1976), Jan-Carl Raspe (1944-1977) und Horst Mahler (geb. 1936) werden heute zu den wichtigsten Gründungsmitgliedern der RAF gezählt. Was als erstes ins Auge fällt, sind ihre Geburtsdaten: sie alle kamen kurz vor oder während des Zweiten Weltkriegs (1939-1945) zur Welt. Damit gehörten sie nicht nur zur Nachkriegsgeneration. Sie waren auch die Kinder, deren Eltern, Verwandte und Nachbarn aufgrund ihrer Kriegserfahrung unter unzähligen Problemen zu leiden hatten: Ängste, Depressionen, posttraumatische Belastungsstörungen, Aggressionszustände aber auch Minderwertigkeitsgefühle und Selbsthass.

Hinzu kam nämlich, dass die RAF-Gründungsmitglieder Angehörige eines Staates waren, dem die ganze Welt die Schuld am Zweiten Weltkrieg und an der Ermordung von Millionen von Menschen gab. Ihre Diffamierung als gewissenlose „Nazis“ (die bis heute anhält) brandmarkte die Deutschen als Personifizierung des „Bösen“, was sich natürlich auch auf das Selbstwertgefühl der Nation und Bevölkerung negativ auswirkte. Sie löste nicht nur Identitätskrisen aus, sondern auch neue Ängste.

Sternenmarsch auf Bonn

Abb. 1) Demonstration: „Sternenmarsch auf Bonn“ (11. Mai 1968).

Der Wiederaufbau Europas nach dem Krieg mündete in den 1950er und zu Beginn der 1960er Jahre vor allem in der damaligen BRD im sogenannten „Wirtschaftswunder“. Der Wirtschaftsboom brachte vielen einen bis dahin unbekannten Wohlstand und unterstützte den Glauben an das kapitalistisch-demokratische System. Eine „bessere Zukunft“ selbst für die Kriegsverlierer schien in Sicht. Doch schon Mitte der 1960er Jahre zeichnete sich global eine Zeit der Wirtschaftskrisen ab. Vor allem die sogenannten „Ölkrisen“ (1973/1979-1980) hatten in den Industrieländern viele Entlassungen zur Folge und führten zu einer Verarmung breiter Bevölkerungsschichten.

Die USA, die zum Grossteil den Wiederaufbau Westdeutschlands mitfinanzierte (Marshallplan) und ihren modernen Kapitalismus zu etablieren versuchte, führte jedoch ebenfalls Kriege. Der sogenannte „Kalte Krieg“ (1947-1989), der auf globaler Ebene die Angst vor dem Kommunismus schürte, war geprägt von etlichen militärischen Auseinandersetzungen, die zumeist in armen Ländern geführt wurden (Stellvertreterkriege). Aufgrund seiner Langlebigkeit und hohen Opferzahl war es vor allem der „Vietnamkrieg“ (1955-1975), der die Menschen und allen voran die Jugend mobilisierte, um für eine „bessere Welt“ einzutreten.

Die weltpolitische Lage war für viele junge Menschen ein Grund, sich einer der unzähligen Protest- und Studentenbewegungen anzuschliessen, die vor allem in den 1960er Jahren wie Pilze aus den Böden schossen. Ihre Anhänger verstanden sich als „Freiheitskämpfer“, die nicht nur mittels Kundgebungen und Demonstrationen für die Menschenrechte und ein Ende des Tötens eintraten, sondern sich auch besonders stark mit der kapitalistisch ausgebeuteten „Dritten Welt“ solidarisierten. Doch auch ihre Einstellungen waren unterschiedlich. Die einen schrieben „Make Love Not War“ auf ihre Banner und flüchteten sich besonders gerne in den Drogenrausch. Die anderen wollten die Probleme in Angriff nehmen, was nicht selten in der politischen Radikalisierung und in öffentlichen Gewaltakten mündete.

Die Gründung der RAF, die bezeichnenderweise vom besonders antikommunistisch eingestellten West-Berlin aus operierte, ist in diesem weltpolitischen Kontext zu sehen. Schliesslich betrachteten sich ihre Mitglieder ebenfalls als eine „soziale Protestbewegung“. Im Gegensatz zu den Bewegungen in den USA oder anderen europäischen Ländern, witterten sie ihren Hauptfeind jedoch im „Inneren“. Schliesslich rekrutierten sich die staatslenkenden Persönlichkeiten (u.a. Politiker, Wissenschaftler, Professoren und Unternehmer) aus ehemaligen treuen Nationalsozialisten. Zu ihnen zählte auch Kurt Georg Kiesinger, der von 1966-1969 Bundeskanzler war.

 

 

RAF Generationen
RAF-Steckbrief

Abb. 2) RAF-Fahndungsplakat.

Die RAF wurde 1970 ins Leben gerufen. Ein offizielles Gründungsdatum ist jedoch unbekannt und eine formelle Gründungszeremonie wurde angeblich nie abgehalten. Ihre Bezeichnung als Rote-Armee-Fraktion fand erstmals 1971 in einem von Ulrike Meinhof verfassten Text Erwähnung.

Mit ihrer Namenswahl wollten die RAF-Gründer und Gründerinnen vermutlich nicht nur ihre Anlehnung an die kommunistische Philosophie deutlich machen, sondern auch an die latente Angst vor einem möglichen Einmarsch der Russen appellieren, die aufgrund der Nähe vor allem in Berlin verbreitet war. Die russische „Rote Armee“, von der sie ihren Namen herleitete, hatte Ende des Zweiten Weltkriegs die letzten überlebenden Häftlinge von Auschwitz befreit. Dass es sich bei ihr um das Heer Josef Stalins und damit eines totalitären Staates handelte (den die RAF ja eigentlich bekämpfte) wurde dabei jedoch gekonnt ausgeblendet.

Die Geschichte der RAF wird heute in drei „Generationen“ unterteilt, da sich die Strategien, Zielsetzungen aber auch Ideologie ihrer Mitglieder teilweise sehr voneinander unterschieden. Die 1. Generation (1970-1975) wurde durch die oben genannten Gründungsmitglieder geprägt, die im Mai 1970 nach einer gewaltsamen Befreiungsaktion Baaders aus der Haft die RAF ins Leben riefen. Baader hatte sich bereits im April 1968 mit Gudrun Ensslin nach Paris abgesetzt, um einer Gefängnisstrafe wegen Brandstiftung in zwei Frankfurter Kaufhäusern zu entgehen, war aber schon bald festgenommen worden. Nun flüchteten er und seine Befreier nach Jordanien, wo die Gruppe eine militärische Ausbildung absolvierte. Schon im August kehrten sie jedoch wieder in ihre Heimat zurück.

Bei den frühen Vergehen der 1. Generation handelte es sich vor allem um Delikte, welche die Ressourcen für den „bevorstehenden Kampf“ beschaffen sollten. Banküberfälle sollten das nötige Kleingeld heranschaffen, um Waffen zu kaufen oder Wohnungen für den Unterschlupf anzumieten, Autos wurden gestohlen und Ausweispapiere gefälscht. Der eigentliche Kampf gegen das „Schweinesystem“, wie sie es nannten, nahm erst mit der sogenannten Mai-Offensive im Mai 1972 ihren Anfang. Sie umfasste unter anderem Bombenanschläge auf US-Kasernen (Frankfurt und Heidelberg), das Axel-Springer-Hochhaus (Hamburg), eine Polizeidirektion (Augsburg) und ein Landeskriminalamt (München) sowie einen Richter des Bundesgerichtshofes in Karlsruhe.

 

 

Der „Deutsche Herbst“
Bild-Titelblatt 1977

Abb. 3) Die erste Generation der RAF setzte sich für eine „bessere Welt“ ein, die zweite jedoch nur noch für die Entlassung ihrer Gründer. Das „Bild“-Titelblatt vom 16. September 1977 zeigt Helmut Schmidt, der von 1974-1982 Bundeskanzler war.

Die nach den Anschlägen ausgelöste Fahndung nach den RAF-Attentätern und Attentäterinnen war erfolgreich, konnte die Polizei innerhalb eines Monats doch die meisten der Gründungsmitglieder festnehmen. Eine weitere erfolgreiche Verhaftungswelle folgte 1974. Von nun an führten die RAF-Gründer und Gründerinnen ihren Kampf vom Gefängnis aus fort.

Mit der 2. Generation (1975-1981) der RAF verschoben sich nicht nur die Ziele der Protestbewegung, sondern auch ihre Ängste. Schliesslich waren ihre Mitglieder ihrer Anführer beraubt worden und mussten der Presse entnehmen, was sie bei einer Verhaftung zu erwarten hatten. Ironischerweise versagten die Angehörigen der 2. Generation in ihrer Rolle als „Befreier“ schliesslich gleich in zweifacher Weise. Denn der Freiheitskampf für das westdeutsche Volk wurde eingestellt und konzentrierte sich von nun an ausschliesslich darauf, die Inhaftierten freizupressen („Big Raushole“). Doch auch dieses Unternehmen war von Erfolglosigkeit gekrönt.

Terroristen sind ebenfalls Menschen und können nur mit einer Flucht- oder Angriffsreaktion auf ihre Angst reagieren. An eine Flucht in die Resignation war für die RAF-Mitglieder zu diesem Zeitpunkt jedoch nicht zu denken. Vielmehr eskalierte die Gewalt, wurde der Tod Unbeteiligter doch von nun an gewissenlos in Kauf genommen. Die 2. Generation gab ihr den Namen Offensive ’77. Darüber hinaus wurde auch das „Schachtfeld“ erweitert. Von nun an führte die RAF auch ausserhalb des deutschen Territoriums Anschläge durch und suchte die Zusammenarbeit mit Verbündeten im Ausland.

Der Terror erreichte im Jahre 1977 seinen Höhepunkt. Er ging unter der Bezeichnung „Deutscher Herbst“ in die Geschichte ein. Die RAF-Mitglieder verübten dazumal mehrere Mordanschläge gegen führende Staatsbeamte und Wirtschaftsunternehmer (u.a. Generalbundesanwalt Siegfried Buback und Vorstandsvorsitzender der Dresdner Bank Jürgen Ponto). Besonders beängstigend und nervenaufreibend für Polizei, Regierung und Bevölkerung waren die Entführungen des Arbeitgeberpräsidenten Hanns-Martin Schleyer (der letztlich erschossen wurde) sowie der Lufthansa-Maschine „Landshut“, welche die RAF gemeinsam mit der palästinensischen PFLP durchführte. Sie endete mit der Ermordung des Flugkapitäns Jürgen Schumann, der Erschiessung von vier Entführern und der Befreiung von 86 Geiseln durch die Sondereinheit GSG 9.

 

 

Isolationsangst
Baader und Ensslin 1968

Abb. 4) Die Gründungsmitglieder Andreas Baader und Gudrun Ensslin in ihrem Prozess von 1968. Ihr Gerichtsverfahren offenbarte vor allem ihren Drang nach Selbstdarstellung. Kein Wunder, verlangt es nur Geänstigten nach Aufmerksamkeit.

Durch die Gewaltexzesse der RAF im Jahr 1977 wurden die Freiheitskämpfer zu Verrätern am eigenen Volk. Durch sie verlor die RAF aber nicht nur den Grossteil der noch vorhandenen Sympathisanten in der Bevölkerung, sie büssten auch ihre Ideale und ihre Identität ein. Eine Hauptschuld am Verlauf der Ereignisse trägt ausgerechnet ihr Hauptanführer Andreas Baader. Er höchstpersönlich hatte die Devise ausgegeben, dass die Gefangenenbefreiung zukünftig das oberste Ziel der RAF darstellen sollte.

Nicht nur die Mitglieder in Freiheit setzten seit 1972 alles auf eine Befreiung, sondern auch die Inhaftierten. Zwar gaben sie vor, auch weiterhin einen Freiheitskampf für das Volk zu führen, aber es scheint, als ob sie ihre Kräfte vor allem dazu eingesetzt haben, um freizukommen. Die Erfolge wie auch das Versagen mancher Anschläge wurden zwar durchaus propagandistisch ausgeschlachtet. Um ihre Haftbedingungen zu verbessern und ihrer Isolationsangst entgegenzuwirken, machten sie jedoch vor allem durch ihre Hungerstreiks und Vorwürfe an den Staat von sich reden.

Nicht nur die 2. Generation reagierte mit Aggression auf die Gefangennahme ihrer „Brüder“ und „Schwestern“. In der Einzelhaft ihren eigenen Ängsten ausgeliefert, staute sich auch bei den Insassen ein ungeheuerlich grosses Angstpotenzial an. Ihm entsprang der sogenannte „Mythos von der Isolationsfolter“, der seit 1973 und bis 1998 immer wieder zu öffentlichen Diskussionen geführt hat. Die Insassen, ihre Angehörigen, Anwälte und andere Getreuen warfen der bundesdeutschen Justiz immer wieder vor, die Gefangenen einer systematischen und besonders raffinierten Art der Folter zu unterziehen.

Der Stammheim-Prozess gegen die RAF-Gründer und Gründerinnen wurde am 21. Mai 1975 eröffnet. Hier fand die angestaute Aggression ebenfalls ein Ventil. Die Angeklagten benahmen sich teilweise wie Verrückte, beschimpften und beleidigten die Richter und Staatsanwälte. Dies überreizte auch die Justizbeamten, die sich tatsächlich provozieren liessen. Sie reagierten am Ende mit einer ebenso ausgeprägten Aggression und strengeren Massnahmen. Im Gegensatz zu den Terroristen konnten sie jedoch am Abend nach Hause gehen. Die Angeklagten waren gezwungen, in ihre Einzelzellen zurückzukehren. Irgendwann wurde es zu viel. Ulrike Meinhof erhängte sich 1976. Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Jan-Carl Raspe flüchteten sich in der Nacht vom 17. zum 18. Oktober 1977 in den Selbstmord. Ihrem Vorbild sollten später auch andere folgen.

 

 

Schwanengesang: das Ende der RAF
RAF-Anschlag auf Herrhauser

Abb. 5) Anschlag auf den Banker Alfred Herrhauser (30. November 1989).

Der Tod ihrer Gründungsmitglieder versetzte die RAF in einen Schock. Erst im Frühjahr 1979 knüpften sie wieder an ihre früheren grossen Aktivitäten an. Es folgten erneut Banküberfälle (darunter auch ein Überfall auf die „Schweizerische Volksbank“ in Zürich), weitere Bombenanschläge und Attentate. Doch bereits 1984 konnte die Polizei wieder einen Grossteil der RAF-Aktivisten festnehmen.

Die 3. Generation (1982-1998), die nur noch einen Bruchteil an aktiven Mitgliedern zählte und deren Namen schon dazumal kaum bekannt waren, führte bis Anfang der 1990er Jahre ebenfalls einige Mordattentate auf hohe Staatsbeamte und Persönlichkeiten durch. Sie änderten jedoch auch erneut ihre Strategie, waren sie doch fast aller Ressourcen beraubt und bekamen den Fahndungsdruck zu spüren. Ihre Angehörigen machten sich vor allem auf die Suche nach „neuen Freunden“ und fokussierten sich auf eine Internationalisierung des Terrorismus‘. Anfang der 1980er Jahre strebten sie erneut die Zusammenarbeit mit anderen Terrorgruppen in Italien, Belgien und Frankreich an, mit denen sie ebenfalls Anschläge durchführten. Das letzte Mordopfer, das die Aktionen der RAF forderte, starb 1991.

1992 verfolgte der dazumal amtierende Bundesjustizminister Klaus Kinkel (FDP) selbst eine neue Strategie. Er versprach Haftentlassungen, falls sich die RAF dazu bereit erkläre, ihre Aktionen einzustellen. Zwar wurde 1993 ein weiterer – aber auch der letzte – Anschlag durchgeführt. Am Ende ging die geschwächte RAF aber auf das Angebot ein, obwohl nicht alle Mitglieder eine Niederlage eingestehen wollten. Eine Auflösungserklärung wurde vermutlich aus diesem Grunde auch erst sechs Jahre später verfasst. Am 20. April 1998 ging ein achtseitiges Schreiben bei der Nachrichtenagentur Reuters ein. In diesem führten die letzten RAF-Mitglieder nach 28 Jahren Terror auf: „Die Stadtguerilla in Form der RAF ist nun Geschichte.“

Die Angst vor einer Niederlage, die sich bereits mit der Inhaftierung der 1. Generation abzeichnete und in den gewaltsamen Verzweiflungstaten der 2. Generation offenkundig wurde, konnte zwar in den 1980er Jahren noch einmal die Kräfte der Terrororganisation mobilisieren. Doch seitdem starb die „Rote-Armee-Fraktion“ auch einen langsamen, siechenden Tod. Nichtsdestotrotz versuchten ihre Anhänger am Ende noch mit letzter Kraft ihr heroisches Selbstbild für die Nachwelt zu retten. Am Schluss der Auflösungserklärung listeten sie die Namen ihrer Weggefährten und Weggefährtinnen auf, die ihr Leben für die gerechte Sache gelassen hatten. Die Opfer ihrer Terroranschläge hingegen erwähnten sie mit keinem Wort. Nur H.-M. Schleyers Name fand am Anfang des Textes Erwähnung, um seine Ermordung als gerechte Tat darzustellen.

 

 

Vergangenheitsbewältigung
RAF-Verteidiger Otto Schily

Abb. 6) Seltsame Karriere: RAF-Anwalt Otto Schily (rechts) einen Tag vor Prozessbeginn (Stammheim). Schily war der Anwalt von Gudrun Esslin und Horst Mahler. Er mauserte sich schliesslich zum Bundesminister des Inneren (1998-2005).

Ängste bauen immer auf dem Selbstbild auf, das durch Schuld- und Schamgefühle geprägt wird. Das fragile Selbstwertgefühl der Westdeutschen und allen voran der Jugend wurde besonders durch das deutsche Tätergedächtnis und die Auseinandersetzung mit der eigenen Nazivergangenheit belastet. Die Bewältigung ihrer Angst versuchten viele von ihnen auf intellektuelle Weise anzugehen. Tatsächlich handelte es sich auch bei den Gründern und Anhängern der RAF zum Grossteil um Intellektuelle, um Studenten, Journalisten, Rechtsanwälte oder Künstler, die der bürgerlichen Bildungselite entstammten.

Dass Kriege besonders oft von Jugendlichen und Angehörigen der Mittelschicht befürwortet werden, die für gewöhnlich den grössten sozialen Druck zu spüren bekommen und daher auch mehr Ängsten entwickeln, zeigt sich an vielen Beispielen aus der Kriegsgeschichte. Und natürlich sind auch Protestbewegungen ein epochenübergreifendes und globales Phänomen. Selbst der Nationalsozialismus verstand sich als eine „sozialpolitische Bewegung“. Das deutsche Selbstwertgefühl der Nachkriegsgeneration wieder aufzuwerten und der Nation wieder ihre Würde zurückzugeben, war auch sein Hauptziel gewesen. Schliesslich hatten die Deutschen bereits den 1. Weltkrieg (1914-1918) verschuldet und verloren.

Der spanische Philosoph George Santayana (1863-1952) sagte einmal: „Wer sich nicht an seine Vergangenheit erinnert, ist verurteilt, sie zu wiederholen“. Die Erinnerung an Schmach und Schande trägt aber ebenfalls nur allzu oft zu einer Wiederholung bei. Der Mensch besitzt zwar viele Stärken, doch sich seinen Ängsten und wahren Angstauslösern zu stellen, gehört nicht dazu. Er bevorzugt es vielmehr, sich entweder einem Angstverbreiter zu unterwerfen oder aber ihn sich zum Vorbild zu nehmen und selbst zum Angstauslöser zu werden. Kein Wunder, zeigt auch die Geschichte der RAF viele Parallelen zu ihrer von Kriegen und Furcht geprägten und letztlich auch nationalsozialistischen Vergangenheit auf.

Wer in ständiger Angst lebt und somit an einer Dauererregung leidet, stumpft emotionell ab. Seine Fähigkeit zur Empathie geht verloren. Die RAF-Mitglieder hatten wie ihre Väter, Grossväter und Urgrossväter aber auch Mütter, Grossmütter und Urgrossmütter schwer am deutschen Erbe zu tragen. Und wie ihre Vorfahren mussten auch sie als Nachkriegsgeneration des Zweiten Weltkriegs nicht nur eine Identitätskrise durchleiden, sondern auch in einem Klima grosswerden, das von Angst- und Gewalterfahrungen aber auch der Verleugnung geprägt war. Das Unvermögen vieler RAF-Mitglieder Mitgefühl für die von ihnen getöteten Zivilisten und Persönlichkeiten aufzubringen, macht ihrer Abstumpfung offensichtlich. Sie hatten kaum Gewissensbisse. Der „Krieg“ fordert schliesslich immer seine Opfer.

Die RAF-Gründer und Gründerinnen mögen politische Beweggründe gehabt haben, als sie sich den Protestbewegungen anschlossen und mit der „Rote-Armee-Fraktion“ selbst eine Vereinigung ins Leben riefen. Ihre Sprache, ihr Verhalten und vor allem ihr Auftreten im Stammheim-Prozess machen jedoch deutlich, dass sie kaum an einem Dialog interessiert waren. Vielmehr dienten ihre Gründerpositionen und am Ende vor allem der Gerichtssaal zur Selbstdarstellung –, die immer auch ein Akt der Identitätsfindung ist. Anstatt die ihnen anerzogenen Denk- und Verhaltensmuster zu durchbrechen, neue Wege zu suchen und die Vergangenheit hinter sich zu lassen, haben sie ihre eigene so verhasste Geschichte vielmehr wiederholt – indem sie selbst zu Tätern wurden.

 

 

Öffentlichkeit und Mordopfer
Sartre-Besuch Baader 1974

Abb. 7) Die RAF-Kommunikation richtete sich nicht an die Arbeiter, sondern andere Intellektuelle. Ihr Buhlen um Aufmerksamkeit war erfolgreich, wie sich am Beispiel des französischen Philosophen Jean-Paul Sartre zeigt, der Andreas Baader 1974 im Gefängnis besuchte.

Von einer allgemeinen Terrorangst unter der westdeutschen Bevölkerung konnte zu Beginn der 1970er Jahre keine Rede sein. Die Bomben- und Mordanschläge der RAF wandten sich schliesslich gegen das verhasste „Establishment“ und seine Vertreter, die man für die wirtschaftspolitischen Krisen, steigende Arbeitslosigkeit, Kriege und Ausbeutung der „Dritten Welt“ verantwortlich machte. Am 16. Mai 1971 veröffentlichte das Allensbacher Meinungsforschungsinstitut die Ergebnisse einer Repräsentativumfrage zum Thema „Baader-Meinhof: Verbrecher oder Helden?“, die auf einer Befragung von 1000 Leuten basierte. Sie offenbart, dass ein erheblicher Teil der Bevölkerung die RAF nicht als Terrororganisation, sondern als politische Bewegung betrachte und ihre Aktivitäten mehrheitlich guthiess. Jeder vierte Bürger unter 30 Jahren bezeugte gewisse Sympathien für die RAF zu hegen. Nicht wenige wären sogar bereit gewesen, ihren Mitgliedern Unterschlupf zu gewähren.

Obwohl die RAF letztlich viele Sympathien einbüsste, konnten die im Gefängnis Einsitzenden aufgrund ihrer Situation auch wieder Mitleid unter ihren Landsleuten erregen. Mit ihnen, ihrer Angst und Verzweiflung konnte man sich schliesslich identifizieren. Darüber hinaus waren die RAF-Angehörigen auch sehr geschickt darin, die Journalisten und Zeitungsverlage für sich zu instrumentalisieren. Kein Wunder, waren viele von ihnen in den Medien tätig gewesen.

Die allermeisten Veröffentlichungen berichteten über die schlechten Haftbedingungen und Hungerstreiks der internierten RAF-Mitglieder, aber auch von ihrer grossen Angst vor einem Mordanschlag durch staatliche Sicherheitskräfte. Ihr Appell an die Menschlichkeit, die sie selbst öfter auf dem Papier als durch ihre Taten zum Ausdruck brachten, beherrschte immer wieder die Zeitungsmeldungen und erregte die Gemüter der Menschen. Dominiert haben die Zeitungsberichte vor allem die Terroristen und die getöteten Persönlichkeiten aus der Wirtschafts- und Finanzwelt, dem diplomatischen Dienst und Militär, der Politik und Justiz. Sie zeichneten das Bild von den „Guten“ und den „Bösen“, die man fürchten sollte. Kaum ein Thema waren die Morde an den unbeteiligten Zivilisten. Die meisten Mordopfer trugen schliesslich keine grossen Namen. Die 34 während der RAF-Attentate getöteten und über 200 verletzten Menschen gerieten sehr schnell in Vergessenheit. Zu ihnen zählten unter anderem Angehörige der Polizei, welche die meisten Todesopfer zu beklagen hatte, die Fahrer der Prominenten, Arbeiter und Angestellte, Soldaten oder Passanten, die alle – aus Sicht der VIP’s und der Medien – einfach nur zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen waren.

 

 

Terroristinnen-Schreck
Ulrike Meinhof

Abb. 8) RAF-Gründungsmitglied Ulrike Meinhof als junge Journalistin.

Wiederholt hat sich die Geschichte auch im Fall der Frauen. Denn den Terroristinnen der RAF wurde ein ganz besonders grosses, aber auch fragwürdiges, mediales Interesse entgegengebracht. Zwar kommen heutzutage beim Gedanken an die 1960er und 1970er Jahre vor allem die „Frauenbewegung“ und der „Pillenknick“ in den Sinn, doch auch diese Zeit war vom traditionell überlieferten Frauenbild geprägt, das zwischen „Heilige“ und „Hure“ unterscheidet.

Dass der Frauenanteil der RAF zeitweise bei 60% lag, hat vor allem die Männerwelt in Angst und Schrecken versetzt und zu einer allgemeinen Verunsicherung und Verständnislosigkeit geführt. Protestierende Frauen gehörten jedoch nicht nur in der Bundesrepublik Deutschland zum Strassenbild, sondern auch in den USA, in Italien oder Japan. Und wie dort unterstützten auch die RAF-Frauen den zum Ziel gesetzten Staats- und Rechtsumsturz nicht nur als Handlangerinnen, als Informantinnen oder Kundschafterinnen, sondern vor allem auch als aktive Wortführerinnen und Kämpferinnen.

Schon zu Beginn der frühen RAF-Aktivitäten in den 1970er Jahren versuchten die Presseleute, Wissenschaftler und Politiker eine Erklärung für die aktive Teilnahme der Frauen zu finden. Und natürlich bezogen sie ihre Argumente letztlich vor allem aus dem altüberlieferten Frauenbild ihrer Vorfahren, die schon immer von der angeborenen mentalen Disposition der Frau, ihrer sexuellen Unersättlichkeit, ihrem Hang zum „Bösen“ und zur Kriminalität und ihrem von Natur aus krankhaften und unvernünftigen Wesen überzeugt gewesen waren.

Brigitte Mohnhaupt

Abb. 9) Brigitte Mohnhaupt war Anführerin der 2. Generation. Sie bescherte den Deutschen 1977 ihren vom Terror beherrschten „Herbst“.

Das Agieren der RAF-Männer erklärte man sich im Allgemeinen mit politischen Beweggründen. Den Frauen wurden diese abgesprochen. Ihre Gründe führten man (oder vielmehr: Mann) auf geschlechtsspezifische, psychische und biologische Faktoren zurück. Den Terroristinnen wurden nicht nur lesbische Neigungen und eine allgemeine Ablehnung ihrer Weiblichkeit nachgesagt, sondern auch eine sexuelle „Abartigkeit“ und „Hörigkeit“ gegenüber den männlichen Mitgliedern. Darüber hinaus unterstellte man ihnen eine Tendenz zum Fanatismus, Rigorismus und Frivolen sowie ein frauentypisches irrationales Denken und Handeln.

Die Journalisten, Psychologen und Politiker erklärten ihre Teilnahme am Kampf auch besonders oft mit ihrem Werdegang und ihrer Lebensgeschichte. Aus ihnen, so glaubten sie alle gleichermassen, liessen sich ihre psychischen Fehlentwicklungen und ihr Männerhass ablesen. Ihrer Meinung nach rekrutierten sich die RAF-Frauen in erster Linie aus konfliktbeladenen Familien. Zu leiden hatten sie aber vor allem an ihrer gestörten Beziehungen zu ihren Vätern oder Ehemännern, warum sie nun ihre schlechten Erfahrungen durch Aggression zu bewältigen versuchten.

Fanden die Ankläger in den Lebensläufen der Frauen jedoch keine entsprechenden Hinweise, griffen sie auf andere Argumente zurück. Sie warfen ihnen beispielsweise eine Drogensucht vor, den Unwillen zur gesellschaftlichen Anpassung oder sonstige persönliche Schwierigkeiten, wie unter anderem in der Berufswelt Fuss zu fassen oder eine Ausbildung zu absolvieren.

Um die ganzen Vorwürfe noch zu unterstreichen, bewerteten Presse und Politiker vor allem auch die Emanzipationsbewegung der Frauen negativ, die auf der traditionellen männlichen Angst vor der Frau gründet. Günther Nollau, der damalige Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz, beispielsweise betitelte das Verhalten der RAF-Kämpferinnen als „Exzeβ der Befreiung der Frau“. In den Medien wurden die RAF-Frauen darüber hinaus besonders gerne als „neue Amazonen“ und „Flintenweiber“ beschimpft, die sich durch ihre Gewaltbereitschaft und Rücksichtslosigkeit auszeichneten und schlichtweg zu viel Sex hätten.

 

 

Staatliche Angstbewältigung
Schleyer Entfuerhung

Abb. 10) Höhepunkt des RAF-Terrors: das Bild zeigt den Arbeitgeberpräsident Hanns-Martin Schleyer, der von der RAF entführt und letztlich erschossen wurde.

Die Zahl aktiver RAF-Anhänger verzehnfachte sich 1972, nachdem fast die gesamte 1. Generation verhaftet worden war, und die Anzahl an Sympathisanten umfasste schon bald Tausende. Nach den Zivilmorden verlor die RAF zwar an Rückhalt in der Bevölkerung. Als die Menschen am Morgen des 18. Oktober 1977 aus der Presse vom Tod von Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Jan-Carl Raspe erfuhren, war jedoch nicht nur die Empörung gross, auch der „Mythos von den Gefangenen-Morden“ war geboren. Der Vorwurf der RAF, dass die Bundesrepublik einen autoritären Unrechtsstaat darstelle, der nicht einmal davor zurückschrecke, Gefängnisinsassen zu ermorden, schien sich durch ihren Tod zu bestätigten.

Verfassungen sollen die Rechte der Bürger gewährleisten und der Angst vor einem Über-Staat entgegenwirken, in dem die Menschen nur noch recht- und willenlose Marionetten sind. Doch tatsächlich sind sie oft nicht das Papier wert, auf dem ihre Grundsätze aufgeschrieben sind. Zu spüren bekommt das bis heute nicht nur die weibliche Bevölkerung, zu spüren bekamen dies auch die Angeklagten, ihre Anwälte, Familienangehörigen und Freunde. Stellte die BRD bis dahin keinen Unrechtsstaat dar, so zeigte sie doch nun, dass sie es werden konnte.

Zelle von Esslin

Abb. 11) Die Gefängniszelle von Gudrun Esslin.

Der westdeutsche Rechtsstaat war nach 1977 nicht mehr das, was er einmal war, reagierten seine Vertreter doch mit dem illegalen Erlass neuer Sondergesetze, welche die Menschen-, Bürger- und Verteidigungsrechte einschränkten. Eine Gesetzänderung in diesem Ausmasse hatte es in der deutschen Rechtsgeschichte bis dahin nicht gegeben. Sie zeugt von der ungeheuren Angst der Machtträger, die sogar in den Gefängnisinsassen noch immer eine immense Bedrohung sahen. Innerhalb von vier Jahren wurden sechs neue Gesetze erlassen, die 27 Einschränkungen beinhalteten. Sie erschwerten die Verteidigung der Angeklagten und erleichterten es der Bundes- und Staatsanwaltschaft gleichzeitig, gegen angebliche Staatsverbrecher vorzugehen und sie abzuurteilen. Einige dieser dazumal eingeführten Gesetze sind bis heute in Kraft. Zur Vorbereitung des Strafprozesses in Stammheim wurden zwei besonders wichtige Grundgesetze geändert (1974): einerseits wurde die Mehrfachverteidigung verboten, womit auch die freie Anwaltswahl abgeschafft wurde, und andererseits die Anwesenheitspflicht der Angeklagten aufgehoben. Die Änderungen hatten zur Folge, dass von nun an weder die Einhaltung der Bürgerreche noch ein faires Verfahren garantiert waren.

Ein Jahr nach Prozessbeginn (1976) erfuhren die Menschen- und Verteidigungsrechte einen weiteren Dämpfer. Eine weitere Gesetzesänderung ordnete die Überwachung der Kommunikation zwischen Anwalt und Klient an, wodurch das Anwaltsgehemins nicht mehr gewährleistet war. Die Korrespondenz zwischen den RAF-Anwälten und den Angeklagten wurde fortan kontrolliert und nur noch Gespräche durch eine Trennscheibe erlaubt, die ein Mithören fast unvermeidlich machte.

Die Angst machte weder vor Anwälten noch Besuchern halt. Als nach den Selbstmorden 1977 in den Zellen von Andreas Baader und Jan-Carl Raspe Waffen gefunden wurden (sie haben sich erschossen, Ensslin hat sich mit einem Kabel erhängt), schränkte man erneut gewisse Rechte ein. Von nun an durchsuchten die Gefängnisbeamten nicht nur ihre Prozessunterlagen, Kleider und Taschen an den Eingängen, die Besucher/innen mussten sich in einigen Fällen auch einer gründlichen Leibesvisitation unterziehen. Wer sich verweigerte, dem konnte der Eintritt ins Gefängnis verwehrt aber auch vom Prozess ausgeschlossen werden. Befürchten musste man darüber hinaus auch finanzielle Einbussen, da eine Verweigerung zusätzlich – wegen des Aufwands der Beamten – mit einer saftigen Busse über einige tausend Mark bestraft wurde.

Immer wieder im Zentrum des Interesses stand auch die Architektur der Behörden, die von einer grossen Angst vor einer Flucht der Angeklagten und weiteren Anschlägen auf die Prozessführer zeugt. Die Staatsmacht reagierte auf sie mit einer Selbst-Verbarrikadierung. Für den Stammheim-Prozess wurde beispielsweise extra ein neues Gerichtsgebäude gebaut. Es wurde mit vierhundert Polizisten, Überwachungskameras, grossen Aussenscheinwerfern sowie stählernen Barrieren und Netzen bestückt, um Befreiungsaktionen selbst aus der Luft zu verunmöglichen und die Sicherheit der Staatsbeamten und Prozesszuschauer zu gewährleisten.

Demo wegen Haftbedingung

Abb. 12) RAF-Sympathisanten, die gegen die Haftbedingungen protestieren.

Das Aufkommen der RAF läutete in Deutschland das Zeitalter der „Anti-Terror-Gesetze“ ein. Nebst den neuen Sondergesetzen wurden neue Tatbestände im Strafrecht geschaffen, welche die „terroristischen Vereinigungen“ nun selbst ins Visier nahmen und ihre teilweise nur leichten Vergehen weitaus härter bestraften als üblich. Ausserdem ergriff man interne Massnahmen, die ebenfalls dem Handeln eines Rechtsstaats widersprachen und keine legitimierende Rechtsgrundlage besassen. Beispielsweise begann man damit, nicht nur die Daten möglicher Verdächtiger zu sammeln (Rasterfahndung), sondern ebenfalls von Millionen Unverdächtiger.

Ebenfalls nicht per Gesetz legitimiert war der Ausruf des „übergesetzlichen Notstands“, um sich alle Möglichkeiten offen zu lassen, der Austausch von Strafgefangenen gegen die Geisel Peter Lorenz (ein Wahlkandidaten der CDU) oder auch der Ausbau der Sicherheitsbehörden. Er führte nicht nur zu ihrer personellen und informationellen Aufstockung, sondern auch zu einer Ausweitung der polizeilichen Kompetenzen. Die Unabhängigkeit der Polizei von der Staatsanwaltschaft wurde vorangetrieben, sodass letztere kaum mehr ihrer Hauptaufgabe als Aufsichtsbehörde erfüllen konnte. – Ein Zustand, der bis heute andauert.

Zwar wurden nach den RAF-Prozessen die Strafprozessänderungen nur noch selten angewandt, doch kaum eine von ihnen hob man wieder auf. Bis heute wird dieser Umstand mit den Problemen begründet, die das organisierte Verbrechen, die Korruption und letztlich auch der internationale Terrorismus mit sich bringen. Ihr Verbleiben im Strafrechtskatalog wird aber auch damit begründet, dass die „Zukunft“ Risiken in sich berge, was der Logik der Rechtsprechung wie auch des Verfassungsrechts widerspricht, das die staatliche Autorität begrenzen sollte.

 

 

Was ist Terrorismus?

Das Ziel der RAF war es, den „staatlichen Herrschaftsapparat“ zu zerschlagen und „Gerechtigkeit für alle“ zu schaffen. Am Ende führten ihre Aktivitäten jedoch vielmehr zu seiner strukturellen Ausdehnung und Erweiterung seiner autoritären Macht. Die Angst vor dem Terrorismus hat jedoch nicht nur in Deutschland zu einigen fragwürdigen Entscheidungen und Beschränkungen der Menschen- und Bürgerrechte geführt, sondern letztlich überall auf dem Globus. Zur Zeit der RAF waren es – wie später auch in anderen Ländern – in erster Linie die traditionell bestehenden Grundrechte, die als erstes von einer Änderung und Beschränkung betroffen waren. Doch nicht nur ihre gesetzliche Legitimation stand und steht auch heute auf wackligen Beinen, sondern ebenso die Beurteilung des Terrorismus‘ selbst.

Nach Meinung von Experten entsprachen die Strukturen und Strategien der RAF der gängigen Definition einer terroristischen Gruppe. Tatsache ist jedoch, dass bis heute keine unumstrittene und allgemein anerkannte Definition des Terrorismus‘ existiert – auch wenn es an Fachliteratur und Meinungen zum Thema nicht mangelt. Die meisten Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen sind sich jedoch darin einig, dass sich der Terrorismus durch manche Merkmale auszeichnet. Zusammengefasst werden die Hauptmerkmale einer terroristischen Vereinigung folgendermassen:

Bei einer terroristischen Organisation handelt es sich um eine „kleine“, von „unten kommende“ Gruppe, die keine legitime Regierungsmacht besitzt und deren Mitglieder durch politische, ideologische oder religiöse Ansichten motiviert werden. Ihre Ziele sind zumeist klar formuliert und haben die Beseitigung gesellschaftlicher Missstände zum Zweck. Dabei wird von ihnen immer ein selbst definierter „Feind“ benannt, gegen den sich ihre Aktionen richten. Die terroristischen Aktivitäten wiederum sind darauf ausgelegt, in der Öffentlichkeit Aufmerksamkeit zu erregen, das Gefühl der Unsicherheit zu verbreiten und Todesängste zu schüren. Sie sollen die Meinungen und das Verhalten einer Bevölkerung beeinflussen und zu Aufständen führen. Um einen langfristigen psychologischen Effekt zu bewirken, zeichnen sie sich daher auch immer durch ihre massenmediale Wirkung aus. Bei den Terrorattentaten selbst handelt es sich immer um Gewaltakte, die im besten Fall viele Opfer fordern sollen. Ob sie dabei Unschuldige treffen oder nicht, ist den Terroristen gleichgültig.

 

Die Sachverständigen betonen jedoch auch, dass der Terrorismus einerseits für gewöhnlich sowohl von der Regierung als auch der Bevölkerung moralisch beurteilt wird und grosse Emotionen hervorruft. Und andererseits, dass darüber hinaus die Gewalt der Terroristen immer als eine irrationale Gewalt bewertet wird, weil sie der Angst entspringt. Was sie normalerweise jedoch nicht erwähnen, ist, dass von den Regierungsvertretern genau aus denselben Gründen die Ängste einer Bevölkerung (egal, ob berechtigt oder nicht) immer als vernunftwidrig und ungerechtfertig abstempelt werden – wie auch die Sandoz-Katastrophe von 1986 eindrücklich belegt.

Die modernen Experten sowie Journalisten und andere Fachleute behaupten immer wieder gerne, dass sich der Terrorismus-Begriff auf sogenannte Staatsfeinde beziehe und sich von der Französischen Revolution herleite, die zur Zeit des „Grande Terreur“ (Juni 1793 – Juli 1794) auf ihrem Höhepunkt stand. Tausende Menschen verloren dazumal auf der Guillotine ihre Köpfe. Doch die moderne Annahme, der Begriff fokussiere sich auf eine revoltierende Minderheit, ist falsch. Denn dienenigen, welche die Massenhinrichtungen angeordnet haben, waren zu diesem Zeitpunkt schon längstens keine Revolutionäre mehr. Sie stellten vielmehr die regierenden Machtträger der französischen Nation dar.

Tatsächlich leitet sich der Begriff Terror, der mit „Schreckensherrschaft“, „rücksichtsloses Vorgehen“ oder „Unterdrückung“ übersetzt wird und erst im 19. Jahrhundert an Bedeutung gewann, aus sprachwissenschaftlicher Sicht vom lateinischen Wort terror ab („Angst“, „Schrecken bereitendes Geschehen“). Ursprünglich beschrieb er nicht die Aktionen einer gewaltbereiten Minderheit, die an die Macht kommen will. Er definierte vielmehr die Alleinherrschaft einer despotischen Regierung, die im Volk gezielt Angst und Schrecken verbreitet, um ihre Herrschaftsmacht erhalten zu können.

 

Literatur: Balz, Hanno: Von Terroristen, Sympathisanten und dem starken Staat: Die öffentliche Debatte über die RAF in den 70er Jahren, Frankfurt a.M. 2008; Diewald-Kerkmann, Gisela: Frauen, Terrorismus und Justiz. Prozesse gegen weibliche Mitglieder der RAF und der Bewegung 2. Juni, Düsseldorf 2009; Kraushaar, Wolfgang (Hg.): Die RAF. Entmythologisierung einer terroristischen Organisation, Bonn 2008; Ders.: Die RAF und der linke Terrorismus, 2 Bände, Hamburg 2006; Pflieger, Klaus: Die Rote Armee Fraktion – RAF – 14.5.1970 bis 20.4.1998, Baden-Baden 2004; Terhoeven, Petra: Die Rote Armee Fraktion, Berlin 2005; Weinhauer, Klaus (u.a. Hg.): Terrorismus in der Bundesrepublik: Medien, Staat und Subkulturen in den 1970er Jahren, Frankfurt a.M. 2006; Winkler, Willi: Die Geschichte der RAF, Berlin 2005.

Bildernachweise: Titelbild,  Abb. 8) Wikipedia.de; Abb. 1, 6-7, 11-12) Bpb.de; Abb. 2) Faz.net; Abb. 3) Hdg.de; Abb. 4, 10) Zdf.de; Abb. 5) Diepresse.com; Abb. 9) Express.de.

 

By |2022-12-21T07:19:12+00:00September 1st, 2019|AnGSt|0 Comments
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