Flucht oder Angriff?

Die Biologie der Angst ist einfach gestrickt. Der menschliche Organismus ist schliesslich auf Sparmodus eingestellt und verschwendet keine Energie. Sein Minimalismus offenbart sich auch am angeborenen Abwehrverhalten, lässt er dem Menschen in Zeiten der Angst kaum Reaktionsmöglichkeiten offen. Viele Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen bezeichnen das Angstsystem daher auch als „archaisch“. Und damit haben sie Recht. Denn es wurde justiert, als der Mensch noch Teil der Natur und Nahrungskette war. 

 

Kapitel: Evolutionäres Erbe – Alleingang der Angst: Reiz und Reaktion – Gesellschaft: Verbot von Angriff und Flucht

 

Evolutionäres Erbe
Angstreaktionen

Abb. 1)

Der menschliche Organismus hat nur drei Verhaltensprogramme gespeichert, um auf Angstreize reagieren zu können: Erstarren, Flucht und Angriff. In den Neurowissenschaften werden diese angeborenen Reaktionsmechanismen heutzutage manchmal auch als „Erstarren-Kämpfen-Flüchten Reaktion“ (freeze-fight-flight response) bezeichnet. Doch wirklich durchsetzen konnte sich der Begriff nicht. Beherrscht wird die Forschungsdiskussion daher noch immer durch den Fachbegriff „Angriff-oder-Flucht Reaktion“ (fight-or-flight response), welcher der amerikanische Physiologe Walter B. Cannon (1871-1945) zu Beginn des 20. Jahrhunderts in die Wissenschaft einführte.

Für den Naturmenschen gehörte der Tod zum Alltag und die Selbsterhaltung war oberstes Gebot. Als er noch den Naturgewalten ausgesetzt war und eine Nahrungsquelle für andere Tiere darstellte, vermied er Gefahren oder flüchtete vor ihnen. Wollte er der Aufmerksamkeit eines möglichen Angreifers entgehen oder konnte er einer Bedrohung nicht ausweichen, erstarrte er. Kaum verwunderlich, ist die Erstarr-Taktik eine sehr gewiefte Methode, um das Überleben zu sichern. Was sich nicht bewegt, das wird normalerweise nicht wahrgenommen oder als „Beute“ eingestuft.

Die Fluchtreaktion war und ist auch heute für gewöhnlich die erste Reaktion unseres Körpers, um einer Schädigung zu entgehen. Schliesslich ist der menschliche Organismus auf Sparmodus eingestellt. Die Flucht benötigt sehr viel weniger Energiereserven und auch die Gefahr, verletzt oder sogar getötet zu werden, wird durch sie minimiert. Irgendwann im Verlaufe der Evolution entschied jedoch die menschliche Angst, dass der Angriff manchmal die bessere Verteidigung ist. Ihre ersten Versuche waren aber vielmehr „Scheinangriffe“, mit deren Hilfe sie den Feind zu bluffen, ihn zurückzujagen und so zu vertreiben versuchte – um sich einen Fluchtweg zu eröffnen. Denn die Angriffsreaktion verbraucht viel mehr Antriebsenergie und auch die Verletzungs- und Tötungsgefahr ist sehr viel grösser.

Dass sich der Fachausdruck „Erstarren-Kämpfen-Flüchten Reaktion“ nicht durchsetzen konnte, ist kaum verwunderlich. Experimentelle Studien haben nämlich gezeigt, dass es sich bei der Erstarrung nicht wirklich um eine Verhaltensreaktion handelt. Sie ist vielmehr als eine Art Notfallprogramm anzusehen, das eine Hauptreaktion verzögert. Die angstbedingte Erstarrung stellt nämlich eine Sprungbereitschaft dar, da die Muskeln während eines Angstzustands nicht erschlafft, sondern zusammengezogen sind und somit für eine Flucht- oder Angriffsreaktion bereitstehen. Die Entscheidung, ob die Flucht ergriffen oder die Konfrontation gesucht wird, ist in ihrem Fall einfach noch nicht gefallen.

 

 

Alleingang der Angst: Reiz und Reaktion
Angstmimik

Abb. 2)

Das menschliche Angstsystem wurde in grauer Vorzeit justiert. Sein Herzstück ist die Amygdala. Ihre Funktion ist es, eine gesunde Wechselbeziehung zwischen dem Menschen und seiner Umwelt zu gewährleisten und damit sein Wohlergehen und Überleben zu sichern. Die Amygdala fungiert als eine Art Schaltzentrale, die auf ihn eindringende Sinnesreize auf ihren Stärkegehalt hin überprüft und seine Reaktionen auf sie koordiniert. Die Reize selbst – und damit auch ihre Auslöser – werden dabei in zwei Kategorien eingeteilt: in solche, die das eigene Leben potenziell gefährden (schädlich) und solche, die es stärken (nützlich) könnten.

In ihrer ursprünglichen Form ist die Angst nichts anderes als pure Energie. Denn die aktivierte Amygdala übernimmt nach Erhalt eines starken Reizimpulses unverzüglich die Kontrolle über den Organismus und leitet spezielle Körperreaktionen ein, welche die Antriebsenergie hochfahren. Auf diese Weise macht sie den Menschen aktionsbereit, damit er mit einer Angriffs- oder Fluchtreaktion auf den Angstauslöser reagieren kann. Dass die Angst von den Philosophen und Literaten bereits seit über zwei Jahrtausenden als Erregungszustand beschrieben wird und ihre Erregungsspur die modernen Forscher/innen überhaupt erst zur Amygdala geführt hat, ist also kaum erstaunlich.

Unser Angstmechanismus setzt unsere Körperenergie dort ein, wo sie wirklich gebraucht wird. In ihrer Funktion als Koordinatorin der Antriebsenergie agiert die Amygdala jedoch für gewöhnlich inkognito, also ohne uns bewusst zu werden. In den allermeisten Fällen empfinden wir während einer Angstsituation daher auch kein Angstgefühl und auch unser Erregungszustand wird uns zumeist nicht bewusst. Diese Hauptmerkmale unseres Angstmechanismus‘ sind den allermeisten Menschen unbekannt und galten auch in der Forschung lange als ein Mysterium, obwohl empirische Beobachtungen und physiologische Untersuchungen schon seit vielen Jahrzehnten auf sie hindeuteten. Der Verhaltensforscher Paul Leyhausen (1916-1998) beispielsweise formulierte bereits 1967 in seinem Essay „Zur Naturgeschichte der Angst“ folgende These:

„Im übrigen darf man sich nicht vorstellen, mit der adäquaten Abreaktion eines instinktiven Antriebs, also auch der Angst, müsse immer ein mehr oder weniger starkes Affekterlebnis verbunden sein. Vieles bleibt unter der »Bewuβtseinsschwelle« oder wird zur flüchtigen, undeutlichen Regung: Wir weichen hier einem herannahenden Auto aus, dort verschwinden wir schnell in einer Seitenstraβe, um eine Begegnung zu vermeiden, und ein andermal ziehen wir die Hand vor einem fremden Hund zurück …. alles Kleinigkeiten. Aber auch die kleinste Andeutung einer Fluchtbewegung verbraucht schon etwas spezifischen Angstantrieb, auch wenn es sich um selbstverständliche Dinge handelt, die unserem Bewuβtsein nicht als Angst erscheinen. Im Längsschnitt eines Lebens gesehen, verbraucht man wahrscheinlich sogar den weitaus gröβsten Teil der Antriebsenergien auf diese Weise“.

Zwei Jahre nach der Veröffentlichung von Leyhausens Aufsatz wurde die „Society for Neuroscience“ (Neurowissenschaft) gegründet und etablierte sich offiziell als eigenständiges Fachgebiet. Ihre Forscher/innen kamen ebenfalls zu dem Ergebnis, dass unser Angstmechanismus die allermeisten Flucht- und Angriffsreaktionen autonom durchführt, ohne dass diese dem Menschen bewusstwerden. Ein halbes Jahrhundert nach Leyhausen fasste beispielsweise der Neurowissenschaftler Joseph LeDoux (geb. 1949) in seinem Buch „Angst“ zusammen, dass …:

„die Amygdala tatsächlich Bedrohungen verarbeiten und konditionierte Reaktionen auslösen kann, ohne dass die betroffene Person sich des eigentlichen Reizes bewusst ist und ohne dass sie irgendein Gefühl der Furcht empfindet. Diese Erkenntnis steht im Einklang mit unserer häufigen Erfahrung, dass wir unwillkürlich auf etwas reagieren und uns erst im Nachhinein klarmachen, dass eine Gefahr bestand – beispielsweise wenn man vor einem heranrasenden Bus zurückspringt und erst dann aufgrund dieser Reaktion bemerkt, dass man in Gefahr war. Die neuronalen Prozesse, durch die wir bewusst wissen, dass eine Gefahr vorhanden ist, sind langsam im Vergleich zu jenen, die unbewusst gewisse eingebaute Schutz- oder Abwehrreaktionen steuern.“

Nicht alles, was die Amygdala stark reizt, ist ungesund oder schädlich für den Menschen – ganz im Gegenteil. Die Assoziationen, die mit dem Begriff Angriff-oder-Flucht Reaktion normalerweise aufkommen, führen daher auch sehr oft zu Missverständnissen –, woran die Forschung nicht ganz unschuldig ist, da sie sich (fast) ausschliesslich auf die schädlichen Auswirkungen der Angst fokussiert und ihre nützlichen so gut wie völlig ausser Acht lässt. Vor allem die „Angriffsreaktion“ sollte jedoch nicht mit der „Gewalt“ gleichgesetzt werden. Zwar startet die Aggression (die bei einer besonders starken Reizung der Amygdala ausgelöst wird) den Angriffsmodus, doch kommt diese nicht nur dann auf, wenn eine Flucht verunmöglicht wird, sondern auch dann, wenn unser Angstmechanismus etwas/jemanden als „nützlich“ einstuft und für sich in Anspruch nehmen will. Im Grunde sind die Begriffe Flucht und Angriff also vielmehr als Richtungsangaben zu verstehen. Der Mensch entfernt sich entweder von einer angstauslösenden Reizquelle oder aber er bewegt sich auf sie zu.

 

 

Gesellschaft: Verbot von Angriff und Flucht

Erstarren, Flucht und Angriff werden als angeborene Angstreaktionen bezeichnet. Die Neurowissenschaft konnte jedoch nachweisen, dass individuelle Erfahrungen auf die genetische Programmierung einwirken und den Gen Code verändern. Daher gehen sehr viele Forscher/innen davon aus, dass zwischen dem angeborenen und dem erlernten Verhalten kaum zu unterscheiden sei. Aufgrund dessen wird bis heute auch darüber diskutiert, ob der Zusammenschluss zur Gemeinschaft ein angeborenes oder erlerntes Verhalten darstellt.

Angstabwehr

Abb. 3)

Dass sich die Menschen nur aus Angst zu einem Kollektiv zusammenschliessen, haben schon die alten Griechen vor über zwei Jahrtausenden festgestellt. Wird es aber auch durch das Schüren von Angst zusammengehalten, ist seine Zerstörung vorprogrammiert. Trotz dieses Wissens hat es die Menschheit jedoch bis heute nicht geschafft, ein gesundes Gesellschaftsmodell zu entwickeln und umzusetzen, das einer gesamten Bevölkerung dieselben Überlebenschancen bietet und die natürliche Angstproduktion minimiert. Die bestehenden Lebenssysteme fördern vielmehr die Verbreitung von ungesunden (für das Überleben völlig unbedeutenden) Ängsten, welche die Lebenserwartung verkürzen. Der Begriff „Zivilisationsprozess“ (Norbert Elias) umschreibt daher auch in erster Linie die Bildung Angst produzierender Gemeinschaften.

Innerhalb der sozialen Systeme werden die meisten Flucht- und Angriffsreaktionen verboten, sanktioniert oder strafrechtlich verfolgt. Würden die Mitglieder einer Gemeinschaft voreinander flüchten oder ihrer Aggression freien Lauf lassen, gäbe es schliesslich auch keine Gemeinschaft. Auf dieser Schlussfolgerung baut das Rechtssystem auf und Regierungen legitimieren ihr Gewaltmonopol über eine Bevölkerung. – Und sie ist auch der primäre Grund, warum die Angst epochen- und kulturübergreifend negativ bewertet und der Mensch seit jeher zur Furchtlosigkeit erzogen wird.

Wenn eine Bevölkerung jedoch in Angst versetzt wird und gleichzeitig Flucht- und Angriffsreaktionen verboten werden, wird der Einsatz der bereitgestellten Antriebsenergie verunmöglich. Die Erregung wird zum Dauerzustand und wirkt sich schädigend auf den Organismus aus. Dass heutzutage „Angsterkrankungen“ das grösste Gesundheits- und Sterberisiko in den Industrieländern darstellen, die Zahl an physischen und psychischen Krankheiten, Suiziden und Gewalttaten ansteigt oder auch der Medikamenten-, Alkohol- und Drogenmissbrauch zunimmt, ist also kaum verwunderlich. Schliesslich wird der Mensch dazu gezwungen, andere Methoden zur Bewältigung seiner Angst zu suchen.

Doch egal, für welche Bewältigungsmethoden sich der Kulturmensch letztlich auch entscheidet, sie alle sind auf die „Angriff-oder-Flucht Reaktion“ zurückzuführen. So flüchtet er nicht nur körperlich, indem er eine Beziehung beendet, seine Anstellung kündigt oder einer Prüfung fernbleibt. Er flüchtet auch geistig, indem er Fantasy-Romane konsumiert oder sich Tagräumen hingibt. Er setzt seinen Körper auch nicht nur ein, um andere verbal zu attackieren oder nach einem Stück Kuchen zu greifen, weil er hungrig ist. Er sucht auch die Konfrontation im Geiste, indem er sich gedanklich ausmalt, wie er seinem Chef die Nase blutig schlägt, oder neue Ideen entwickelt, um gewisse Probleme „in Angriff“ zu nehmen.

Es gibt aber auch Menschen, die heutzutage über Monate oder sogar Jahre hinweg in der Erstarrung leben, sich passiv oder deprimiert zeigen. Kein Wunder, können diese erlernten Methoden im Allgemeinen die Angst nicht beseitigen, da sie nur durch die Flucht vor dem wahren Angstauslöser oder aber durch die Konfrontation mit ihm bewältigt werden kann. (Die Angst vor der Einsamkeit und Armut wird ja auch nicht weniger, wenn man sich einen Phantasiefreund zulegt oder vorstellt, was man mit einem Lottogewinn so alles anstellen würde.) In ihrer Gesamtheit stellen diese Menschen das grösste unbekannte Angstpotenzial und somit auch die grösste Konzentration an Antriebsenergie innerhalb einer Gesellschaft dar. Ob sie sich letztlich für eine Flucht oder einen Angriff entscheiden, wissen wir nicht. Was wir aber wissen, ist, dass die Angst Gemeinschaften nicht nur zerstören kann, sondern immer auch zu ihrer Entstehung beiträgt.

 

Literatur: Elias, Norbert: Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen. Wandlungen der Gesellschaft. Entwurf zu einer Theorie der Zivilisation, Bd. 2, Frankfurt a.M. 1980; Kandel, Eric R. (u.a. Hg.): Neurowissenschaften. Eine Einführung, Heidelberg 2011; LeDoux, Joseph: Angst. Wie wir Furcht und Angst begreifen und therapieren können, wenn wir das Gehirn verstehen, Salzburg 2016; Leyhausen, Paul: Zur Naturgeschichte der Angst, in: Die politische und gesellschaftliche Rolle der Angst, hg. v. Heinz Wiesbrock, Frankfurt a.M. 1967; Von Ditfurth, Hoimar (Hg.): Aspekte der Angst, München 1980.

Zitate: Leyhausen, Paul: Zur Naturgeschichte der Angst, in: Die politische und gesellschaftliche Rolle der Angst, hg. v. Heinz Wiesbrock, Frankfurt a.M. 1967; LeDoux, Joseph: Angst. Wie wir Furcht und Angst begreifen und therapieren können, wenn wir das Gehirn verstehen, Salzburg 2016.

Bildernachweise: Titelbild) Lionsrugby.com; Abb. 1) Pixabay.de; Abb. 2) Welt.de; Abb. 3) 11freunde.de.

 

By |2023-12-23T15:00:28+00:00August 5th, 2019|AnGSt|0 Comments
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