Erich Fromm und die Angst vor sozialer Isolierung

Die Angst ist ein Überlebensmechanismus. Ihre Aufgabe ist es, eine gesunde Wechselbeziehung zwischen dem Menschen und seiner Umwelt zu gewährleisten. Wird diese Beziehung gestört, da er sich der ständigen Bedrohung ausgesetzt sieht, erkrankt er irgendwann an ihren biologischen Mechanismen. In den Industrieländern ist die Verbreitung von Ängsten Machtfaktor und Geschäft zugleich. Die „Massen“, ihre „Meinungen“ und ihr „Verhalten“ sollen schliesslich gezielt manipuliert und gesteuert werden. Nach Erich Fromm appellieren alle diese krankmachenden Ängste an die Hauptangst des modernen Menschen: die Angst vor sozialer Ausgrenzung.

 

Kapitel: Erich Fromm und sein Jahrhundert – Individuum und Gesellschaft – Freiheitsangst und Konformität – Routinierte Anpassung – Der ganz normale Wahnsinn – Die Lieblosigkeit der „eigenen Welt“

 

Erich Fromm und sein Jahrhundert
Erich Fromm 1920

Abb. 1) Erich Fromm (1920).

Das 20. Jahrhundert war ein Jahrhundert der Angst und „Extreme“ (E. Hobsbawm). Es war das Jahrhundert der Ideologien, der totalitären Regime, der radikalen Revolutionsbewegungen, des Bürgerterrors, der ersten technisch-industriellen Weltkriege und des ersten anonymisierten Massenmords. In den Regierungs- und Militärakten wurden die Bürger und Bürgerinnen Europas erstmals offiziell unter dem Begriff „Menschenmaterial“ zusammengefasst – auf den Schlachtfeldern wurden Millionen als „Kanonenfutter“ betrauert. Nach den Katastrophen fragten sich die Regierungen, Bevölkerungen und Wissenschaften immer wieder: Wie konnte es soweit kommen? Erich Fromm seinerseits fragte sich: Wann ist eine Gesellschaft als „psychisch krank“ zu bewerten?

Erich Fromm war Sozialpsychologe, Psychoanalytiker und Philosoph und zählt zu den bedeutendsten Persönlichkeiten des 20. Jahrhunderts. Geboren wurde er 1900 als einziges Kind des orthodox-jüdischen Weinhändlers Naphtali Fromm und seiner Frau Rosa (geb. Krause) in Frankfurt am Main. Fromm war Mitbegründer des „Süddeutschen Instituts für Psychoanalyse“ und beeinflusste als Mitglied des „Instituts für Sozialforschung“ die Frankfurter Schule. 1934 emigrierte er in die USA, 1950 siedelte er nach Mexico-City über, wo er das Mexikanische Institut für Psychoanalyse mitgründete. In den 1960er Jahren verlagerte er sein Domizil endgültig in die Schweiz, wo er 1980 in Muralto (Tessin) starb.

Erich Fromm war ein Vordenker und Wegbereiter der Interdisziplinarität. Sein Wissensschatz entsprach dem eines Universalgelehrten. Er studierte zuerst Rechtswissenschaften und die religiösen Schriften des Judentums, später Nationalökonomie (Soziologie) und Psychologie, und er hatte ein besonderes Interesse für die Philosophie, Geschichte und Politik. Fromm war einer der Ersten, der nicht nur psychische und biologische, sondern auch soziale, kulturelle, politische, wirtschaftliche, religiöse und nicht zuletzt pädagogische Prägungsfaktoren des Menschen in seine Analysen mit einbezog.

Charlie Chaplin Modern Times

Abb. 2) Zu den grossen Sozialkritikern des 20. Jahrhunderts zählt der Schauspieler, Regisseur und Filmproduzent Charlie Chaplin. Zur Zeit der McCarthy Ära (1950er Jahre) wurde Chaplin auch als Kommunist verleumdet, um ihn politisch kaltzustellen. Das Bild zeigt ihn im Film „Modern Times“ (1936), in dem er die erzwungene Angleichung des armen Arbeiters an die Maschinen der Kapitalisten kritisiert.

„Autoritäre Mächte“ veränderten im 20. Jahrhundert nicht nur die Geschichte Europas, sondern auch die Erich Fromms. Als der 1. Weltkrieg 1914 ausbrach, durchlief der 14jährige Fromm gerade die Pubertät. Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten unter Adolf Hitler (1933), also wenige Jahre vor dem Ausbruch des 2. Weltkriegs, emigriert er in die USA. Ein Grossteil seiner Verwandtschaft ist in den Konzentrationslagern umgekommen. Kaum verwunderlich, steht bei Fromm die „absolute Herrschaft“ im Vordergrund seiner Forschungsarbeit.

In den staatstreuen Wissenschaften stellt Erich Fromm – wie auch sein einstiger Kommilitone Norbert Elias – bis heute eine umstrittene Persönlichkeit dar. Und auch seine Werke und die darin enthaltenen Thesen und Belege wurden von der Fachwelt sehr lange ignoriert, kritisiert oder einfach totgeschwiegen. Denn die „autoritäre Gewalt“ sah Fromm nicht nur in den Diktaturen der Nationalsozialisten oder Faschisten umgesetzt, sondern auch – und vor allem – in den kapitalistisch-individualistischen Demokratien.

Für Fromm war das 20. Jahrhundert das Jahrhundert der Grossunternehmen und Monopolisten, die ihre „autoritäre Macht“ manifestieren konnten und damit begannen, globale Wirtschaftspolitik zu betreiben. Sie brachten den europäischen Ländern den Wandel zur Industrie- und Konsumgesellschaft und degradierten die Arbeitermassen zu Konsumenten. Die Versprechungen von Kapitalismus und Individualismus, die seit jeher Arbeiterausbeutung und Profistreben rechtfertigen, trafen seiner Meinung nach aber am Ende (wieder einmal) nicht ein, war es doch vielmehr das Jahrhundert der ersten weltweiten Finanz- und Umweltkrisen.

Bereits seit dem 19. Jahrhundert nährten die Imperialisten, Kapitalisten und Wirtschaftsphilosophen den Irrglauben an die „grosse Verheissung“ vom unbegrenzten Fortschritt. Sie wurde von der Überzeugung getragen, dass die Unterwerfung der Natur und der materielle Überfluss dem Grossteil der Menschen die grossmöglichste persönliche Freiheit und das grossmöglichste Glück bringen würden. Gebracht hat sie nach Fromm jedoch den allermeisten nur eines: ein Leben in noch grösserer Angst und noch grösserer Einsamkeit. Dazu Fromm:

„Man muβ sich die Tragweite dieser groβen Verheiβung und die phantastischen materiellen und geistigen Leistungen des Industriezeitalters vor Augen halten, um das Trauma zu verstehen, das die beginnende Einsicht in das Ausbleiben ihrer Erfüllung heute auslöst. Denn das Industriezeitalter ist in der Tat nicht imstande gewesen, seine groβe Verheiβung einzulösen … Daβ sich die groβe Verheiβung nicht erfüllt hat, liegt neben den systemimmanenten ökonomischen Widersprüchen innerhalb des Industrialismus an den beiden wichtigsten psychologischen Prämissen des Systems selbst, nämlich 1. daβ das Ziel des Lebens Glück, das heiβt ein Maximum an Lust sei, worunter man die Befriedigung aller Wünsche oder subjektiven Bedürfnisse, die ein Mensch haben kann, versteht (radikaler Hedonismus); 2. daβ Egoismus, Selbstsucht und Habgier – Eigenschaften, die das System fördern muβ, um existieren zu können – zu Harmonie und Frieden führen.“

 

„Der moderne Mensch ist sich selbst, seinen Mitmenschen und der Natur entfremdet. Er hat sich in eine Gebrauchsware verwandelt und erlebt seine Lebenskräfte als Kapitalanlage, die ihm unter den jeweils gegebenen Marktbedingungen den gröβtmöglichen Profit einzubringen hat. Die menschlichen Beziehungen sind im wesentlichen die von entfremdeten Automaten. Jeder glaubt sich dann in Sicherheit, wenn er möglichst dicht bei der Herde bleibt und sich in seinem Denken, Fühlen und Handeln nicht von den anderen unterscheidet. Während aber jeder versucht, den übrigen so nahe wie möglich zu sein, bleibt er doch völlig allein und hat ein tiefes Gefühl der Unsicherheit, Angst und Schuld, wie es immer dann entsteht, wenn der Mensch sein Getrenntsein nicht zu überwinden vermag.“

 

 

Individuum und Gesellschaft
Haende

Abb. 3) Offene Hände und sich berührende Handflächen signalisieren Nähe und Vertrauen.

Erich Fromm gilt als Begründer der gesellschaftlichen Psychoanalyse. Im Mittelpunkt seiner Arbeit steht die Wechselbeziehung des Menschen zu seiner Umwelt und im Besonderen der Autoritarismus (Prinzip vom absoluten Herrschaftsanspruch). Zwei grundlegende Fragen haben ihn besonders beschäftigt: Was genau ist Es, das Menschen gemeinsam fühlen, denken und handeln lässt? Und wie wirkt sich die aus ihm resultierende Gruppenidentität wieder auf jeden Einzelnen aus? Im Jahrhundert der totalitär geführten Staaten und radikalen Geistesbewegungen fand Fromm reichlich Material für seine Untersuchungen.

Die grösste Angst des modernen Menschen sieht der Sozialpsychologe Fromm in der Angst vor sozialer Isolierung. Hervorgerufen wird sie durch die Hilf- und Machtlosigkeit, die sich aus seinem Unvermögen ergeben, wieder mit der Natur und anderen Menschen zu einer natürlichen Einheit verschmelzen zu können –, nachdem er sich als Individuum und damit als eine eigene Grösse erkannt hat. Denn mit der Selbsterkenntnis ging zweifellos auch die Bewusstwerdung einher, alleine und bedeutungslos zu sein, sich von anderen zu unterscheiden und in einer bedrohlichen Welt zu leben. Der Philosoph in Erich Fromm umschrieb den Prozess unter anderem mit folgenden Worten:

„Der Mensch … ist Leben, dass sich seiner selbst bewuβt ist. Er besitzt ein Bewuβtsein seiner selbst, seiner Mitmenschen, seiner Vergangenheit und der Möglichkeiten seiner Zukunft. Dieses Bewuβtsein seiner selbst als einer eigenständigen Gröβe, das Gewahrwerden dessen, daβ er eine kurze Lebensspanne vor sich hat, daβ er ohne seinen Willen geboren wurde und gegen seinen Willen sterben wird, daβ er vor denen, die er liebt, sterben wird (oder sie vor ihm), daβ er allein und abgesondert und den Kräften der Natur und der Gesellschaft hilflos ausgeliefert ist – all das macht seine abgesonderte, einsame Existenz zu einem unerträglichen Gefängnis. Er würde dem Wahnsinn verfallen, wenn er sich nicht aus diesem Gefängnis befreien könnte – wenn er nicht in irgendeiner Form seine Hände nach anderen Menschen ausstrecken und sich mit der Welt auβerhalb seiner selbst vereinigen könnte. Die Erfahrung dieses Abgetrenntseins erregt Angst, ja sie ist tatsächlich die Quelle aller Angst.“

Die „Gesellschaft“ wiederum definierte Erich Fromm (im Gegensatz zum damaligen Mainstream der angehenden Soziologen, Psychologen und Psychoanalytiker) nicht als ein diffuses Abstraktum, sondern als das, was sie ist: ein Verbund einzelner Menschen. Fromm hinterfragte erstmals die Macht der Gesellschaft und damit den Einfluss, den sie auf das Leben und Wohlergehen jedes Einzelnen ausübt. Als er sich in seinen jungen Jahren den für ihn und seine Zeitgenossen bedeutenden Fragen zuwandte, steckten die Wissenschaften der Soziologie und Psychologie noch in den Kinderschuhen. (Mehr zu ihrer Entstehungsgeschichte im Beitrag „Angstneurosen und Invalidität“ ). Besonders dominiert wurden ihre Ansichten durch die Triebtheorie des Neurologen und Vater der Psychoanalyse Sigmund Freud (1856-1939).

Faust

Abb. 4) Die Fäuste offenbaren den wahren Charakter der „Pseudo-Einheit“, wo Konkurrenzkampf und Nutzdenken dominieren.

Für Sigmund Freud stand fest, dass der Mensch von Natur aus unmoralisch und asozial ist und sein Verhalten grundsätzlich von seiner triebhaften Leidenschaftlichkeit (Sexualtrieb) gesteuert wird. Für ihn existiert das „Individuum“ ausserhalb der Gesellschaft, seine Beziehung zu ihr bezeichnet er als statisch. Die Hauptfunktion der Gesellschaft ist es, den Menschen zu domestizieren. Freuds Auffassung nach stellen die Kräfte, die durch die Unterdrückung seiner natürlichen Triebe freigesetzt werden, das Fundament einer „Kultur“ dar (Sublimierung). Entwickelt eine Person eine psychische Störung, dann für gewöhnlich nur deshalb, weil sie sich der Anpassung widersetzt.

Für Erich Fromm hingegen ist der Mensch weder von Natur aus böse noch wird er als Asozialer geboren. Er ist durch seine natürlichen Triebe sowohl „Individuum“ als auch Bestandteil der Gesellschaft, die er aktiv mitgestaltet. Die Wechselbeziehung zwischen ihm und der Gesellschaft betrachtet Fromm daher auch als dynamisch. Die Ängste, Leidenschaften und Wünsche des Menschen (die sich entwickeln und verändern können) sind immer das Resultat eines gesellschaftlichen Prozesses. Die Energien, die durch die Wechselbeziehungen freigesetzt werden (Entfaltung und Anerkennung individueller Fähigkeiten), nennt Fromm die „Produktivkräfte“, die über die Ausformung der Gesellschaft bestimmen und eine „Kultur“ überhaupt erst erschaffen. Die Ursache von psychischen Störungen führte Fromm – wie auch der Soziologe Norbert Elias – auf die Anpassungszwänge zurück, welche die Angehörigen einer Gesellschaft aufeinander ausüben, um nach innen wie aussen Einheitlichkeit zu suggerieren.

 

„Wenn es auch gewisse allen Menschen gemeinsame Bedürfnisse gibt, wie etwa Hunger, Durst und Sexualität, sind jene Triebe, welche die Unterschiede im Charakter der Menschen bedingen – etwa Liebe und Haβ, das Streben nach Macht und das Verlangen, sich zu unterwerfen, die Freude an sinnlichem Genuβ und die Angst davor –, sämtliche Produkte des gesellschaftlichen Prozesses. … Die Natur des Menschen, seine Leidenschaften und seine Ängste, sind ein Produkt der Kultur“.

 

 

Freiheitsangst und Konformität
Parade

Abb. 5) Uniform dank „Uniform“. Sie soll nach aussen Einheitlichkeit suggerieren – und Individualität verleugnen.

1941 erschien Erich Fromms erstes Hauptwerk „Die Furcht vor der Freiheit“. In diesem formulierte er erstmals seine grundlegende Überzeugung, dass „der moderne Mensch, nachdem er sich von den Fesseln der vor-individualistischen Gesellschaft befreite, die ihm gleichzeitig Sicherheit gab und ihm Grenzen setzte, … noch nicht gelernt hat, seine intellektuellen, emotionalen und sinnlichen Möglichkeiten voll zum Ausdruck zu bringen. Die Freiheit hat ihm zwar Unabhängigkeit und Rationalität ermöglicht, aber sie hat ihn isoliert und dabei ängstlich und ohnmächtig gemacht.“

Unter der „vor-individualistischen“ Gesellschaft verstand Erich Fromm die einstigen Sippen, Stämme oder Dorfgemeinschaften, die durch das Geburtsrecht geprägt waren und jedem seinen Platz in der Gesellschaft zugewiesen hatten. Ihr Rechtsverlust gegenüber den Stadtherren beziehungsweise ihre Verdrängung durch die Klein- und schliesslich Grossstädte wird nach Fromm durch die Renaissance eingeleitet (seit 12. Jahrhundert). Dazumal entwickelte sich in den italienischen Handelsstädten zum ersten Mal ein reiches Stadtbürgertum, das Politik betrieb. Es förderte Individualismus und Kapitalismus und löst eine soziale Revolution aus, verwischten doch die starren Grenzen der „Ständegesellschaft“ zusehend.

Die Zeit der Renaissance markiert für Fromm den Übergang zur „nach-individualistischen“ Gesellschaft. Sie ist geprägt vom gesellschaftlichen Aufstieg des vermögenden und immer häufiger auch gebildeten „Bürgertums“, das vom Städtebau und dem Aufkommen von Handel und Universitäten profitierte. Die Förderung der Bildung und das Entstehen neuer Berufsfelder veränderten letztlich die Sozialstrukturen, wurde nun jeder im wahrsten Sinne des Wortes zu „seines Glückes Schmied“. Für das aufstrebende Bürgertum zählten Konkurrenz- und Nutzdenken fortan zu den wichtigsten „bürgerlichen“ Tugenden. Sie musste ein „Individuum“ unter Beweis stellen, wollte es der „Gesellschaft“ angehören – und in die „bessere Gesellschaft“ aufsteigen.

Soldaten

Abb. 6) Dank „Uniform“ konform.

Die zunehmend politische und wirtschaftliche Bedeutung des „Bürgertums“ löste im Verlaufe der Jahrhunderte unzählige Revolutionen und gewaltsame Aufstände aus –, und schliesslich erhielten die Männer ihr Wahlrecht und andere politischen Rechte zugesprochen. (Siehe dazu auch den Beitrag zur „Französischen Revolution“). Der Wille der Bürgerlichen wie aller europäischen Grossmächte, das eigene Land als globale Wirtschaftsmacht zu etablieren und die Industrialisierung voranzutreiben, mündete im 19. Jahrhundert schliesslich im Imperialismus und Militarismus sowie in der Bürgerangst vor politischer, sozialer und vor allem wirtschaftlicher Isolierung des eigenen Landes – oder in anderen Worten: im 1. Weltkrieg.

Das „Bürgertum“, das seine „Individualität“ feierte, reagierte letztlich auf sein Abgetrenntsein mit einem erneuten Streben nach „Vereinigung“ und Konformität. Erich Fromm war daher auch davon überzeugt, dass der Mensch Angst vor der Freiheit hat. Seiner Meinung nach hat er nur zweierlei Alternativen, um der Last der Freiheit zu entfliehen: entweder er lernt eine „psychisch gesunde“ Gemeinschaft auszubilden, die das „Individuum“ fördert, oder aber er unterwirft sich irgendeiner „autoritären Macht“ und begibt sich in ein Abhängigkeitsverhältnis.

Fromm kam zu dem Schluss, dass die grossen Massen letzteren Ausweg vorziehen. Die allermeisten Menschen ergeben sich fast völlig widerstandslos einer willkürlichen „Macht“ und akzeptieren beinahe bereitwillig ihre Umpolung. Dabei können die Überzeugungen, Sitten oder Praktiken der „Pseudo-Einheit“ (wie Fromm sie nennt), die durch das Zusammenkommen entstehen, noch so unmenschlich, unsinnig oder selbstzerstörerisch sein, solange nur jedem Einzelnen das illusionäre Gefühl vermittelt werden kann, „irgendwo dazuzugehören“. Dazu Fromm:

„in unserer heutigen Gesellschaft des Westens ist die Gemeinschaft mit der Gruppe der am häufigsten eingeschlagene Weg, die Abgetrenntheit zu überwinden. Es ist eine Vereinigung, in der das individuelle Selbst weitgehend aufgeht und bei der man sich zum Ziel setzt, der Herde anzugehören. Wenn ich so bin wie alle anderen, wenn ich keine Gefühle oder Gedanken habe, die mich von ihnen unterscheiden, wenn ich mich der Gruppe in meinen Gewohnheiten, meiner Kleidung und meinen Ideen anpasse, dann bin ich gerettet – gerettet vor der angsterregenden Erfahrung des Alleinseins.“

Für Erich Fromm ist die „Herdenkonformität“ ein Charakteristikum der Diktaturen wie auch der Demokratien. In den ersteren sind es Politiker, Regierungen und ihre Militärs, welche die „autoritäre Macht“ darstellen. In den demokratischen Staaten hingegen sind es die „Wirtschaftsmächte“, die Kapitalisten, Lobbyisten und ihre Konzerne, die über die Politik eines Landes entscheiden und autoritäre Macht ausüben. Angst und Gewalt beherrschen demnach auch die „Staaten der Gleichheit“ und die „Friedenszeit“. Anstatt auf offene Drohungen und Terror wird einfach nur auf Suggestionen und auf Werbepropaganda gesetzt.

 

„Die meisten Menschen sind sich ihres Bedürfnisses nach Konformität nicht einmal bewuβt. Sie leben in der Illusion, sie folgten nur ihren Ideen und Neigungen, sie seien Individualisten, sie seien aufgrund eigenen Denkens zu ihren Meinungen gelangt, und es sei reiner Zufall, daβ sie in ihren Ideen mit der Majorität übereinstimmen. Im Konsensus aller sehen sie den Beweis für die Richtigkeit »ihrer« Ideen.“

 

 

Routinierte Anpassung
Barbie

Abb. 7) Nachkriegszeit: Eine Trauerfarbe wird zum Modetrend und zum Symbol für ein neues Lebensgefühl.

Die Konformität, die vollkommene Übereinstimmung, wird durch das Streben nach Anpassung erreicht. Erich Fromm unterschied zwischen einer „statischen“ und einer „dynamischen“ Anpassung. Unter einer statischen Anpassung verstand er die Aneignung eines speziellen Verhaltensmusters (Gewohnheit), bei der die Charakterstruktur unverändert bleibt. Die dynamische Anpassung, die vor allem durch die Angsterzeugung geprägt ist, verändert hingegen die menschliche Psyche und letztlich auch die Physiologie.

Die dynamische Anpassung kreiert nach Fromm etwas „Neues“, lässt sie doch bei einer Person neue Angstvorstellungen und Triebe aufkommen und hat Auswirkungen auf ihr Verhalten und ihre Persönlichkeit. Eine „Unterwerfung“ kann aufgrund ihrer Wirkung die Bedürfnisse, Gefühlslagen und auch das Selbstbild eines Menschen grundlegend verändern. Sie ist die Ursache für das Auftreten von Neurosen (psychopathologische Erkrankungen). Dazu schreibt Fromm:

„Diese [dynamische Anpassung] und viele andere Strebungen und Ängste, die im Menschen zu finden sind, entwickeln sich als Reaktion auf bestimmte Lebensbedingungen. Sind diese Ängste und Bestrebungen erst einmal zu einem Bestandteil des Charakters eines bestimmten Menschen geworden, verlieren sie ihre Flexibilität, verschwinden nicht mehr so leicht und verwandeln sich auch nicht mehr in andere Triebe.“

Das Streben nach globaler Wirtschaftsmacht mündete in zwei Weltkriegen. Vor dem 1. Weltkrieg (1914-1918) galt das Sparen als Tugend. Nach dem unvorstellbaren Massensterben jedoch wandelte sich das Geldausgeben zum neuen Sinn des Lebens. Die Werbung der Konsum- und Unterhaltungsindustrie fokussierte sich fortan auf die zahlreichen „Fabrikarbeiter“ und „Verwaltungsangestellten“, welche der Weltkrieg hervorgebracht hatte. Gleich nach dem 2. Weltkrieg (1939-1945) suchten die Geschäftsmänner nach neuen Konsumgruppen und „entdeckten“ die Teenager. Sogleich florierte auch die Mode-, Kosmetik-, Musik- und Filmbranche.

Jeans

Abb. 8) Standardisierter Konsum: Die Jeans war ursprünglich eine Arbeiterhose. Heute steht sie für Freiheit, Individualität und Jugend.

Die Menschen der Nachkriegszeiten waren von der Idee beseelt, Lustbefriedigung durch endlosen Konsum könne nicht nur alle individuellen Bedürfnisse befriedigen, sondern auch „Frieden und Freiheit“ erhalten. „Die Befriedigung eines Wunsches unter keinen Umständen hinauszuschieben, wurde im Bereich der Sexualität wie beim materiellen Konsum zum herrschenden Prinzip.“ Der Konsument ist jedoch gleichzeitig auch Arbeitnehmer, und diesem wurde genauestens vorgeschrieben, wie und in welchem Tempo er seine Arbeit zu erledigen hatte und welche persönlichen Eigenschaften, Ansichten und Gefühle er haben sollte. Der perfekte Arbeitnehmer sollte stets fröhlich, tolerant, zuverlässig und ehrgeizig sein und natürlich Teamgeist beweisen.

Für Erich Fromm ist der Konsument der Nachkriegszeit der „angsterfüllte, automatisierte Einzelmensch“, der zu den zahllosen Arbeitnehmern zählt, die monotone und unproduktive Arbeiten verrichten müssen und nur der Traum von der Lustbefriedigung durch Konsum am Leben erhält und antreibt. Jede „Pseudo-Einheit“ wiederum, der er angehört und die sich im Gewand der Arbeitsstelle, des Bekanntenkreises, der politischen Partei oder des Fussballklubs zeigen kann, vergrössert seine Isolationsangst anstatt sie zu bewältigen. Sie werden schliesslich gleichfalls durch das Nutz- und Konkurrenzdenken beherrscht. Dazu Fromm:

„Man kann das menschliche Problem des Kapitalismus folgendermaβen formulieren: Der moderne Kapitalismus braucht Menschen, die in groβer Zahl reibungslos funktionieren, die immer mehr konsumieren wollen, deren Geschmack standardisiert ist und leicht vorausgesehen und beeinfluβt werden kann. Er braucht Menschen, die sich frei und unabhängig vorkommen und meinen, für sie gebe es keine Autorität, keine Prinzipien und kein Gewissen – und die trotzdem bereit sind, sich kommandieren zu lassen, zu tun, was man von ihnen erwartet, und sich reibungslos in die Gesellschaftsmaschinerie einzufügen; Menschen, die sich führen lassen, ohne daβ man Gewalt anwenden müβte, die sich ohne Führer führen lassen und die kein eigentliches Ziel haben auβer dem, den Erwartungen zu entsprechen, in Bewegung zu bleiben, zu funktionieren und voranzukommen.“

 

„Die heutige Gesellschaft predigt das Ideal einer nicht-individualisierten Gleichheit, weil sie menschliche Atome braucht, die sich untereinander völlig gleichen, damit sie im Massenbetrieb glatt und reibungslos funktionieren, damit alle den gleichen Anweisungen folgen und jeder trotzdem überzeugt ist, das zu tun, was er will. Genauso wie die moderne Massenproduktion die Standardisierung der Erzeugnisse verlangt, so verlangt auch der gesellschaftliche Prozeβ die Standardisierung des Menschen, und diese Standardisierung nennt man dann »Gleichheit«.“

 

 

Der ganz normale Wahnsinn
Soziale Medien

Abb. 9) Vor allem die Sozialen Medien dienen heute der Selbstdarstellung und Konkurrenz. Hier können die „Tauschobjekte“ ihren Nutzen anpreisen, mit anderen wetteifern und ihren Narzissmus ausleben – aber auch Angst verbreiten, andere manipulieren und unter Zwang setzen.

Wer sozial isoliert wird oder die Selbsterkenntnis als unmittelbar anhaltende Bedrohung erlebt, da ihn seine Mitmenschen lieber „tot“ als „nutzlos“ sehen wollen, wird von unzähligen Ängsten gequält, die alle der Isolationsangst entspringen. Die biologische Angst befähigt den Menschen dazu, sich auch sehr lebensfeindlichen Bedingungen anzupassen. Ihre Hauptaufgabe ist es schliesslich, sein körperliches wie auch geistiges Überleben zu gewährleisten und die Wechselbeziehung zwischen ihm und seiner Umwelt harmonisch aufeinander abzustimmen. Die Biologie der Angst setzt der psychischen und physiologischen Anpassungsfähigkeit aber auch ihre Grenzen.

Könnte sich der Mensch nicht auf die eine oder andere Art mit seinen Mitmenschen wiedervereinen, würde er „dem Wahnsinn verfallen“, wie Fromm es ausdrückt. Wahnsinnig wird er jedoch auch, wenn er seine wahre Individualität unterdrücken muss. Die „Pseudo-Einheit“, die dem Wahnsinn mit Konformität begegnet, erzwingt bei jedem aber die gleichen Bedürfnisse, die gleichen Gefühlsinhalte und Verhaltensweisen. Der Angst vor sozialer Ausgrenzung wird daher mit der Kreation eines tarnenden, „künstlichen Ichs“ begegnet, das sich im günstigsten Licht präsentiert. Genau dieses falsche Selbstbild“ bedroht letztlich die psychische und physiologische Gesundheit des Menschen. Gefährlich ist es aber auch für die Gesellschaft, die es hervorbringt.

Was eine angebliche Mehrheit als das „Normale“ bezeichnet, entscheidet nach Fromm nicht über den Gesundheitszustand einer Gesellschaft. Die „Normalität“ wird zwar gerne als Resultat „gesunden Menschenverstands“ verkauft, gründet jedoch in den seltensten Fällen auf der rationalen Logik. Sie baut vielmehr auf dem auf, „was alle denken“. Fromm nannte diesen Effekt die „Pathologie der Normalität“ oder auch einen „gesellschaftlich geprägten Defekt“. Was aus gesellschaftlicher Sicht als das „Normale“ bezeichnet wird, kann aus sozialpsychologischer Sicht daher auch „krank“ sein.

Die Konformität bringt „Pseudo-Einheiten“ hervor, deren Mensch- und Weltbild auf Idealvorstellungen aufbauen. Ihre Mitglieder können die vollkommene psychische und physiologische Übereinstimmung mit ihr daher letztlich auch nur vortäuschen. Der industrialisierte Mensch trägt Maske. Fromms Analysen zeigen, dass bei den allermeisten Menschen in den Industriestaaten nicht nur das immense Bedürfnis „dazuzugehören“ so ausgeprägt ist, weil sie sich nichtsdestotrotz als eigenständige Personen, als „Individuen“ wahrnehmen. Es ist auch so omnipotent, weil ihre Psyche die wahre Selbsterkenntnis aufgrund des Konformitätszwangs als Bedrohung empfindet. Sie ist das Fundament der modernen Isolationsangst, auf der die „autoritäre Gewalt“ ihre gezimmerten Ängste aufbaut. Dazu Fromm:

„Man kann die Angst, sich auch nur wenige Schritte abseits von der Herde zu befinden und anders zu sein, nur verstehen, wenn man erkennt, wie tief das Bedürfnis ist, nicht isoliert zu sein. Manchmal rationalisiert man die Furcht vor der Nicht-Konformität als Angst vor den praktischen Gefahren, die dem Nonkonformisten drohen könnten. Tatsächlich aber möchten die Leute in viel stärkerem Maβ mit den anderen konform gehen, als sie – wenigsten in den westlichen Demokratien – dazu gezwungen werden.“

 

Sport Publikum

Abb. 10) „Pseudo-Beziehungen“ werden nicht durch gegenseitigen Respekt und Liebe zusammengehalten, sondern Konkurrenz- und Nutzdenken.

Das Konformitätsstreben wird immer von der Angst vor Erfolgslosigkeit überschattet. Der Angepasste legt sich die verlangten Manieren und marktgerechten Strategien zu, um Freunde und Liebespartner für sich zu gewinnen und liebenswert zu erscheinen. Gleichzeitig bleibt er auf Distanz zu seinen Mitmenschen und ist bemüht, die Kontakte unverbindlich und oberflächlich zu halten, um Nähe und Emotionen zu vermeiden. Schliesslich ist er nicht das „künstliche Ich“, für das er sich ausgibt. Er, das wahre Individuum, hat ganz andere Ansichten, Gefühle und Bedürfnisse.

Fromm definierte den modernen Menschen als einen Selbstentfremdeten, der sich und anderen vortäuscht, ein vernünftiger, ehrlicher und freundlicher Menschenfreund zu sein – und gleichzeitig aus Angst vor sozialer Ausgrenzung dem puren Egoismus und der puren Habgier frönt, um die Täuschung aufrecht erhalten zu können. Denn für diesen Menschen ist es „normal“ geworden, sein Lebensglück in der Lustbefriedigung zu sehen und sich, seine Mitmenschen und seine Umwelt als „Objekte“ wahrzunehmen, die der Genussbefriedigung dienen. Dazu Fromm:

„Des Menschen Glück besteht heute darin »seinen Spaβ zu haben«. Und man hat seinen Spaβ, wenn man sich Gebrauchsgüter, Bilder, Essen, Trinken, Zigaretten, Menschen, Zeitschriften, Bücher und Filme »einverleibt«, indem man alles konsumiert, alles verschlingt. Die Welt ist nur noch da zur Befriedigung unseres Appetits, sie ist ein riesiger Apfel, eine riesige Flasche, eine riesige Brust, und wir sind die Säuglinge, die ewig auf etwas warten, ewig auf etwas hoffen und ewig enttäuscht werden. Unser Charakter ist darauf eingestellt, zu tauschen und Dinge in Empfang zu nehmen, zu handeln und zu konsumieren. Alles und jedes – geistige wie materielle Dinge – werden zu Objekten des Tausches und des Konsums.“

Wer der „Erfolgs-“, „Karriere-“ und „Spassgesellschaft“ angehören möchte, muss seine individuellen Ängste und sein negatives Selbsterleben verdrängen. Er zeigt nur die erwünschten Gefühle, äussert niemals Zweifel, gibt keine Schwächen zu, gesteht keine Fehler ein, stellt keine Fragen, hat keine Probleme, ist nicht traurig oder deprimiert. Er muss immer „positiv denken“, „gut drauf sein“, „sich gut fühlen“ und „alles gut finden“. Und er muss sich vor allem Ängstlichen, Schwachen, Kranken und Gefühlvollem distanzieren, es abwerten, ins Lächerliche ziehen und verachten – wodurch er selbst zum Angsterzeuger wird, der auf Sündenböcke angewiesen ist, auf die er seine eigenen Sorgen und Befürchtungen abwälzen kann.

 

„Die Menschen haben Angst, sie besitzen weder Grundsätze noch Glauben und finden sich ohne Ziel auβer dem einen, immer weiter voranzukommen. Daher bleiben sie Kinder, um hoffen zu können, daβ Vater oder Mutter ihnen schon zu Hilfe kommen werden, wenn sie Hilfe brauchen. … Das tägliche Leben wird streng von allen religiösen Wertvorstellungen getrennt. Man widmet es dem Streben nach materiellem Komfort und nach Erfolg auf dem Personalmarkt. Die Grundsätze, auf die unsere weltlichen Bemühungen sich gründen, sind Gleichgültigkeit und Egoismus (wobei letzterer oft als »Individualismus« oder als »individuelle Initiative« bezeichnet wird). Menschen aus wahrhaft religiösen Kulturen kann man mit achtjährigen Kindern vergleichen, die zwar noch einen Vater brauchen, der ihnen hilft, die aber schon damit anfangen, sich seine Lehren und Prinzipien selbst zu eigen zu machen. Der heutige Mensch ist eher wie ein dreijähriges Kind, das nach dem Vater ruft, wenn es ihn braucht, aber das sich sonst durchaus selbst genug ist, wenn es nur spielen kann.“

 

 

Die Lieblosigkeit der „eigenen Welt“
Virtuelle Realitaet

Abb. 11) Künstliche Realitäten, die Abgeschiedenheit fördern: Der Mensch von heute befindet sich unter Menschen und ist doch völlig alleine in der „Pseudo-Welt“. Sie und die sie prägenden Beziehungen sollen schliesslich weder Liebe noch Geborgenheit vermitteln, sondern vielmehr kontrollierbare Einheitlichkeit und wirtschaftspolitische Konformität nach aussen suggerieren.

Die beiden Weltkriege in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts manifestierten die Angst vor der Bedeutungslosigkeit und dem stets drohendem Tod tief im emotionalen Kollektivgedächtnis. Die Befriedigung sämtlicher individueller Bedürfnisse noch zu Lebzeiten war das Lebensziel der Nachkriegsgesellschaft. Die Unterhaltungsindustrie erschuf neue künstliche Welten, zumeist „heile Welten“. Erich Fromm hat bereits in seinem frühsten Werk dargelegt, wie sehr der moderne Mensch darauf angewiesen ist, „Pseudo-Wirklichkeiten“ zu erzeugen, um die Zugehörigkeit zur „Pseudo-Einheit“ erträglicher für ihn zu machen.

Das 20. Jahrhundert war nicht nur das Jahrhundert der Kriege, es war auch das Jahrhundert des technischen Fortschritts, der Kommunikation und der Unterhaltung. Kunst, Musik, Theater, Kino, Radiohörspiele, Fernsehen und Internet boomten oder kamen auf – und immer neuere Speichermedien wurden erfunden, um Informationen, Musik, Bilder oder Dienstleistungen konsumieren zu können. Zur Inszenierung neuer Wirklichkeiten wurden und werden immer wieder die allerneuesten Techniken und Kommunikationsmittel genutzt. Ihre Erschaffung spiegelt sich in der Sprache, in den kursierenden Trendbegriffen wider, die durch die Medien und Werbung Verbreitung finden („Informationsgesellschaft“, „digitale Welt “ oder „Disney World“).

Der immense Drang nach immer mehr Mitteln und Methoden der Kommunikation offenbart die ungeheure Einsamkeit des modernen Menschen. Doch auch sie zeichnen sich letztlich durch ihren zweckentfremdeten Charakter aus, vermögen sie keine gesunden Beziehungen aufzubauen. Kein Wunder, beschrieb Erich Fromm nicht nur die „Pseudo-Einheit“, „Pseudo-Beziehung“ oder „Pseudo-Wirklichkeit“, sondern auch unterschiedliche, ungesunde Formen der „Pseudo-Liebe“, der „neurotischen Liebe“, die nur in phantastischen Tagträumen Realität gewinnen kann. Bei ihr handelt es sich um die Vorstellung von der „Grossen Liebe“, der „abgöttischen Liebe“, wie sie in den unzähligen Liebesfilmen, Liebesromanen oder Liebesliedern ihren Ausdruck findet.

Die „Pseudo-Liebe“ ist eine sentimentale Liebe, die nicht mit einer realen Person erlebt wird. Sie ist ein „Wunschtraum“, der widerspiegelt, wie man von seinen Eltern und Mitmenschen gerne „um seiner selbst geliebt“ worden wäre – aber nicht wurde und nicht wird. Er offenbart den unstillbaren Hunger nach Liebe und Zuneigung, der als Kind niemals gestillt wurde und im Erwachsenenalter nicht mehr gestillt werden kann. Er findet durch die „Einverleibung“, den Konsum von „Liebesphantasien“ und „Sexaffären“ kurzzeitig Befriedigung, nicht jedoch in der realen Welt. Die Beziehung zum Ehepartner, zur Geliebten oder auch zu den eigenen Kindern und Eltern sind gleichzeitig von Gefühlskälte, Gleichgültigkeit und der Angst vor zu grosser emotionaler Nähe geprägt. Dazu Fromm:

„Die meisten Menschen sehen das Problem der Liebe in erste Linie als das Problem, selbst geliebt zu werden, statt zu lieben und lieben zu können. Daher geht es für sie nur darum, wie man es erreicht, geliebt zu werden, wie man liebenswert wird. Der eine, besonders von Männern verfolgte Weg ist der, so erfolgreich, so mächtig und reich zu sein, wie es die eigene gesellschaftliche Stellung möglich macht. Ein anderer, besonders von Frauen bevorzugter Weg ist der, durch Kosmetik, schöne Kleider und dergleichen möglichst attraktiv zu sein. … Unsere gesamte Kultur gründet sich auf die Lust am Kaufen, auf die Idee des für beide Seiten günstigen Tauschgeschäfts. Schaufenster anzusehen und sich alles, was man sich leisten kann, gegen bares Geld oder auf Raten kaufen zu können – in diesem Nervenkitzel liegt das Glück des modernen Menschen. Er (oder sie) sieht sich die Mitmenschen auf ähnliche Weise an. Der Mann ist hinter einem attraktiven jungen Mädchen und die Frau ist hinter einem attraktiven Mann her. Dabei wird unter »attraktiv« ein Bündel netter Eigenschaften verstanden, die gerade beliebt und auf dem Personalmarkt gefragt sind. Was einen Menschen speziell attraktiv macht, hängt von der jeweiligen Mode ab – und zwar sowohl in körperlicher wie auch in geistiger Hinsicht. … Man will ein Geschäft machen; der erwünschte Gegenstand sollte vom Standpunkt seines gesellschaftlichen Wertes aus begehrenswert sein und gleichzeitig auch mich aufgrund meiner offenen und verborgenen Pluspunkte und Möglichkeiten begehrenswert finden. So verlieben sich zwei Menschen ineinander, wenn sie das Gefühl haben, das beste Objekt gefunden zu haben, das für sie in Anbetracht des eigenen Tauschwerts auf dem Markt erschwinglich ist.“

Für Fromm bestand kein Zweifel darüber, dass die Isolationsangst mit der „Angst vor der Bezogenheit“ einhergeht. Seiner Meinung nach sind in den Industriegesellschaften Nächstenliebe, erotische Liebe, Mutter- oder Vaterliebe zu relativ seltenen Erscheinungen geworden. An ihre Stelle sind verschiedene Formen der „Pseudo-Liebe“ getreten, bei denen es sich in Wirklichkeit um Verfallsformen der Liebe handelt. Das Wissen, nicht derjenige zu sein, der man vorgibt, erzeugt schliesslich die Angst vor emotionaler Nähe, die verräterisch ist. Die Selbst-Instrumentalisierung führt dazu, dass der moderne Mensch nicht mehr zwischen der gesunden „Selbstliebe“ und der krankmachenden „Selbstsucht“ unterscheiden kann:

„Der Selbstsüchtige interessiert sich nur für sich selbst, er will alles für sich, er hat keine Freude am Geben, sondern nur am Nehmen. Die Auβenwelt interessiert ihn nur insofern, als er etwas für sich herausholen kann. Die Bedürfnisse anderer interessieren ihn nicht, und er hat keine Achtung vor ihrer Würde und Integrität. Er kann nur sich selbst sehen; einen jeden und alles beurteilt er nur nach dem Nutzen, den er davon hat. Er ist grundsätzlich unfähig zu lieben. … Der Selbstsüchtige liebt sich (aber) selbst nicht zu sehr, sondern zu wenig; tatsächlich haβt er sich. … Er scheint zu sehr um sich besorgt, aber in Wirklichkeit unternimmt er nur den vergeblichen Versuch, zu vertuschen und zu kompensieren, daβ es ihm nicht gelingt, sein wahres Selbst zu lieben.“

Die Konformität macht aus den Menschen gefühlsarme und selbstgenügsame „Automaten“, deren Verwandlung zum „Tauschobjekt“ auf dem Weg der Routine und Standardisierung erfolgt. Sie geht fast unbemerkbar vonstatten und bringt es nach Fromm letztlich doch nicht fertig, „die Angst vor dem Abgetrenntsein zu mildern. Die Häufigkeit von Alkoholismus, Drogen, zwanghafter Sexualität und Selbstmord in der heutigen westlichen Gesellschaft sind Symptome für dieses relative Versagen der Herdenkonformität.“ In den Industriegesellschaften sind das „Geliebt werden“ und „Haben von Liebe“ wichtig geworden, doch zur Angstbewältigung beitragen tun sie nicht. Dazu Fromm:

„Unsere Zivilisation verfügt über viele Betäubungsmittel, die den Leuten helfen, sich ihres Alleinseins nicht bewuβt zu werden. Da die Arbeitsroutine hierzu nicht ausreicht, überwindet der Mensch seine unbewuβte Verzweiflung durch die Routine des Vergnügens, durch den passiven Konsum von Tönen und Bildern, wie sie ihm die Vergnügungsindustrie bietet; auβerdem durch die Befriedigung, ständig neue Dinge zu kaufen und diese bald wieder gegen andere auszuwechseln. Der moderne Mensch kommt tatsächlich dem Bild nahe, das Aldous Huxley in seinem Roman Brave New World (1946) beschreibt: Er ist gut genährt, gut gekleidet und sexuell befriedigt, aber ohne Selbst und steht nur in einem höchst oberflächlichen Kontakt mit seinen Mitmenschen.“

Zwischenmenschliche Beziehungen sind heutzutage oft mit schweren Enttäuschungen und Konflikten verbunden, die neue intensive Ängste, eine Depression oder sogar Suizidgedanken aufkommen lassen. Gleichzeitig sind sie oberflächlich und kurzweilig geworden, wie sich ebenfalls an neuen Trendbegriffen zeigt („Lebensabschnittspartner“, „Patchwork-Familie“ usw.). Tauschobjekte sind schliesslich zum Tauschen da. Erich Fromm war davon überzeugt, dass der moderne Mensch seine Isolationsangst durch die fundamentalste Art der Liebe, der Nächstenliebe, überwinden könne. Er war aber nicht sicher, ob der zum Narzissmus erzogene Mensch überhaupt noch dazu im Stande ist, wird doch seine gesamte Lebenswelt durch das Konkurrenz- und Nutzdenken beherrscht.

 

Arbeiter Nationalsozialismus

Abb. 12) Gefangen in der Gesellschaft: Ob Mitläufer oder nicht, auch derjenige, der „gegen den Strom schwimmt“, entkommt der Masse nicht. Das Bild zeigt einen Arbeiter zur Zeit des Nationalsozialismus (1933), der sich dem Hitlergruss verweigert.

Für Erich Fromm ist der Mensch der Moderne ein Geängstigter, der konform denkt und sich konform verhält, damit er trotz seiner „seelischen Vereinsamung“ in der „Pseudo-Einheit“ überleben kann. Einerseits hat er Angst vor dem Abgetrenntsein und tut alles, um irgendwo „dazuzugehören“. Andererseits fürchtet er die wahre Selbsterkenntnis und die Blossstellung seiner Unvollkommenheit und Täuschungsversuche durch andere. Die Routine stumpft ihn ab, manche Fragen werden irgendwann nicht mehr gestellt. Dazu Fromm:

„Von der Geburt bis zum Tod, von einem Montag zum anderen, von morgens bis abends ist alles, was man tut, vorgefertigte Routine. Wie sollte ein Mensch, der in diesem Routinenetz gefangen ist, nicht vergessen, daβ er ein Mensch, ein einzigartiges Individuum ist, dem nur diese einzige Chance gegeben ist, dieses Leben mit seinen Hoffnungen und Enttäuschungen, mit seinem Kummer und seiner Angst, mit seiner Sehnsucht nach Liebe und seiner Furcht vor dem Nichts und dem Abgetrenntsein zu leben?“

Fromms Meinung nach glaubt ein „gesundes“ Individuum „an seine eigenen menschlichen Kräfte und hat den Mut, auf seine Kräfte zu vertrauen. In dem Maβ, wie ihm diese Eigenschaften fehlen, hat er Angst, sich hinzugeben – Angst zu lieben.“ Eine „psychisch gesunde“ Gesellschaft wiederum zeichnet sich durch die Grundelemente Fürsorge, Verantwortungsgefühl, Achtung und Erkenntnis aus. Unter ihnen verstanden hat er die Sorge für das Leben und das Wachstum dessen, was der Mensch liebt, aber auch die Fähigkeit und Bereitschaft, Empathie zu empfinden, auf die Bedürfnisse anderer zu reagieren und ihre Individualität anzuerkennen. Fromm war überzeugt, dass der moderne Mensch jedoch erst seinen „narzisstischen Wunsch“ überwinden müsse, andere auszubeuten und sich ihren geistigen und materiellen „Besitz“ einzuverleiben, um eine solche Gesellschaft erschaffen zu können.

 

„Die Bezogenheit auf die Welt kann von hohen Idealen getragen oder trivial sein, aber selbst wenn sie noch so trivialer Art ist, ist sie dennoch dem Alleinsein noch unendlich vorzuziehen. Die Religion und der Nationalismus oder auch irgendeine Sitte oder ein noch so absurder und menschenwürdiger Glaube sind – wenn sie den einzelnen nur mit anderen verbinden – eine Zuflucht vor dem, was der Mensch am meisten fürchtet: die Isolation. … Dadurch, dass er sich als von der Natur und den anderen Menschen unterschieden erfährt, und dadurch, dass er sich – wenn auch nur vage – bewusst ist, dass es Tod, Krankheit und Alter gibt, empfindet er unvermeidlich seine Bedeutungslosigkeit und Kleinheit im Vergleich zum All und zu allen anderen, die nicht „er“ sind. Wenn er nicht irgendwo dazugehörte, wenn sein Leben keinen Sinn und keine Richtung hätte, würde er sich wie ein Staubkörnchen vorkommen und von seiner individuellen Bedeutungslosigkeit überwältigt werden.“

 

Erich Fromms Hauptwerke erschienen zwischen 1941 und 1976. Wer sie liest, sieht sich im 21. Jahrhundert angekommen. Im Gegensatz zu ihm betrachtete Sigmund Freud die „Gesellschaft“ als eine Art „Markt“, wo das „Objekt Mensch“ mit anderen „Objekten“ zwecks Bedürfnisbefriedigung in Beziehung tritt und das Angebot die natürlichen Triebe des Menschen entweder befriedigt oder unbefriedigt lässt. Seiner Meinung nach entsprechen zwischenmenschliche Beziehungen im Wesentlichen einem „Tauschgeschäft“. Scheitern die Beziehungen oder bleiben Bedürfnisse unbefriedigt, dann deshalb, weil der Betroffene sich nicht besser angepasst hat. Die „Gesellschaft“ trägt keine Schuld. Es ist seine triebgesteuerte, unmoralische und asoziale Natur, die eine „Vereinigung“ unmöglich macht.

Erich Fromm, der anfänglich ein grosser Verehrer und Schüler Sigmund Freuds war, rechnete am Ende mit den überholten Ansichten seines Lehrers ab. Schonungslos gab er in seinen Werken seine Überzeugungen zum Besten, indem er unbequeme Fragen stellte und genauso unbequeme Antworten lieferte. Seine Schlussfolgerungen basieren jedoch auf der rationalen Logik. Kein Wunder, werden seine Theorien und Überzeugungen von den Wissenschaften (wenn auch zumeist ungewollt) immer wieder aufs Neue verifiziert. Obwohl Sigmund Freuds Theorien heutzutage in seriösen Fachkreisen fast alle als widerlegt gelten, sind seine Meinungen jedoch allgemein beliebt und einflussreich geblieben. Denn er beschreibt das „Normale“, das, was „jeder denkt“ und dem „gesunden Menschenverstand“ zu entspringen scheint.

 

Zitate: Fromm, Erich: Die Furcht vor der Freiheit, München 1941; Ders.: Die Kunst des Liebens, Stuttgart 1956; Ders.: Haben oder Sein, München 1976.

Literatur: Bahrdt, Hans Paul: Schlüsselbegriffe der Soziologie, München 1984; Biehrhoff, Burkhard: Erich Fromm. Analytische Sozialpsychologie und visionäre Gesellschaftskritik, Opladen 1993; Endruweit, Günter (Hg.): Wörterbuch der Soziologie, 2. Auflage, Stuttgart 2002; Ferst, Marko (Hg.): Erich Fromm als Vordenker. “Haben oder Sein“ im Zeitalter der ökologischen Krise, Berlin 2002; Fromm, Erich: Die Furcht vor der Freiheit, München 1941; Ders.: Die Kunst des Liebens, Stuttgart 1956; Ders.: Haben oder Sein, München 1976; Funk, Rainer u.a. (Hg.): Erich Fromm heute. Zur Aktualität seines Denkens, München 2000; Ders.: Erich Fromm – Liebe zum Leben, Stuttgart 1999; Gurjewitsch, Aaron J.: Das Individuum im europäischen Mittelalter, München 1994; Hobsbawm, Eric J.: Das Zeitalter der Extreme. Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts, 8. Auflage, München 2007; Wehr, Helmut: Erich Fromm intellektuell gelesen, in: Interkulturelle Bibliothek, hg. v. u.a. Hamid, Reza Yousefi und Klaus Fischer, Bd. 108, Nordhausen 2006.

Bildernachweise: Titelbild) Wikipedia.com (Erich Fromm 1974); Abb. 1) Funk, Rainer: Erich Fromm – Liebe zum Leben, Stuttgart 1999; Abb. 2) The-philosophy.com; Abb. 3-10) Pixabay.com; Abb. 11) Megamaschine.org; Abb. 12) Boeckler.de (Hans-Böckler-Stiftung, Scharl-SV-Bilderdienst).

 

By |2023-12-03T09:20:10+00:00Mai 1st, 2019|AnGSt|0 Comments
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