Hexenangst (1/5) – Fliegende Wesen

Die Hexe symbolisiert seit jeher die Urängste des Menschen. Aus Sicht der Angstgeschichte kennt das Zeitalter der Hexenfurcht daher auch keinen Anfang und kein Ende. Es gab aber einmal eine Zeit, als sie in ganz Europa – und über seine Grenzen hinaus – zum Politikum wurde und zu pogromartigen Ausschreitungen geführt hat. Die Reihe Hexenangst gibt einen Einblick in das Hexenthema, das bis heute seine Aktualität nicht eingebüsst hat – und mit Gewissheit auch in Zukunft nicht einbüssen wird.

 

Kapitel: Magische Welten – Flatterhaftes Wesen – Fliegende Ungeheuer – Die volkstümliche Hexe

 

Magische Welten
Pilz-Gnome

Abb. 1) „Giftzwerge“: Dem ältesten Volksglauben nach wird die Natur von Wesen bevölkert, deren Existenz sich nur in ihrem Wirken zeigt.

Der Glaube an die Magie und die Fähigkeit der Zauberei sind dem Totenkult entsprungen und gehören zur frühsten Form der Angstbewältigung. Sie finden sich bei allen Völkern der Erde und dies epochenübergreifend. Ihre Deutung ist immer kulturell geprägt und vom gerade herrschenden Religionsbewusstsein abhängig. Schon immer unterschied der Mensch zwischen „weisser“ und „schwarzer“ Magie, und auch das Ergebnis eines Zaubers wird von ihm seit jeher entweder als natürlich/gut (Wunder) oder als zauberisch/böse (Schädigung) bewertet.

Der ursprüngliche Magieglaube basiert auf der Überzeugung, dass die Elemente von göttlichen Wesen beherrscht werden, deren Existenz und übernatürlichen Kräfte sich einzig an ihrem Wirken zeigen. Der Zauberglaube wiederum geht von der Auffassung aus, der Mensch könne durch spezielle Rituale und Beschwörungen die Kräfte solcher Elementargeister auf sich selbst übertragen.

Der Glaube an die Magie ermöglichte es dem Naturmenschen, die für ihn gefährliche und furchteinflössende Welt zu erklären und so seine Ängste vor der grausamen Natur, der Dunkelheit und dem Tod zu beschwichtigen. Der Glaube an die Zauberei wiederum stellt einen ersten Versuch dar, aktive Angstbewältigung zu betreiben. Der Zweck der Zauberei war es daher von Beginn an, dem Menschen Macht zu verleihen, damit er selbst Einfluss auf die sichtbaren Dinge und sein Sterben nehmen kann.

Dem alten Volksglauben nach besitzen nur übernatürliche Wesen die Fähigkeit, in Pflanzen, Steine oder auch Tiere und Menschen einzudringen und durch sie zu wirken. Zu ihnen zählte anfangs auch die Hexe. In den ältesten Berichten wird sie als eine Art Geist oder Dämon beschrieben, der Tiergestalt annehmen kann. Später wurde sie vor allem als „Person“ gedacht, die dank ihres Magiewissens zur Zauberei befähigt ist.

 

 

Ein flatterhaftes Wesen
Vogel-Eule

Abb. 2) Seit jeher stehen geflügelte Mythenwesen symbolisch für die Grenze zwischen Dies- und Jenseits aber auch Zivilisation und Wildnis.

Das älteste Kennzeichen menschlicher Kultur ist die Totenbestattung. Das Jenseits wiederum wird seit jeher durch das Element „Luft“ symbolisiert. Kaum verwunderlich, stellen Vögel und mythische Vogelwesen die ältesten Todesgötter dar. Sie fungieren in den frühsten Bestattungsritualen als eine Art Seelenbegleiter und Mittler zwischen den Welten.

In den ältesten, aus dem nördlichen Europa stammenden Hexensagen wird die „Hexe“ („Hägsche“) als ein dämonisches oder wundersames, zumeist gefiedertes Wesen beschrieben, das auf einer Hecke/einem Hag sitzt. Den Sprachwissenschaftlern zufolge ist sie die Nachkommin eines Zauberwesens aus dem tiefen Norden, einer Elbe oder eines Geistes. Ihr Name ist germanischen Ursprungs und wird unter anderem von den Begriffen „hagazussa“, „hagzissa“ und „hagethusa“ (ahd.), „hagedisse“ (and.), „haegetesse“ (angelsächsischer Raum, seit dem 8. Jh.) und dem nordischen Wort „tusjo“ (Dämon) sowie der älteren, norwegischen Bezeichnung „tysija“ (Elbe) hergeleitet.

Die Vorstellung von der Zauberin ist universell und lässt sich bei allen Völkern finden. Kein Wunder, wird auch die Herkunft der Hexenvorstellung gleich mit mehreren Götterwesen in Verbindung gebracht. Zu ihnen zählen beispielsweise Hekate, die griechische Göttin der Unterwelt, Mutter der Zauberer und Geisterbeschwörer, sowie die Zeusgemahlin Hera (Schutzgöttin der Ehe und Frau). Ihre Namen gelten in der Sprachwissenschaft auch als etymologische Vorläufer des deutschen „Hexen“-Begriffs, was sehr bemerkenswert ist, bedenkt man die Distanz, die Sprachunterschiede und überhaupt die anfänglich kaum vorhandene Kommunikation zwischen den germanischen Stämmen und den Griechen.

 

 

Fliegende Ungeheuer
Elfe mit Kind

Abb. 3) Fliegende Zauberinnen können „gut“ oder auch „böse“ sein. Die „Gute“ wird in den Märchen und Sagen oft „Elfe“ oder „Fee“ genannt.

In den ältesten, aus dem Süden und Südosten stammenden Volkssagen wird die Zauberin gleichfalls als ein magisches und fliegendes Wesen beschrieben. Hier wird sie besonders oft in Verbindung mit dem Kinderraub erwähnt. Die Überzeugung, dass gefiederte Mythenwesen oder eine in einen Vogel verwandelte Zauberin nachts ausfliegen, um Kleinkinder aus ihren Bettchen zu stehlen, war ein fester Bestandteil sowohl der südlichen als auch nördlichen Glaubenswelt.

Im griechischen Mythos findet sich die Zauberin in Vogelgestalt unter anderem in Form der blutsaugenden Empuse und Lamie wieder. Ideengeschichtlich mit ihnen verwandt ist die grausame Gello, eine zu früh verstorbene Jungfrau, die Kinder tötet. Sie alle gemeinsam sind vermutlich mit den Harpyien identisch, die gleichfalls nachts ausfliegen, um schlafenden Kindern ihren Lebenssaft und ihre Eingeweide auszusaugen. In der altjüdischen Mythologie wiederum ist es das Nachtgespenst Lilith, das bevorzugt kleine Jungen frisst oder ihr Blut trinkt.

In der römischen Götterwelt nennt man die nachts ausfliegenden und menschenfressenden Zauberinnen auch Strigen. Darstellungen dieser seltsamen Eulenwesen finden sich unter anderem in den Schriften des römischen Dichters Ovid (43 v. – 17 n. Chr.). In den römischen Schriften genannt wird auch Larva, die spukende Seele einer Verstorbenen, die Menschen erschreckt und umbringt. Sie tritt manchmal auch in der Mehrzahl auf (Larvae) und ist mit der Lemur (oder Lemures) verwandt.

Die ersten Vorstellungen von Zauberinnen „in Menschengestalt“ finden sich bereits im alten Mesopotamien. Besonders die Frauen Akkads, Chaldäas und später auch Thessaliens waren in den Nachbarländern als solche verschrien. Sie sollen mit Hilfe spezieller Beschwörungen, Zauberformeln, Getränken und Bildnissen, Zauberrituale durchgeführt haben. Den Thessalierinnen sagte man auch schon nach, sie besässen die Fähigkeit, fliegen und sich dank magischer Salben in Tiere und andere Menschen verwandeln zu können.

 

 

Die volkstümliche Hexe
Hexe fliegt auf Gans

Abb. 4) Als die Hexenverfolgung in Europa ihren Anfang nahm, war der Name „Hexe“ bereits zum Sammelbegriff verkommen, wie sich insbesondere an ihrem facettenreichen „Wirken“ aufzeigen lässt.

Die Vorstellungen von den Zauberinnen und Hexen wurden über viele Generationen hinweg mündlich überliefert und erst sehr viel später aufgeschrieben. In den erhaltenen Schriftquellen steht die Hexe, die auch mal als „Hecs“ oder „Hegxe“ bezeichnet wird, für dreierlei:

1) ein uraltes übernatürliches Wesen, 2) eine Person, die Zauberei betreibt, und 3) ein Sammelbegriff – und dies bereits zur Zeit der Hexenverfolgung (!) – , der die ältesten und unterschiedlichsten Magiewesen und Zaubereivorstellungen miteinander in Beziehung setzt.

Die volkstümliche Hexe des Nordens, deren Bild vor allem in den neuzeitlichen Prozessakten und modernen Märchen eine Überlieferung findet, wird in den alten Volkssagen nicht nur als eine selbständig agierende Person beschrieben, sondern auch als ein von Angst geplagtes Wesen. Aus Furcht vor der Entdeckung durch ihre Mitmenschen tut sie nämlich alles, um ihr wahres Sein zu verstecken. Sie zaubert nur dann, wenn sie dazu gedrängt wird – aber auch, wenn die Bosheit sie antreibt oder der Wunsch nach Rache und Reichtum aufkommt.

Die Hexe des einfachen Volkes kann fliegen, frisst kleine Kinder und betreibt Schadenzauberei. Ausserdem kann sie sich in ein Tier verwandeln, Macht über die Tiere erlangen oder welche hervorzaubern. Kaum verwunderlich, werden unglaublich viele verschiedene Tierarten mit der Hexe in Verbindung gebracht, darunter die Katzen, Wölfe, Hasen, Mäuse, Gänse, Füchse, Würmer, Schmetterlinge oder Hühner. Der Schadenzauber, den sie mit ihrer Hilfe betreibt, nimmt eine ganz besondere Stellung im Hexenglauben ein – wie auch in den späteren Hexenprozessen. Um ihn durchzuführen, nutzt die volkstümliche Hexe oftmals die magischen Kräfte der Elben, eine Art Elementargeister, die sich den Menschen in der Gestalt von „Schädlingen“, von Würmern, Raupen oder anderem Getier zeigen. Sie werden von ihr von Bäumen geschüttelt oder unter Holunderbäumen ausgegraben. Besonders gerne als Hilfsmittel zum Zauber genutzt werden von ihr auch die gestohlenen Kinder, denen dem Glauben nach aufgrund der gerade erst erfolgten Geburt noch die Kraft des Übernatürlichen anhaftet.

Die Vielfalt an Überlieferungen hat dazu geführt, dass sich in den mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Schriftquellen viele unterschiedliche Namen für die Zauberin und Hexe finden lassen: „Striege“, „Lamie“, „Nachtfraw“, „Nebelhexe“, „Zäubersche“, „Bock-Reuterin“ usw. In der Bibel wiederum wird die „Hexe“ an keiner Stelle aufgeführt. Erwähnung findet hier nur die Totenbeschwörerin von Endor (En-Dor), zu der sich der erste König Israels eines Nachts verkleidet aufmacht, damit sie ihm wahrsage. Tatsächlich mussten die Kirchenväter das Feindbild „Hexe“ zuerst einmal kreieren. Davor aber übertrugen sie ihre Fähigkeiten und Merkmale auf die ersten offiziellen Gegner der Kirche: die Häretiker und Ketzer. – Mehr Infos im zweiten Teil: „Hexenangst – Gefallene Engel.“

 

Literatur: Bettlé, Nicole J.: Wenn Saturn seine Kinder frisst. Kinderhexenprozesse und ihre Bedeutung als Krisenindikator, in: Freiburger Studien zur Frühen Neuzeit, hg. v. Volker Reinhardt, Bd. 15, Bern u.a. 2013; Dies.: Angst in der Eidgenossenschaft, Norderstedt 2006; Blauert, Andreas (Hg.): Ketzer, Zauberer, Hexen. Die Anfänge der europäischen Hexenverfolgungen, Frankfurt a. M. 1990; Ders.: Frühe Hexenverfolgungen. Ketzer-, Zauberei- und Hexenprozesse des 15. Jahrhunderts, Hamburg 1989; Borst, Arno: Barbaren, Ketzer und Artisten. Welten des Mittelalters, München 1988; Bovenschen, Silvia: Die aktuelle Hexe, die historische Hexe und der Hexenmythos. Die Hexe: Subjekt der Naturaneignung und Objekt der Naturbeherrschung, in: Der Hexenstreit. Frauen in der frühneuzeitlichen Hexenverfolgung, hg. v. Claudia Opitz, Freiburg i. Br. 1995; S. 36-98; Eiden, Herbert: Vom Ketzer- zum Hexenprozeß, in: Incubi Succubi. Hexen und ihre Henker bis heute. Ein historisches Lesebuch zur Ausstellung, hg. v. Rita Voltmer und Franz Irsigler, Luxemburg 2000, S. 33-46; Etymologie der deutschen Sprache. Herkunftswörterbuch, Bd. 7, Mannheim 2001; Fuchs, Konrad und Raab, Heribert (Hg.): Wörterbuch Geschichte, München 2001; Grimm, Jacob und Wilhelm: Deutsches Wörterbuch, Leipzig 1877; Hoffmann-Krayer, Eduard (Hg.): Luzerner Akten zum Hexen- und Zaubererwesen. I.-IV. Aus: Schweizerisches Archiv für Volkskunde, 3. Jahrgang, Zürich 1899; Ders.: Handwörterbuch des Deutschen Aberglaubens, Bd. III. Berlin/Leipzig 1930/31 und Bd. IV. Berlin/Leipzig 1931/1932; Lehrmann, Joachim: Hexen- und Dämonenglaube im Lande Braunschweig. Die Geschichte einer Verfolgung unter regionalem Aspekt. Hannover 1997; Lorenz, Sönke (u.a. Hg.): Wider alle Hexerei und Teufelswerk: die europäische Hexenverfolgung und ihre Auswirkungen auf Südwestdeutschland, Ostfildern 2004; Schwaiger, Georg (Hg.): Teufelsglaube und Hexenprozesse, 4. Auflage, München 1999; Soldan, Wilhelm Gottlieb und Heppe, Heinrich: Geschichte der Hexenprozesse, hg. v. Max Bauer, Bd. I. und Bd. II. München 1912.

Bildernachweis: Titelbild) Preussler, Otfried: Die kleine Hexe. Mit vielen Zeichnungen von Winnie Gebhardt-Gayler, Stuttgart/Wien 1957; Abb. 1-4) Pixabay.com.

 

By |2023-11-22T16:19:57+00:00November 26th, 2018|AnGSt|0 Comments
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