Orson Welles und die Massenpanik der anderen Art

Am 30. Oktober 1938 brach an der Nordostküste der USA eine Massenpanik aus. Im Radio war gemeldet worden, dass in New Jersey ein Raumschiff gelandet sei und Marsbewohner eine Invasion gestartet hätten. Das Ereignis, das sich am Abend vor Halloween abspielte, ging ins emotionale Gedächtnis der amerikanischen Bevölkerung ein – und schrieb selbst wieder Angst-Geschichte.

 

Kapitel: Orson Welles und die Panik – Trickkiste – Kriegsangst

 

Orson Welles und die Panik
Orson Welles

Abb. 1) George Orson Welles (1938).

Im Bundesstaat New Jersey setzte am 30. Oktober 1938 kurz nach 20 Uhr eine Massenflucht ein, als im Radio von einer Marsinvasion berichtet wurde. Kurz darauf schon verstopften Autos die Strassen, Kirchen wurden gestürmt und Polizei und Nationalgarde rückten aus, um der Lage Herr zu werden. Unzählige Menschen überrannten auch die Krankenhäuser und psychiatrischen Einrichtungen. Die Ärzte verzeichneten etliche Fehlgeburten, Knochenbrüche und Herzattacken. An der Universität Princeton versammelten sich todesmutige Professoren und Studenten, die gemeinsam die Ausserirdischen erforschen und ihre Ziele auskundschaften wollten.

Schon bald kam die Panik auch in den Nachbarstaaten auf. In New York City rannten die verängstigten Leute mit Hand- oder Taschentüchern auf ihren Köpfen durch die Strassen, um sich gegen die Giftgasangriffe der Marsianer zu schützen. In Pittsburgh (Pennsylvania) beging eine Frau Selbstmord, da sie befürchtete, von Ausserirdischen vergewaltigt zu werden. Zahllose Menschen beteten auf den öffentlichen Plätzen oder suchten verzweifelt nach einem Versteck, andere wiederum plünderten die Läden.

So oder so ähnlich beschrieben die Medien die Ereignisse, die sich an diesem Vorabend vor Halloween in den Mittelatlantikstaaten abspielt haben sollen. Dass an diesem Abend an der Nordostküste der USA die Angst umging, ist bis heute unbestritten. Ob die Medienberichte jedoch tatsächlich passierte Geschehnisse beschreiben, ist bis heute umstritten und noch immer Gegenstand der Forschung.

Der Auslöser der Panik war jedenfalls ein Radiohörspiel von The Mercury Theatre on the Air, das an diesem Herbstabend unter der Leitung von Columbia Broadcasting System (CBS) über den Äther ging. Als Vorlage diente den Machern des Hörspiels der Roman „Der Krieg der Welten“ (The War of the Worlds) von Herbert George Wells (1866-1946). Er wurde 1898 veröffentlicht und erzählt von einem Angriff der Marsianer auf das englische Königreich. Wells‘ Fantasyroman, der in der Literaturwissenschaft als Urwerk der sogenannten „Invasionsliteratur“ gilt, wurde zwar offiziell von Howard Koch für das Radio adaptiert. Am Ende stand jedoch vor allem der dazumal 23jährige Orson Welles (1915-1985) im Rampenlicht, der nicht nur entscheidend an der Bearbeitung des Erzählstoffs und seiner medialen Inszenierung beteiligt war, sondern auch der Hauptfigur seine Stimme lieh. Er sprach die Rolle des Astronomen Dr. Pearson, ein Augenzeuge der Marsinvasion, aus dessen Sicht die Geschichte erzählt wird.

 

Bei der Radiosendung handelt es sich um eine Art Sendung in der Sendung. Zuerst ist ein Wetterbericht zu hören. Danach wird die Schaltung in ein New Yorker Hotel verlegt, aus dem Musik übertragen wird. Plötzlich folgt eine erste Unterbrechung des Musikprogramms. Ein Sprecher informiert die Zuhörer darüber, dass ein Observatorium in Illinois seltsame Vorgänge in der Atmosphäre des Mars‘ beobachtet hat. Ein Wissenschaftler namens Dr. Pearson wird zum Phänomen befragt. Von nun an wechseln sich musikalische Unterhaltung und immer neue Berichte ab, die zwischen den Handlungsorten Grover’s Mill (New Jersey) und New York City ausgetauscht werden und die Invasion der Marsianer beschreiben. Nach rund vierzig Minuten endet die Berichterstattung mit den Worten eines Piloten, der sich an andere Funker auf seiner Frequenz und an die (vermutlich bereits verwaiste) Sendeanstalt wendet. Er fragt, ob noch irgendjemand auf Sendung sei. An dieser Stelle unterbricht CBS das Programm mit einem Hinweis, der die Hörspielsituation wieder herstellt. Danach spricht Dr. Pearson aus der Position eines Erzählers, der auf vergangene Ereignisse zurückblickt und sich mit einem anderen Mann darüber austauscht, wie die Menschheit im Untergrund überleben könne.

Wer sich das Originalhörspiel „The War of the Worlds“ mit Orson Welles auf der Seite des Internet Archivs anhören möchte, klickt hier!

 

 

Trickkiste
Orson Welles Pressekonferenz

Abb. 2) Pressekonferenz nach der Panik: Das Interview der „New York Times“ ist bis heute die ausführlichste gedruckte Beschreibung der Geschehnisse am Abend des 30. Oktober 1938.

Das Mercury Theatre on the Air war ein Radioprogramm, das wöchentlich und zu regulären Zeit gesendet wurde. Seinen Zuhörern war der fiktive Charakter des Unterhaltungsprogramms bekannt. Nicht nur in den Zeitungen war angekündigt worden, dass eine nächste Sendung H.G. Wells‘ Fantasybuch Der Krieg der Welten behandeln würde. Auch Orson Welles gab als Hauptredner am 30. Oktober 1938 im Vorfeld an, dass es sich bei dem folgenden Hörspiel um reine Science-Fiction handle. Warum also gerieten so viele Leute plötzlich in Angst und glaubten tatsächlich an eine Invasion der Marsianer?

Über die Gründe für die Massenpanik wird bis heute spekuliert. Als sie vorüber war, gerieten die Leiter des CBS‘ jedenfalls ins Kreuzfeuer der Kritik. Vor allem Orson Welles jedoch wurde vorgeworfen, er hätte die Angstmacherei genauestens geplant. Er soll ganz bewusst nur am Anfang der Sendung auf den fiktiven Gehalt des Hörspiels hingewiesen haben. Viele Zuhörer, die zuerst die populäre „Edgard-Bergen-and-Charlie-McCarthy-Show“ auf einem Konkurrenzsender verfolgt und erst später zu seiner Sendung umgeschaltet hätten, sollen auf diese Weise von ihm in die Irre geführt worden sein.

Als weitere Gründe für die Panik galten schon dazumal die Änderungen, welche die Autoren an H.G. Wells‘ Stoff vorgenommen hatten. Die Originalgeschichte spielt sich schliesslich in England beziehungsweise in London ab. Koch und Welles jedoch verlegten die Handlung in die USA. Dass reale amerikanische Ortschaften als Angriffsorte genannt wurden, gilt auch heute als Hauptauslöser der Angst.

Natürlich gab es noch weitere Erklärungen für die Massenpanik: die gewählte Form der Live-Übertragung, die unterschiedlichen Zeitformen, die im Stück zur Anwendung kamen, aber auch Orson Welles‘ beiläufig gemachte Bemerkung, dass bereits 32 Millionen Menschen das Radio eingeschaltet hätten, soll bei den Zuhörern den Anschein erweckt haben, dass die Gefahrenmeldung echt wäre. Wie die Verlegung der Handlungsorte sollten aber natürlich auch diese Tricks der Sendung vielmehr einen Touch an Realität und Dramatik verleihen und die Zuhörer in Erregung versetzen – jedoch wohl kaum eine Massenhysterie auslösen. Die Federal Communications Commission (FCC), die eine offizielle Untersuchung des Vorfalls durchführte, sah den Grund für die Angst letztlich vor allem in der für das Stück entwickelten Tontechnik. Sie sprach sich am Ende dafür aus, dass die Techniken zur Dramatisierung von Hörspielen nicht mehr eingesetzt werden sollte, um eine ähnliche Panik zu vermeiden.

 

Interview-Ausschnitt:

Peter Bogdanovich: „Ich hab mich oft gefragt, ob du vorher eine Ahnung hattest, daβ das Hörspiel The War of the Worlds (Der Krieg der Welten) eine derartige Reaktion hervorrufen würde.“

Orson Welles: „Die Art der Reaktion, ja – auf die hatten wir uns alle schon gefreut. Das Ausmaβ allerdings war verblüffend. Sechs Minuten nach Beginn der Sendung leuchteten bei den Sendern im ganzen Land die Lämpchen der Telephonanlagen auf – wie an Christbäumen. Die Häuser leerten sich, die Kirchen füllten sich; von Nashville bis Minneapolis hob eine Wehklage in den Straβen an, und die Menschen zerrissen ihre Kleider. Zwanzig Minuten nach Sendebeginn hatten wir lauter verstörte Polizisten im Regieraum. Sie wuβten nicht, wen sie – und warum – festnehmen sollten, aber sie gaben dem Rest der Sendung das gewisse Etwas. Uns dämmerte allmählich – während wir uns mit der Zerstörung von New Jersey mühsam weiter abplagten –, daβ wir die Zahl der Spinner in Amerika unterschätzt hatten.“

 

 

Kriegsangst
Krieg der Welten Illustration

Abb. 3) Der Krieg der Welten: Illustration von Alvim Corréa (1906).

H.G. Wells‘ Invasionsroman spiegelt die Ängste des englischen Bürgertums Ende des 19. Jahrhunderts wider. In seiner Erzählung übte er nicht nur Kritik am damals allesbeherrschenden Imperialismus, sondern auch an den Politikern und der „besseren“ Gesellschaft, die einen Weltkrieg grösstenteils befürworteten. Die Deutschen, die schon dazumal als potentielle Gegner der Engländer galten und die Krisenstimmung in Europa ganz besonders anheizten, fanden wiederum in Gestalt der „Marsianer“ Eingang in seine Erzählung.

In den 1930er Jahren war nicht mehr das „geschriebene Wort“, sondern vor allem das Radio das modernste Instrument zur Nachrichtenverbreitung. Im Herbst 1938 wurden die Radioberichte sowohl in Europa als auch den USA in erster Linie von einem Ereignis dominiert: dem Münchner Abkommen. Es manifestierte die Macht der Nationalsozialisten in Deutschland und gilt als Auftakt für den Zweiten Weltkrieg. Aus propagandistischer Sicht war die Entscheidung, in der Oktobersendung H.G. Wells‘ Roman als Hörspiel zu bringen, also bestimmt nicht willkürlich, sondern wohl überlegt gefällt worden. Wells verfasste seinen Roman schliesslich am Vorabend des 1. Weltkriegs, der von den Deutschen initiiert worden ist.

In seiner Einleitung zum Hörspiel sprach auch Orson Welles von der gerade herrschenden „Kriegsangst“. Und tatsächlich war sie, wie wir heute wissen, keineswegs unbegründet. Nicht einmal ein Jahr nach Ausstrahlung der Radiosendung brach der 2. Weltkrieg aus. Die Entscheidung, den Fantasyroman als Hörspiel zu bringen, darf aufgrund der damaligen politischen Lage als ein Geniestreich bezeichnet werden. H.G. Wells Erzählung traf schliesslich nicht nur erneut den „Nerv der Zeit“, sondern appellierte auch an die latente Angst vor den Deutschen.

1941 griffen die Japaner den amerikanischen Armeestützpunkt Pearl Harbour an. Als die Nachricht über den Äther ging, glaubten viele Amerikaner zuerst, es würde sich um eine Juxmeldung handeln. Warum? Auf diese Frage gab Orson Welles in einem Interview die folgende Antwort: „weil ausgerechnet ich an dem Morgen eine patriotische Live-Sendung für die Soldaten an der Front hatte und mittendrin unterbrochen wurde. Ich war im ganzen Land auf Sendung und las von Walt Whitman, wie schön Amerika sei, als plötzlich angesagt wurde, Pearl Harbour werde bombardiert – nun, klingt das etwa nicht so, als ob ich es noch einmal versuchen wollte?“

Heute wird die Massenpanik von 1938 von einigen Forschern und Forscherinnen als eine Erfindung der Presse und der Gerüchteküche abgetan. Die überwältigende Anzahl an Berichten lässt jedoch erahnen, dass nicht gerade wenige Leute wirklich an eine Marsinvasion geglaubt haben. Tatsächlich ist die berühmte Radiosendung ein gutes Beispiel dafür, wie selbst abstruse Meldungen Panik auslösen können, wenn das Angstpotenzial einer Gesellschaft bereits eine ungesunde Steigerung erfahren hat. Sie ist darüber hinaus aber auch ein besonders gutes Beispiel dafür, wie das biologische Angstsystem des Menschen funktioniert. Denn es verknüpft gleich einem Simulationsverfahren Informationen aller Art (Erlebtes wie auch Gehörtes oder Gelesenes), um für alle Fälle gewappnet zu sein. Dabei ist es ihm völlig egal, ob diese Informationen auf fiktiven Vorstellungen oder auf der realen Erfahrung basieren. Denn nur das Überleben zählt.

 

Literatur: Estrin, Mark W. (Hg.): Orson Welles. Interviews, University Press of Mississippi 2002; Heyer, Paul: The Medium and the Magician. Orson Welles, the Radio Years, 1934-1952, Lanham/Boulder/New York/Toronto/Oxford 2005; Rebhandl, Bert: Orson Welles. Genie im Labyrinth, Wien 2005; Rippy, Marguerite H.: Orson Welles and the Unfinished RKO Projects. A Postmodern Perspective, Southern Illinois University Press/Carbondale 2009; Schultze, Bruno: Herbert George Wells, The War of the Worlds (1898), in: Der Science-Fiction-Roman in der angloamerikanischen Literatur. Interpretationen, hg. v. Hartmut Heuermann, Düsseldorf 1986; Welles, Orson und Bogdanovich, Peter: Hier spricht Orson Welles. Aus dem Amerikanischen von Heide Sommer und Oivin Ziemer, Berlin 1994; Wood, Bret: Orson Welles. A Bio-Bibliography, New York/Westport, Connecticut/London 1990.

Zitate: Welles, Orson und Bogdanovich, Peter: Hier spricht Orson Welles. Aus dem Amerikanischen von Heide Sommer und Oivin Ziemer, Berlin 1994.

Bildernachweis: Titelbild, Abb. 1) Heyer, Paul: The Medium and the Magician. Orson Welles, the Radio Years, 1934-1952, Lanham/Boulder/New York/Toronto/Oxford 2005; Abb. 2) Welles, Orson und Bogdanovich, Peter: Hier spricht Orson Welles. Aus dem Amerikanischen von Heide Sommer und Oivin Ziemer, Berlin 1994; Abb. 3) Wikipedia.de.

 

By |2023-10-28T13:43:09+00:00Oktober 30th, 2018|AnGSt|0 Comments
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