1. Weltkrieg (4/5) – Waffenschreck und totale Vernichtung

Ausgerechnet diejenigen Nationen, die sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts als die zivilisiertesten bezeichneten, haben den Ersten Weltkrieg geführt. Sie alle stockten jahrzehntelang ihre Arsenale auf, um für diesen „Grossen Krieg“ gerüstet zu sein. Und sie alle hatten nur das eine Ziel: zur ultimativen Grossmacht Europas aufzusteigen und die Industrialisierung des eigenen Landes voranzutreiben. Doch aus dem „kurzen“ Entscheidungskrieg, den alle herbeigesehnt hatten, wurde letztlich der „totale“ Krieg, der ganze Generationen vernichtete. Während die Infanteristen an der Front wie „am Fliessband“ starben, beschäftigten sich die Führungseliten nur mit zweierlei Hauptfragen: Wer kann mehr „Menschenmaterial“ opfern? Wer hat die besseren Waffen, um die totale Vernichtung des Gegners zu bewerkstelligen?

 

Kapitel: Waffenentwicklung – Gaskrieg – Gnadenloser Einsatz von Mensch und Material – Das grosse Sterben – Anonymisierung der Opfer

 

Waffenentwicklung
Soldaten im Schuetzengraben

Abb. 1) Soldaten im Schützengraben.

Die Einheiten Infanterie, Artillerie und Kavallerie bestimmten den Ersten Weltkrieg. (Letztere spielte jedoch schon nach kurzer Zeit kaum noch eine Rolle.) Waffentechnisch wurde der Krieg von den traditionellen Infanteriewaffen dominiert. Zur Ausrüstung gehörten vor allem Nahkampfwaffen, darunter die Handfeuerwaffen (Gewehre, Pistolen, Karabiner, Maschinengewehre), Hieb- und Stichwaffen (Bajonett, Säbel, Lanze) sowie spezielle Kampfmittel (Handgranaten, Minen). Doch im Verlaufe des Krieges wurde aus dem Nah- ein Distanzkampf, der nicht nur das Töten, sondern auch den Getöteten anonymisierte.

Viele neue Waffentypen, die den „Grossen Krieg“ bestimmen und ungeheuren Schrecken unter den Soldaten verbreiten sollten, wurden bereits zur Zeit des Wettrüstens hergestellt. Dabei schenkten ihre Entwickler nicht nur vor, sondern auch während des Ersten Weltkriegs besonders der Verbesserung von Waffenwirkung und Treffgenauigkeit ihre Aufmerksamkeit. Jedes Artilleriegeschütz, jede Granate und jedes Maschinengewehr sollte sein Ziel treffen und so viel Schaden wie nur möglich anrichten. Der Übergang vom Bewegungs- zum Stellungskrieg erfolgte ironischerweise genau aus diesem Grund. Denn nur aufgrund der immensen Steigerung der Feuerkraft, fingen die Soldaten überhaupt erst an, sich zuerst provisorisch einzugraben und schliesslich dauerhafte Grabensysteme auszuheben.

Als der Stellungskrieg Ende 1914 seinen Anfang nahm, mussten die Kampfmittel der neuen Situation angepasst werden. Eine Novität stellte unter anderem der Flammenwerfer dar. Die deutschen Truppen setzten ihn erstmals am 26. Februar 1916 vor Verdun ein. Die französischen Soldaten gerieten sofort in Panik und gaben ihr Stellungssystem auf. Kurz darauf rüsteten nicht nur die Franzosen, sondern auch die Engländer nach und verbreiteten selbst Angst und Schrecken. Die französische Flammenwerfer-Truppe erhielt im Juli 1916 sogar eine besondere Belohnung für ihre erfolgreiche Angstverbreitung. Sie durfte von nun an einen Totenkopf als Abzeichen auf dem Ärmel tragen. (Siehe dazu auch den Beitrag über das Symbol „Totenschädel“!)

Besonders intensiv beschäftigten sich die Wissenschaftler auch mit der Entwicklung neuer Granatentypen, die letztlich Bajonett und Säbel verdrängten. Zwar zählten die Handgranaten während des Ersten Weltkriegs zu den wichtigsten Nahkampfmitteln der Infanterie. Mit ihrem Einsatz wurde jedoch erstmals auch die Distanz zwischen Angreifer und Angegriffenem grösser. Im Stellungskrieg erwiesen sich die neuen Sprengkörper als besonders geeignet und zeichneten sich durch eine grosse Formenvielfalt aus. Am beliebtesten waren die gestielten und kugelig-länglichen Modelle, die letztlich zu einem Massenverbrauchsgut avancierten. Im Winter 1916/17 wurde alleine in Deutschland rund neun Millionen Stück pro Monat hergestellt!

Grosse Angst verbreitet haben auch die neuen, massenhaft eingesetzten Maschinengewehre sowie ab 1916 die Tanks der Alliierten (Panzerschreck). Sie ersetzten grösstenteils die Kavallerie und wurden entsprechend als „stählerne Rösser“ bezeichnet. Nachdem den Gebrüdern Wright 1903 der erste Motorflug gelungen war, setzte auch die Flugzeugentwicklung sofort ein. Bis 1918 konnte alleine die Motorleistung auf 260 PS gesteigert werden. Im selben Jahr zeichnete sich auch schon der moderne Luftkrieg des 20. Jahrhunderts gegen die Zivilbevölkerung ab. Die Flugzeuge wurden nicht mehr nur für Aufklärungsflüge und als Luftunterstützung für die Infanterieeinheiten eingesetzt, sondern auch für Angriffe auf diverse Städte.

 

 

Flammenwerfer und Maschinengewaehr

Abb. 2-3) Links: Deutsche Soldaten bei einer Flammenwerfer-Übung. Rechts: Deutsches schweres Maschinengewehr (MG) in Feuerstellung. Das Bild wurde 1918 während der Flandern-Schlacht aufgenommen.

 

„Ja, den Krieg kann man sich nicht vorstellen, wenn man nicht selbst dabei war. Der Krieg ist etwas so Furchtbares und Schreckliches, daβ man es nicht begreift, wie ein Mensch die Anstrengungen, Entbehrungen und Ängste ertragen kann.“

Aus einem Brief von Vizefeldwebel Johannes Wierich an seine Eltern (6. Juni 1915)

 

 

Gaskrieg
Gaskrieg

Abb. 4) Das Bild zeigt einen Blasangriff an der Ostfront. Das Verfahren hiess so, weil Gas aus einer eingegrabenen Druckflasche abgeblasen wurde.

Viele neue Waffentypen haben Paniken unter den Soldaten und Armeeführern ausgelöst. Doch nichts hat die Phantasieangst mehr beflügelt, als der unberechenbare Gaseinsatz. Kein Wunder, wurde der Soldat in Gasmaske zum Symbol für den Ersten Weltkrieg. Der erstmalige Einsatz von Gaswaffen läutete eine neue Ära des Krieges ein. Nebenbei zerstörte er die traditionelle Vorstellung vom „ritterlichen“ Soldaten, der den „Heldentot“ stirbt.

Das neue Kapitel der Kriegsführung wurde von den Deutschen eingeleitet, deren Chemieindustrie dazumal eine Führungsposition einnahm. Am 22. April 1915 setzten sie erstmals bei Ypern eine ungeheure Menge an giftigen Chlorgasen ein. Der Einsatz von Chemikalien selbst war jedoch keine Neuheit. Französische Einheiten benutzten bereits seit 1914 sogenannte „cartouches suffocantes“ (Erstickungspatronen). Doch erst im April 1915 ergänzten auch sie diese mit Handgranaten, die mit Chloraceton gefüllt waren.

Der Beginn des Gaskriegs löste heftige Reaktionen auf Seiten der Alliierten aus. Sie bezeichneten den Gaseinsatz als „barbarisch“ und werteten ihn als ein Verstoss gegen die Haager Landkriegsordnung. Anstatt ihn jedoch zu unterbinden, reagierten sie mit einer eigenen Gaswaffenproduktion. Am 25. September 1915 führten die Briten eine erste Gasoffensive bei Loos durch. Die Panikreaktionen auf deutscher Seite waren ähnlich wie die der Franzosen bei Ypern.

Eine immer grössere Rolle spielte der Versuch, die jeweils neuesten Atemschutzgeräte wirkungslos zu machen und Chemikalien zu finden, die auch über die Haut aufgenommen werden. Deutsche Chemiker entwickelten mit Dichlordiäthylsulfid einen solchen Stoff. Er war unter der Bezeichnung „Lost“ bekannt, wurde wegen seines Geruchs aber auch „Senfgas“ genannt. Erstmals eingesetzt wurde die Chemikalie am 13. Juli 1917 (nahe Ypern) gegen die Briten. Erst Stunden später, als sich Blasen auf ihrer Haut bildeten, die Augen zu brennen anfingen und sich innere Verätzungen zeigten, wurde ihnen klar, dass sie einem Gasangriff ausgesetzt waren.

Insgesamt wurden im Ersten Weltkrieg ungefähr 112‘000 Tonnen Gas eingesetzt, die Hälfte davon durch Deutschland (52‘000 Tonnen). Von den 408 Operationen wiederum, die man zwischen 1915 und 1918 mit flüssigen Gasen (Chlor und Phosgen) durchführte, unternahmen alleine die Briten und Franzosen 352. Der Gaskrieg selbst blieb auf den Frontbereich beschränkt. Vor einem strategischen Einsatz gegen die feindliche Zivilbevölkerung schreckten alle kriegsführenden Mächte zurück. Der Versailler Vertrag verbot am Ende des Krieges den Deutschen den Besitz von chemischen Kampfstoffen. Alle anderen Grossmächte hingegen behielten sie in ihrem Arsenal.

Obwohl der Gaseinsatz jedes Mal grosse Paniken auslöste, forderte er nur einen Bruchteil an Menschenleben. Die Schätzungen liegen ungefähr zwischen 1-2%. Der Einsatz erwies sich einfach als zu problematisch, weil er von den meteorologischen Verhältnissen abhängig war (insb. Windströmung) und für die Angreifer selbst zur Gefahr werden konnte. Daher nutzte man die chemischen Waffen letztlich vor allem dazu, die Kampf- und Lebensbedingungen der Gegner zu erschweren und die feindlichen Truppen zu demoralisieren.

 

Gasmasken

Abb. 5) Die Gaswaffenentwicklung wurde vorangetrieben, die Entwicklung von besseren Schutzmasken hinkte hinterher. Seit 1915 nutzte man getränkte Putzwollbäusche, doch sie waren nicht lange brauchbar. Ihnen folgte eine Blechbehälter-Version. Im September desselben Jahres führten die Deutschen als erste eine gummierte Maske ein. Die Briten entwickelten eine mit Chemikalien imprägnierte Kopfhaube. Sie bot aber ebenfalls kaum Schutz. Die Franzosen fanden während der gesamten Kriegszeit keine überzeugende Lösung. Sie benutzen lange Zeit eine imprägnierte Haube, dann eine Maske – jedoch ohne Filter. Das Bild zeigt einen improvisierten Gasschutz britischer Soldaten (1915).

 

„Gestern arbeitete ich mit einem Infanteristen zusammen, der erzählte mir von den Sturmangriffen, die er bei Ypern mitmachen muβte. – Ich darf und will auch gar nichts davon wiedergeben, denn sonst stehen Euch die Haare zu Berge.“

Aus einem Brief von Gefreiter Robert Pöhland an seine Frau Anna (9. April 1916)

 

 

Gnadenloser Einsatz von Mensch und Material
Franzoesische Soldaten

Abb. 6) Französische Soldaten, Verdun 1916.

Der Erste Weltkrieg war der erste technisch-industrielle Massenkrieg der Moderne. Die extrem gesteigerte Waffenwirkung der Maschinengewehre und Artillerie veränderten schon in den ersten Wochen dramatisch das Kriegsgeschehen. Ihre Sprengkraft und Ladekapazität wurden im Verlaufe des Krieges immer wieder erhöht. Im Falle des Gaskriegs forschte man vor allem sehr intensiv nach neuen, noch wirksameren und beständigeren Kampfstoffen, die am Ende ebenfalls eine grosse Formenvielfalt aufwiesen. Der Einsatz von Gasgranaten durch speziell für sie konzipierte Wurfkonstruktionen wurde ebenfalls ständig gesteigert und die Schiessverfahren optimiert. Nur eines blieb beim Alten: die Kampfstrategie. Die Heeresführer hielten hartnäckig an den althergebrachten Kriegsplänen fest. Ebenso eigensinnig vertraten sie die traditionelle Überzeugung, dass nur eine Entscheidungsschlacht den Sieg herbeiführen könne, womit sie auf schon fast infantile Art und Weise die Realität des Kriegsgeschehens an den Fronten ausblendeten.

Der Erste Weltkrieg ging als eine reine Mensch- und Materialschlacht in die Geschichte ein. Der Begriff „Menschenmaterial“ selbst kam bereits Mitte des 19. Jahrhunderts auf, als die Idee vom „Weltbrand“ erstmals Konturen annahm. Doch erst während des Krieges, als eine Ökonomisierung von Kriegsopfern, Todesraten und Tötungseffizienz eintrat, wurde er zum festen Bestandteil der militärischen Verwaltungssprache. Die ungeheuerlichen Menschenverluste bereits in den ersten Kriegswochen führten bei den Führungseliten zu keinerlei Umdenken. Im Gegenteil, sie verfolgten stur die Umsetzung ihrer Wunschvorstellungen. Erst als kaum noch „Mensch und Material“ übrig waren, orientierte man sich neu. Bis dahin hiess es für die Soldaten: „Feuern! Feuern! Feuern! Bis zur Bewuβtlosigkeit“ – wie der 21jährige Artillerist Gerhard Gürtler in einem Brief den Kampf beschrieb.

Die Neuorientierung setzte seit Ende 1915 ein. Die Militärs verfolgten von nun an ein Konzept, das sich vom „kurzen Krieg“ und der gewünschten Entscheidungsschlacht verabschiedete. Der Krieg sollte jetzt nicht mehr durch eine einzige Schlacht und unter massivem Einsatz sämtlicher Mittel gewonnen werden. Vielmehr wollte man zukünftig den Gegner durch hohe Verluste an Menschen und Material zermürben und abnutzen. Mit dieser Kehrtwende stellten sich die Politiker und Heeresführer erstmals auf einen „langen Krieg“ ein. In der Kriegsgeschichte selbst war diese Strategie der „Abnutzung“ etwas ganz Neues.

 

Fort Douaumont vor und nach seiner Zerstoerung

Abb. 7) Totaler Krieg: Der Historiker Max Weber bezeichnete den Ersten Weltkrieg als „Maschinenkrieg“. Wie verheerend er war, zeigt sich auch am Beispiel von Verdun, der stärksten Verteidigungsanlage Frankreichs. Sie galt als nahezu uneinnehmbar und war von August 1914 bis Juni 1916 umkämpft. Das Bild zeigt eine ihrer wichtigsten Forts, Fort Douaumont, vor und nach seiner Zerstörung.

 

„Sie (die Soldaten) sind verrückt in ihrer Angst. Immer schlagen die Granaten ein. Splitter und Dreck fliegen durch die Luft. … Ich eile durch die Stellung, nach den Leuten zu sehen. Entsetzt erkenn ich, daβ ich vorhin über Leichen gelaufen bin, die im Wasser herumliegen.“

Aus einem Brief von Friedel Oehme, einem 19jährigen Zugführer aus Leipzig (21. August 1916)

 

 

Das grosse Sterben
Gefallene Soldaten

Abb. 8) Massenhafter Tod: Gefallene italienische Soldaten im Schützengraben.

Der Erste und Zweite Weltkrieg waren die verlustreichsten Kriege der Menschheitsgeschichte. In keinem anderen davor oder danach wurden auch nur annähernd so viele Menschen getötet. Dass während des „Grossen Krieges“ nicht noch mehr Menschen starben, ist der Angst zu verdanken. Noch schreckten die Grossmächte davor zurück, auch mit voller Gewalt gegen die Zivilbevölkerung vorzugehen.

Den Politikern und Militärs war klar, dass die Kriege der Moderne aufgrund der Waffenentwicklung weitaus katastrophaler ausfallen würden. Schon Johann von Bloch sagte in seinem Werk „Die Zukunft des Krieges“ (1899) voraus: egal, in welcher Kombination und Massierung eine Armee zukünftig auftreten werde, durch das koordinierte Zusammenwirken von Maschinengewehren und massiver Artillerie könnten die Heere kaum noch etwas ausrichten und müssten mit enormen Verlusten rechnen. Die Angst, Millionen Menschenleben zu riskieren, war bei den europäischen Politikern und Militärs zu Beginn des 20. Jahrhunderts jedoch nicht so ausgeprägt, wie die, Macht- und Prestigeverlust hinnehmen zu müssen.

Für die Frontsoldaten besass diese Einstellung der Heeresführer, die ihre Entscheidungen in sicheren Stuben fällten, einen noch sehr viel grösseren Schrecken als der Tod. In ihren Briefen erwähnten sie immer wieder frustriert, dass diejenigen, die den Krieg initiiert hatten und das grosse Sterben bewusst in Kauf nahmen, selbst ungeschoren davonkommen würden. Immer wieder von ihnen reflektiert wurde auch der „Wert eines Menschenlebens“, den die Kriegsführer aufgrund ihrer eigenen Gefahrenlosigkeit ausblendeten. Der Soldat und Psychologe E. Schiche beschrieb einen solchen innerlichen Dialog mit den Worten:

„Unter den psychologischen Beobachtungen, die viele von uns an ihren Kameraden im Felde täglich und stündlich machen konnten, gehörten diejenigen zu den wichtigsten, welche sich mit der „Stimmung“ der Truppe oder des Einzelnen unter den wechselnden Bedingungen des Feldlebens beschäftigten. … Wer länger innerhalb derselben Truppe verweilte, konnte wohl beobachten, wie sich ähnliche Bedingungen gegenüber auch ähnliche Stimmung einzustellen pflegte. Den Ausschlag dabei gab wohl meistens die Gröβe der wirklichen oder vermeintlichen Gefahr, in der sich der Einzelne und die Truppe unter den gerade vorliegenden Bedingungen befand; mit einer „Angst um das Leben“ hatte das nichts zu tun; es handelte sich vielmehr nur um die Tatsache, daβ „der Wert des Lebens“ dann am wenigsten fraglich ist, wenn das Leben am meisten in Frage steht.“

 

Die Forschung schätzt, dass ungefähr 70-80% aller kriegsführenden Soldaten während des Ersten Weltkriegs durch Artilleriegeschosse umgekommen sind. Wie viele aber tatsächlich durch die Monstergeschütze getötet wurden, ist nicht mehr nachvollziehbar. Alleine die deutsche Fünfte Armee des Kronprinzen Rupprecht von Bayern, die aus 172‘922 Soldaten bestand und Ende August 1914 bei Metz und Avricourt kämpfte, hatte nach nur zwei Tagen 24‘313 Tote und Vermisste zu beklagen. Auf Seiten der Alliierten sah es nicht anders aus. Manche französische Einheiten verloren bis zu 80% ihrer Soldaten an einem Tag. Die Historiker gehen davon aus, dass ungefähr jeder achte Soldat während des Ersten Weltkriegs ums Leben kam. Bei über 70% der Getöteten handelte es sich um junge Männer unter 24 Jahren. Einem besonders hohen Risiko ausgesetzt waren vor allem die jungen Offiziere der höheren sozialen Schichten, die meist gleich zu Kriegsbeginn eingezogen worden waren (Wehrdienst) und schliesslich als Zug- und Kompanieführer an die Front kamen.

 

Dicke Bertha

Abb. 9) Artilleriefeuer: Ein 42-cm-Mörser, der unter dem Namen „Dicke Bertha“ bekannt wurde.

 

Kaum ein Kriegshistoriker hat nicht versucht, die genaue Anzahl an Toten, Vermissten, Verletzten oder Kriegsgefangenen statistisch zu erfassen. Vergeblich. Die Schätzungen in der Fachliteratur bewegen sich alleine für die Gefallenen zwischen ungefähr 6-20 Millionen. Kein Wunder, war selbst die zeitgenössische Bürokratie mit den Verlustzahlen überfordert. (Hatte man anfänglich die Verlustlisten noch publiziert, stellte man diese Bemühung schon ziemlich schnell ein.) Im Allgemeinen unterschieden die öffentlichen Stellen zwischen „Toten“ und „Vermissten“, doch bereits dazumal war klar, dass es sich bei den vermissten Soldaten mit sehr grosser Wahrscheinlichkeit ebenfalls um Gefallene gehandelt hat. Das Artilleriefeuer hatte von ihren Körpern einfach nichts mehr übriggelassen, das eine Identifikation ermöglicht hätte. In der Forschung unbestritten ist, dass von allen kriegführenden Gesellschaften Deutschland die höchsten Menschenverluste hinnehmen musste. Am stärksten traf es natürlich die Infanterie, die rund 95% der Getöteten stellte.

Gerechnet und Listen verfasst haben also bereits die Zeitgenossen. Tatsächlich brachte der Erste Weltkrieg einen ganz neuen Kult des Zählens, der Messbarkeit und Quantifizierbarkeit hervor. In den Generalstäben und Ministerien mutierten die Soldaten zu blossen Preisschildern. Die Realität von Kriegsgeschehen und Kriegserfahrungen wurden von ihnen gekonnt ignoriert. Kalkuliert wurde nur noch die Summe, die den Staat jedes Soldatenleben kosten würde, und wieviel man zahlen müsse, um den Gegner doch noch zu besiegen. Tragisch war für sie nur, dass die Behörden selbst bereits im ersten Kriegsjahr die Übersicht über die Anzahl an Getöteten, Vermissten und Verwundeten zu verlieren drohten. Nichtsdestotrotz wurde weiter gezählt, gerechnet, aufgelistet und diejenigen Einheiten, die besonders hohe Verlustzahlen meldeten, abgemahnt und als Drückeberger und nationale Schande beschimpft.

 

Isonzo-Schlachten: Die Gefechte am Isonzo wurden zum Sinnbild für den Stellungskrieg, der sich durch enorme Menschenverluste und geringe Geländegewinne auszeichnete. Sie sowie die unterschiedliche Wahrnehmung von Heeresführern und Frontsoldaten stehen auch im Mittelpunkt einer Parabel von Günter Kunert, die unter dem Titel „Das Bild der Schlacht am Isonzo“ (1968-72) veröffentlich wurde:

„Auch der Maler war in der Schlacht gewesen; bald danach fertigte er ein Gemälde an, auf dem er darstellte, was er gesehen hatte: Im Vordergrund lagen Sterbende, denen die Gedärme aus den aufgerissenen Leibern quollen, und Leichen, über die Pferde und Tanks weggegangen, dass bloβ blutiger Brei geblieben, geschmückt mit Knochensplittern. Dahinter stürmten die Soldaten der gegnerischen Heere aufeinander zu, in besudelten Uniformen, angstverzerrt die Gesichter. Im Hintergrund, unterhalb des Befehlsstandes, waren Offiziere dabei, Weiber zu schwängern, Kognak zu saufen und die Ausrüstung ganzer Kompanien für gutes Geld zu verhökern. Dies war das Bild, und es hing im Atelier des Malers, als ein Besucher erschien, der sich porträtieren lassen wollte und durch Wesen und Benehmen sich als alter General zu erkennen gab: Er erschrak vor dem Bild. So sei die Schlacht nie gewesen, rief er, das Bild lüge. Sein blinzelnder Blick fuhr kreuz und quer das Werk ab und entdeckte dabei hinter dem zerschmetterten Schädel eines Toten eine kleine Gestalt, die trommelnd und singend und mit kühn verschobenem Helm aufs Schlachtfeld lief. Dieses Detail kaufte der General, lieβ es aus dem Gemälde schneiden und einrahmen: Damit künftige Generationen sich ein Bild machen können von der groβen Schlacht am Isonzo.“

Der Infanterist Hans Pözer kämpfte 1916 tatsächlich in einer der zwölf Isonzo-Schlachten. Er beschrieb seine Erfahrung später mit den Worten: „Ich war in diesem Augenblick kein Mensch, sondern nur ein Lebewesen, dessen Nerven nicht hinreichten, die Fürchterlichkeit des Augenblicks zu fassen und die doch zu stark waren, um zusammenzubrechen.“

 

 

Anonymisierung der Opfer
Deutsche Postkarte

Abb. 10) Deutsche Postkarte.

Die massiv gesteigerte Wirkung der Fernwaffen war verantwortlich für die verheerende Zahl an Toten, Vermissten sowie physisch und psychisch Beschädigten. Die Artillerie entwickelte sich aber nicht nur erstmals zur zentralen Waffengattung, sie läutete auch das Zeitalter der Distanzkriege ein. Der Gegner wurde unsichtbar, das Töten entpersonalisiert, der Getötete anonymisiert. Harry Graf Kessler beschrieb seine Eindrücke vom Einsatz der neuen Kruppmörser in Belgien am 22. August 1914 mit den Worten: „Eine Order konnte hundert Leichen erbringen, zwischen den Schüssen wurde geplaudert und gefrühstückt, man empfand es nur, wenn man sich zwang daran zu denken, dass der kühle Rechner mit seinen Orders tötete.“

Die Anonymisierung des Tötens läutete auch eine neue Ära des Gedenkkults ein, der schon während des Krieges aber vor allem seit 1919 einsetzte. Denn entpersonalisiert wurden auch die massenhaft Getöteten. Vor dem Ersten Weltkrieg hatte man individuelle Helden oder Generäle mit Denkmälern oder Gedenktafeln geehrt. Von nun an schmückte der unbekannte, namenlose Soldat die Erinnerungsstätten. Er stand für alle, deren Leichen nicht mehr ihren Weg nach Hause gefunden hatten.

 

Sehr viele Gefallene wurden von ihren Kameraden auf den Schlachtfeldern bestattet. In der Heimat entstand die Vorstellung von heiligen Orten, wo die toten Körper der Gefallenen das Schlachtfeld gleichsam in geweihte Erde verwandelten. Ganz anders war die Wahrnehmung der Soldaten an der Front. Der 21jährige Artillerist Gerhard Gürtler kämpfte im August 1917 in der Flandern-Schlacht. Vier Tage bevor er getötet wurde, schrieb er in einem Brief:

„Das Schlachtfeld ist eigentlich nichts anderes als ein ungeheuerlich groβer Friedhof. Auβer Granattrichtern, zerfetzten Baumgruppen, zerschossene Gehöften sieht man nur unzählige kleine weiβe Kreuze über das Land hin, vor uns, hinter uns, rechts und links: ‚Hier ruht ein tapferer Engländer‘ oder ‚Kanonier… 6.52‘. So liegt einer neben dem anderen, Freund neben Freund, Feind neben Feind. Und in der Zeitung kann man lesen: ‚Friedlich ruhen sie an der Stätte, wo sie geblutet und gelitten haben, an der Stätte ihres Wirkens, unter den Augen ihrer lieben Kameraden, mit denen sie ins Feld gezogen, und der Donner der Kanonen grollt über ihre Gräber hin. Rache für ihren Heldentod, Tag um Tag, Nacht um Nacht …‘ – Aber keiner denkt daran, dass auch der Feind noch schieβt und dann die Granaten einschlagen ins Heldengrab, die Knochen mit dem Dreck in alle Winde verspritzen und sich der schlammige Grund nach Wochen über der Stätte schlieβt, die eines Gefallenen letzte Ruhestätte war, und nur noch ein schiefes weiβes Kreuz die Stelle bezeichnet, wo er gelegen…“

 

Der Kult um die Toten ging weit über die Hauptstädte hinaus. Unmittelbar nach Kriegsende wurden etliche Soldatenfriedhöfe angelegt, und auch die Schlachtfelder wandelten sich zu nationalen Erinnerungsorten. Für die unzähligen Familienangehörigen, Witwen und Waisenkinder waren sie die einzigen Orte, an denen sie um die Getöteten trauern und ihnen gedenken konnten. Fortan wurde den Kriegstoten durch ihre ehemaligen Kameraden, die Familie, das Dorf oder die Stadt, aber auch durch den Staat mittels Nationalfeiern gedacht. Unzählige Ansprachen, Inschriften und Mahnmale der Erinnerung in Form von Votivtafeln, Kirchenfenstern, Grabsteinen oder Beinhäusern blieben bis heute erhalten. Die persönliche Trauer und Verzweiflung erleichtern konnten sie für sehr viele jedoch nicht.

 

„Wenn man bedenkt, was alles für Maschinen, Geschütze u.s.w. täglich und stündlich in Aktion treten um sich gegenseitig zu vernichten und sieht dann die schrecklich Verstümmelten – es krampft einem das Herz zusammen. … Eiserne Gesundheit und stählerne Nerven oder besser gar keine, gehören dazu um dieses alles ruhig zu ertragen, denn für manchen ist es doch eine reine Seelenqual.“

Aus einem Brief von Wehrmann Heuser an seine Frau Noack (7. November 1915)

 

Die neuen Fernwaffen brachten den Distanzkrieg hervor, der nicht nur die lebenden, sondern auch getöteten Soldaten aus dem Visier verschwinden liess und ihrer Persönlichkeit beraubte. Das Töten aus der Ferne brachte aber auch ganz neue psychische Belastungssituationen mit sich, denn der Feind war von nun an nicht nur unsichtbar, sondern auch allgegenwärtig. Im Verlaufe des Ersten Weltkriegs empfanden sich die Soldaten, die den Toten gleich in ihren Gräbe(r)n den Artilleriebeschuss abzuwarten gezwungen waren, immer häufiger als „Opfer des Krieges“.

Ein unbekannter Briefschreiber formulierte seine Gefühle gegen Ende des Krieges mit den Worten: „Wären wir 1916 heimgekommen, wir hätten aus dem Schmerz und der Stärke unserer Erlebnisse einen Sturm entfesselt. Wenn wir jetzt zurückehren, sind wir müde, zerfallen, ausgebrannt, wurzellos und ohne Hoffnungen.“ Die Forschung schätzt die Kriegstoten auf 6-20 Millionen. Wie viele psychisch beschädigt aus dem Krieg zurückkamen und wie viele der Zuhausegebliebenen durch die Kriegssituation in der Heimat oder den Verlust ihrer Söhne, Väter oder Brüder traumatisiert wurden, kann ebenfalls nur geschätzt werden. Ihre Anzahl dürfte ebenso hoch gewesen sein. Im Gegensatz zu den Toten fanden sie jedoch alle weder Anerkennung noch Empathie durch Staat und Gesellschaft. Mehr dazu im 5. Teil: „Angstneurosen und Invalidität“.

 

Literatur: Becker, Jean-Jacques und Krumeich, Gerd: Der Groβe Krieg. Deutschland und Frankreich im Ersten Weltkrieg, Essen 2010; Berghahn, Volker: Der Erste Weltkrieg, 2. Auflage, München 2004; Ebert, Jens (Hg.): Vom Augusterlebnis zur Novemberrevolution. Briefe aus dem Weltkrieg 1914-1918, Göttingern 2014; Geinitz, Christian: Kriegsfurcht und Kampfbereitschaft. Das Augusterlebnis in Freiburg. Eine Studie zum Kriegsbeginn 1914, in: Schriften der Bibliothek für Zeitgeschichte – Neue Folge, hg. v. Gerhard Hirschfeld, Bd. 7, Essen 1998; Henke-Bockschatz, Gerhard: Der Erste Weltkrieg. Eine kurze Geschichte. Stuttgart 2014; Hirschfeld, Gerhard u.a. (Hg.): Enzyklopädie Erster Weltkrieg, Paderborn 2003; Hobsbawm, Eric J.: Zeitalter der Extreme. Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts, 10. Auflage, München 2010; Keegan, John: The First World War, London 1998; Ders. und Holmes, Richard: A History of Men in Battle, London 1985; Leonhard, Jörn: Die Büchse der Pandora. Geschichte des Ersten Weltkriegs, München 2014; Münkler, Herfried: Der Groβe Krieg. Die Welt 1914 bis 1918, 7. Auflage, Berlin 2013; Rauchensteiner, Manfried: Der Erste Weltkrieg und das Ende der Habsburgermonarchie 1914-1918, Wien/Köln/Weimar 2013; Röhl, John C.G.: Vorsätzlicher Krieg? Die Ziele der deutschen Politik im Juli 1914, in: Der Erste Weltkrieg. Wirkung, Wahrnehmung, Analyse, hg. v. Michalka, Wolfgang, im Auftrag des Militärsgeschichtlichen Forschungsamtes, München/Zürich 1994, S. 193-215; Schiche, E.: Über Todesahnungen im Felde und ihre Wirkung, in: Beiträge zur Psychologie des Krieges. Beihefte zur Zeitschrift für angewandte Psychologie, Heft Nr. 21, hg. v. William Stern und Otto Lipmann, Leipzig 1920, S. 173-178; Schulin, Ernst: Die Urkatastrophe des zwanzigsten Jahrhunderts, in: Der Erste Weltkrieg. Wirkung, Wahrnehmung, Analyse, hg. v. Michalka, Wolfgang, im Auftrag des Militärsgeschichtlichen Forschungsamtes, München/Zürich 1994, S. 3-27; Sheehan, James J.: Kontinent der Gewalt. Europas langer Weg zum Frieden, München 2008.

Zitate (siehe vollständige Angaben Literaturverzeichnis): Ebert, 2014; Leonhard, 2014; Münkler, 2013; Schiche, 1920.

Bildernachweise (siehe vollständige Angaben Literaturverzeichnis): Titelbild, Abb.) 2-3, 7, 9-10) Hirschfelder, 2003; Abb. 1, 6) Keegan, 1998; Abb. 4) Münkler, 2013; Abb. 5, 8) Leonhard, 2014.

 

By |2021-06-06T16:43:12+00:00August 3rd, 2018|AnGSt|0 Comments
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