Im Sommer werden die Tage länger und wärmer, die Kleidung hingegen kürzer und lichter. Was während der kalten Jahreszeit mit dicken Pullovern oder Hosen zu kaschieren versucht wird, bleibt jetzt dank Shorts und Badeanzug nicht mehr verborgen. Die Sommerzeit ist daher nicht nur Badezeit. Sie ist auch die Zeit, während der das „Body shaming“ und damit die Angstbewältigung auf Kosten anderer Hochsaison hat. Doch das Bemühen, seine Ängste auf andere abzuwälzen, ist vergeblich. Vielmehr werden aus einem Geängstigten plötzlich zwei.
Kapitel: Definition Body-shaming – Der geängstigte Angreifer – Wahl eines Ersatzobjekts – Elend der Ersatzopfer und Täter – Der Zwang, Gewalt und Diskriminierung auszuüben
Definition „Body shaming“
Dem Nicht-Englischsprachigen suggeriert der Begriff „Body shaming“ beim erstmaligen Lesen, dass sich manche Menschen wegen ihres Körpers schämen und darunter leiden. Zu dominant ist das Schönheitsideal von heute, das dank der Medien Verbreitung findet und Ängste und Schamgefühle schürt. Wer jedoch in den Oxford Dictionaries nachschlägt, der stösst auf die folgende Definition:
„The action or practice of humiliating someone by making mocking or critical comments about their body shape or size.“ (Die Handlung oder Praxis, jemanden zu demütigen, indem man spöttische oder kritische Bemerkungen über seine Körperform oder -grösse macht)
Der Begriff „Body shaming“ beschreibt also vielmehr das Verhalten gewisser Leute, die andere wegen ihrer Gewichtsklasse diskriminieren. Damit legt die Definition des Begriffs gleich auf Anhieb und ohne Umschweife offen, wer tatsächlich am stärksten von seiner Angst beherrscht wird: Nämlich diejenigen Leute, die alleine beim Anblick eines übergewichtigen oder mageren Menschen derart stark gereizt werden, dass sie auf Konfrontationskurs gehen.
Obwohl es sich beim Begriff „Body shaming“ um eine moderne Wortkonstruktion handelt, ist das Phänomen, das es umschreibt, keineswegs neu. Schliesslich gehen seit jeher mit der Gemeinschaftsbildung Anpassungszwänge und Isolierungsängste einher, und schon immer spielten dabei Äusserlichkeiten eine besonders dominante Rolle. Mit den Auswirkungen, die diese Zwänge auf jeden einzelnen Menschen haben, hat sich auch der Soziologe Norbert Elias (1897-1990) besonders intensiv beschäftigt. Er beschrieb die Angst, die er mit der „Scham“ gleichsetzte, folgendermassen:
„Das Schamgefühl ist eine spezifische Erregung, eine Art von Angst, die sich automatisch und gewohnheitsmäβig bei bestimmten Anlässen in dem Einzelnen reproduziert. Es ist, oberflächlich betrachtet, eine Angst vor der sozialen Degradierung, oder, allgemeiner gesagt, vor den Überlegenheitsgesten Anderer; … es ist eine Form der Unlust oder Angst, die sich dann herstellt und sich dadurch auszeichnet, daβ der Mensch, der die Unterlegenheit fürchten muβ, diese Gefahr weder unmittelbar durch einen körperlichen Angriff, noch durch irgendeine andere Art des Angriffs abwehren kann. Diese Wehrlosigkeit vor der Überlegenheit Anderer, dieses völlige Ausgeliefertsein an sie stammt nicht unmittelbar aus der Bedrohung durch die physische Überlegenheit Anderer, … obwohl sie ganz gewiβ auf physische Zwänge … zurückgeht.“
Der geängstigte Angreifer
Wer die Konfrontation sucht, will aus biologischer Sicht seine überschüssige Angstenergie wieder loswerden, sich selbst „entladen“. Der Mensch in Angst ist schliesslich ein energetisch aufgeladener Mensch, der seinen Energiehaushalt nur durch Flucht oder Angriff wieder ins Gleichgewicht bringen kann. Die während eines Angsterlebens gebündelte Energie muss also (besser früher als später) wieder freigesetzt werden. Ansonsten droht ein anhaltender Zustand der „Reizbarkeit“, „latenten Wut“ oder des „Genervt-Seins“.
Die Aggression, die den Angriffsmodus startet, ist darauf ausgerichtet, den Angstauslöser selbst in Angst zu versetzen. Im Fall des „Body shaming“ sind es letztlich aber nicht Übergewichtige oder Magere, deren Anblick jemanden in Angriffsstimmung versetzen. Sie erinnern den Aggressor vielmehr an den wahren Auslöser seiner Angst und somit seinen eigenen Zustand der Machtlosigkeit.
Wer „Body shaming“ praktiziert, versucht seine eigene Angst vor Unterlegenheit und Isolierung zu bewältigen, indem er anderen dieselben Angst- und Schamgefühle aufzwingt, die jemand anderes bei ihm ausgelöst hat. Die auf fiktiven und unerreichbaren Vorstellungen basierenden Schönheitsideale spielen ihm dabei oftmals in die Hände. Sie sind schliesslich ein willkommenes Ausschlusskriterium, um die eigene Angst vor gesellschaftlicher Degradierung zu besänftigen sowie Überlegenheit und Zugehörigkeit zu demonstrieren. Denn nur wer andere Personen „ausschliessen“ kann, gehört der Anschauung nach auch irgendwo „dazu“.
Zwar besitzen Flucht und Angriff aus Sicht der biologischen Angst eine angstauflösende Wirkung, da nur durch sie die Antriebsenergie abgebaut werden kann, die während eines Angsterlebens durch den Körper gebündelt wird. Wer seine Aggressionen jedoch gegen ein Ersatzobjekt richtet, kann weder seine Ängste bewältigen noch seine Überschussenergie loswerden. Vielmehr setzt er eine Spirale der Angst und Gewalt in Gang. Denn wer dem „Body shaming“ ausgesetzt wird, bei dem werden schliesslich automatisch Angstreaktionen provoziert und Ängste ausgelöst. Aus einem Geängstigten werden also plötzlich zwei. Solche Angstspiralen hinterlassen überall auf dem Globus ihre zerstörerischen Spuren – und somit auch in den Gesundheits-, Kriminal- und Sterblichkeitsstatistiken.
Die Wahl eines Ersatzobjekts
Wird unser Angstsystem aktiviert, werden wir aufmerksam. Automatisch suchen wir nach dem Auslöser für unsere Furcht. Ist er ausgemacht, gilt es, entweder vor ihm zu flüchten oder ihn zu konfrontieren. So lautet ein Naturgesetz der Angst. Was aber, wenn beide Verhaltensreaktionen gesellschaftlich oder sogar rechtlich verboten sind? Oder wenn es sich beim vermeintlichen Angstauslöser um jemand handelt, der Macht über einen besitzt?
Viele suchen sich in diesen Situationen einen Sündenbock, ein Ersatzobjekt, dem sie die Rolle des Angsterzeugers aufzwingen können. Dabei entscheidet in erster Linie die hierarchisierte Hackordnung, wen man „ins Visier“ nimmt. Da sowohl übergewichtige wie auch sehr dünne Menschen in den Medien und von der Gesellschaft zur Zielscheibe gemacht werden, sind sie auch ein sehr beliebtes Opfer von Leuten, die ihre eigenen Ängste abzuwälzen versuchen.
Wer Überschussenergie loswerden will und sich auf die Suche nach einem Ersatzopfer macht, findet sich jedoch am Ende immer auf einem Irrweg wieder. Der Verhaltensforscher Paul Leyhausen (1916-1998) hat diesen Fakt mit den folgenden Worten beschrieben: „Der Betroffene steht … dauernd unter dem Druck stärkster Angstappetenzen, sucht und findet ein »Ersatzobjekt«, und da dieses ja gar nicht der wirkliche Anlaβ seiner Angst ist, kann in diesem Fall auch keine Reizgewöhnung oder reizspezifische Empfindlichkeitsminderung einsetzen.“
Die Vertreter/innen der Neurowissenschaften wiederum würden diesen Aspekt der Angst folgendermassen umschreiben: Die Amygdala, unser Angstmechanismus im Gehirn, „weiss“ ganz genau, wer oder was starke Reize auf sie abgegeben hat, wer oder was der Angstauslöser war, der sie aktiviert und das Angsterleben initiiert hat. Sie registriert diesen primären Auslöser jedoch nicht nur, sie speichert das Wissen über ihn auch im emotionalen Gedächtnis ab, das sie verwaltet. Wer sich aufgrund der hierarchischen Hackordnung nicht gegen den wahren Auslöser zur Wehr setzen kann, hat nun plötzlich ein grosses Problem, das er nur durch die Verdrängung lösen kann. Hinzu kommt, dass das „Wissen“ um den Auslöser nicht nur abgespeichert wird, sondern zukünftig vor allem unbewusst wirkt, um das Angstsystem nicht zu überlasten.
Die Grosshirnrinde, mit der die Amygdala wechselseitig verbunden ist, bringt nicht nur unser Bewusstsein hervor. Sie bewerkstelligt auch die Verdrängung. Dazu kreiert sie neue Angstauslöser und neue Ängste, die den Primären in den Hintergrund stellen und ins Unterbewusstsein abschieben. Zwar besitzt sie die Fähigkeit, die Aktionen der Amygdala zu hemmen, indem sie ihr die Gefährlichkeit oder Nützlichkeit eines Angstauslösers „vorgaukelt“ oder neue „erfindet“. Doch letztlich hat sie keine Chance, sich gegen unseren evolutionsgeschichtlich weit älteren Angstmechanismus durchzusetzen und seine biologischen Prozesse langfristig zu durchbrechen. Ist der wahre Auslöser beispielsweise ein gewalttätiger Vater, kann man seine Wut zwar an einem Arbeitskollegen auslassen und ihn „das Fürchten lehren“, doch alleine der Anblick des Vaters oder der Gedanke an ihn genügt, um immer wieder ein Angsterleben auszulösen.
Das Elend der Ersatzopfer – und Täter
Wer andere wegen ihres Körpers diskriminiert, will sie nicht dazu zwingen, sich dem Schönheitsideal anzupassen. Was ihn beim Anblick eines übergewichtigen oder mageren Menschen tatsächlich „reizt“, ist die sich ihm bietende Gelegenheit, seine Angst auf jemanden abzuwälzen, ohne Konsequenzen befürchten zu müssen. Da das Ersatzobjekt jedoch nicht der Ursprung seiner eigenen Angst ist, trägt die Wahl eines solchen nie zu einer Verminderung seines Angstpotenzials bei. Wie viele Mitmenschen er auch in Angst versetzt bzw. wie oft er bei anderen die Schamgefühle weckt, die „Entladung“ bleibt aus.
Von „Body shaming“ Betroffene wiederum können keine angstauflösende Situation herbeiführen, da sie nicht die primären Angstauslöser ihrer Angreifer sind. Nichtsdestotrotz reagieren sie – falls sie nicht über ein gesundes und stabiles Selbstbild verfügen – immer mit Ängsten, die sich direkt auf ihre körperliche Erscheinung beziehen. Wer nun die Akzeptanz bei seinem Peiniger durchsetzen will, indem er sich beispielsweise auf „Zero-Size“ hinunter hungert, der wird stets eine Enttäuschung erleben. Denn einmal „ins Visier“ genommen und als „unterlegen“ eingestuft, bleibt er zumeist auch weiterhin ein Angriffsobjekt.
Das Angriffsverhalten einer Person, die „Body shaming“ betreibt, hat immer nur einen Zweck: es soll Überlegenheit und Zugehörigkeit demonstrieren. Tatsächlich aber legt sie vielmehr ihre Unterlegenheit offen zur Schau und zerstört die Gemeinschaft. Das Elend mit den Ersatzobjekten und Angstspiralen ist schliesslich, dass sie das Angstmass einer ganzen Gesellschaft proportional erhöhen. Das Energiepotenzial desjenigen, der „Body shaming“ betreibt, bleibt ja nicht nur erhalten, es löst auch Angstreaktionen und Ängste bei anderen aus. Darüber hinaus kann die Gewaltausübung, wie viele Studien zum Thema belegen, dazu führen, dass sein Angstpotenzial sogar noch ansteigt. Denn wenn sich bei ihm Scham- und Schuldgefühle gegenüber seinen Ersatzopfern einstellen, provozieren diese ebenfalls erneut ein Angsterleben.
Der Zwang, Gewalt und Diskriminierung auszuüben
Nur Gemeinschaften, die ein ganz besonders hohes Angstpotenzial aufweisen, „erfinden“ immer wieder neue Ausschlusskriterien, um andere gesellschaftlich zu isolieren und ihren sozialen Tod zu erzwingen. Die Unterscheidungsmerkmale selbst sind in den vielen falschen und künstlichen Menschbildern verankert, die wie kaum etwas anderes den „Kampf jeder gegen jeden“ und in Form von Selbstbildern vor allem den „Kampf gegen sich selbst“ fördern. Verbreitung finden sie durch unsere Lebenssysteme und insbesondere durch die vielen verschiedenen Unternehmen, Industrien und ihre Werbung, die letztlich den Zündstoff liefern, um andere zu demütigen, kritisieren, mobben und damit auszuschliessen. Schliesslich verdienen sie ihr Geld damit, die grösste Angst des modernen Menschen zu fördern, die Angst vor sozialer Isolierung.
Dominiert werden die falschen und künstlichen Mensch- und Selbstbilder heutzutage ausschliesslich durch das Profitstreben, das sämtliche wirtschaftlichen, politischen und selbst sozialen und kulturellen Systeme betreiben. Sie halten den zum Konsument degradierten und selbst zur Ressource avancierten Menschen in einem anhaltenden Angstzustand, der ihn keinen Moment mehr zur Ruhe kommen lässt und seine Lebenserwartung drastisch verkürzt.
Darüber hinaus manipulieren sie auch sein Angst- und sein Selbstverständnis, indem sie vor allem über die Medien ein idealisiertes Menschenbild propagieren, das jedem Mann, jeder Frau, jedem Kind und Jugendlichen seine Unvollkommenheit, Bedeutungslosigkeit und Sterblichkeit in Erinnerung ruft. Nie ist der Mensch jung, hübsch, durchtrainiert, gebildet, beliebt, versichert, reich oder gesund genug, um den Qualitätscheck zu bestehen. Und aus Sicht seiner Mitmenschen darf ein jeder auch niemals den Qualitätscheck bestehen, da ansonsten das eigene Selbstverständnis darunter leidet und in Frage gestellt wird.
Angsterkrankungen, die in den Industrieländern heutzutage das grösste Gesundheits- und Sterberisiko darstellen, werden nicht durch unser biologisches Angstsystem ausgelöst, sondern durch Menschen, die ihre Mitmenschen zu ihren Ersatzobjekten machen, Ängste bei ihnen erzeugen und damit körperliche Angstreaktionen provozieren. Die Angstvorstellungen, die sie in die Köpfe anderer pflanzen, bauen bei jedem einzelnen immer auf dem eigenen Selbstbild auf, das von Geburt an und seit den Anfängen der Gemeinschaftsbildung fremdbestimmt wird. Für den Selbstentfremdenden von heute stellt die wahre Selbsterkenntnis daher auch eine Bedrohung dar, die mit allen Mitteln vermieden werden muss. Wird jemandem durch die psychische und physische Gewaltanwendung bewusst gemacht, dass er nicht alle Kriterien des „perfekten Menschenbilds“ erfüllt, schlägt schliesslich nicht nur der Angstmechanismus Alarm, auch die Angst vor gesellschaftlicher Rückweisung kommt auf. Der unermüdliche Kampf des Kulturmenschen, sein ihm aufgebürdetes Fremdbild aufrechtzuerhalten, Scham- und Schuldgefühle zu ertragen, sich den Erwartungen anderer anzupassen, Unangepasste zur Anpassung zu zwingen und damit Gewalt auszuüben, nur um der gesellschaftlichen Degradierung und einem Ausschluss zu entgehen, halten ihn in einem Zustand der Dauererregung. Er schädigt den Organismus, macht den Menschen krank, verkürzt seine Lebenszeit und treibt ihn manchmal sogar in den Selbstmord.
Zitate: Oxforddictionaries.com; Elias, Norbert: Über den Prozeβ der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen, Bd. 2, Amsterdam 1997; Leyhausen, Paul: Zur Naturgeschichte der Angst, in: Die politische und gesellschaftliche Rolle der Angst, hg. v. Heinz Wiesbrock, Frankfurt a.M. 1967.
Literatur: Elias, Norbert: Über den Prozeβ der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen, Bd. 2, Amsterdam 1997; Ferst, Marko (Hg.): Erich Fromm als Vordenker. “Haben oder Sein“ im Zeitalter der ökologischen Krise, Berlin 2002; Fromm, Erich: Die Furcht vor der Freiheit, München 1941; Ders.: Die Kunst des Liebens, Stuttgart 1956; Ders.: Haben oder Sein, München 1976; Gurjewitsch, Aaron J.: Das Individuum im europäischen Mittelalter, München 1994; Leyhausen, Paul: Zur Naturgeschichte der Angst, in: Die politische und gesellschaftliche Rolle der Angst, hg. v. Heinz Wiesbrock, Frankfurt a.M. 1967.
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