Symbole der Angst (2) – Das Auge

Die Angst und das Auge schreiben seit Jahrtausenden Geschichte. Gemeinsam erschufen und verbreiteten sie die Furcht vor Göttern und Herrschern. Gemeinsam konstruierten sie aber auch unzählige Ängste, um Untertanen oder Gläubige kontrollieren und manipulieren zu können. Denn seit jeher führt das Augensymbol den Menschen „vor Augen“, wer die Macht über Leben und Tod besitzt. 

 

Kapitel: Die abstrakte Macht – Augengott von Elam – Himmelsaugen – Altes Ägypten: Horusauge – Griechische Augengöttinnen und Augengötter – Christentum: Auge der Vorsehung – Aufklärung: Auge als Lichtbringer – Moderne: Das Auge als Symbol der Weltmacht

 

Die abstrakte Macht

Seit Anbeginn der Menschheitsgeschichte wird die Angst als pädagogisches Mittel eingesetzt, um andere Menschen zu beherrschen und Macht auf sie auszuüben. Jede Herrschaftsmacht – sei sie nun göttlicher oder weltlicher Natur – zeichnet sich daher durch die Angstausübung aus. Die „Macht“ ist jedoch ein ideelles Abstraktum. Um sie anderen zu vergegenwärtigen und in der erfahrbaren Welt sichtbar zu machen, benötigt es ein Bild und eine Botschaft. Das älteste Herrschaftszeichen ist das Auge, das älteste Gebot: Habe Angst vor Strafe!

Die Hauptfunktion religiöser und weltlicher Gesetze ist es, die Angst vor Fehlverhalten und Andersdenken zu schüren, um Scham- und Schuldgefühle zu erzeugen. Die Grundvoraussetzung, um Gebote formulieren zu können, ist wiederum ein dualistisches Mensch- und Weltbild. Der Dualismus, der zwischen „gut“ und „schlecht“ oder „Recht“ und „Unrecht“ unterscheidet, stellt folglich das Fundament jedes Wertesystems dar. Nur wer Verbote kennt, weiss schliesslich auch, aus welchem Grund er sich schämen soll und wie er Schuld auf sich lädt.

 

Filmplakat

Abb. 1) Filmplakat: „Meine Frau, ihre Schwiegereltern und ich“ (2005) mit Robert De Niro und Ben Stiller.

Seit jeher haben Eltern ein „waches Auge“ auf ihre Kinder, beobachten mit „scharfem Blick“ ihr Verhalten und lösen mit Hilfe von Schreckgeschichten oder Strafandrohungen Ängste aus, um ihre Abkömmlinge nicht nur zu schützen, sondern auch kontrollierbar zu machen. Die erste abstrakte Herrschaftsmacht, mit der der Mensch in Berührung kommt, zeigt sich also zuerst einmal im Kreis der Familie und damit im Privatraum.

Im öffentlichen Raum wird die Angst zwar ebenfalls seit jeher als Erziehungsmittel genutzt, um Gläubige oder Staatsangehörige gefügig zu machen oder vor Fehlverhalten abzuhalten. In erster Linie jedoch wird die Angst dazu genutzt, Herrschaftsansprüche durchzusetzen und zu erhalten. Denn im Gegensatz zur elterlichen Macht, bedarf die öffentliche immer der Legitimation. Das Augensymbol zeichnete Jahrtausende lang die angeblich göttlich gewollte und damit legitime Herrschaft aus.

 

„Ich bekomme Angst. Und Scham überkommt mich.“

Hinauri, Maori-Mythos

 

 

Der Augengott Elams

Die frühesten Belege für eine kultische Verehrung der Augen finden sich im alten Elam (heute Iran), dessen Hauptstadt Susa nach neuester Datierung um 4200 v. Chr. gegründet worden ist. Der elamische Augengott war der höchste Gott des Reichs. Sein Name ist uns jedoch nicht überliefert worden –, falls er denn je einen besessen hat, wird in den ältesten Religionen das Aussprechen göttlicher Namen doch oftmals tabuisiert. Der Glaube an ihn fand trotz allem eine immense Verbreitung. Nicht nur in Uruk (einst ein bedeutendes politisches Zentrum der Sumerer), sondern auch im gesamten südmesopotamischen Raum entdeckten Archäologen Spuren von ihm. Bei den Sumerern hiess dieser „En-ki“ (Herr der Erde), bei den Babyloniern „Ea“. Sein Beiname wiederum war „Nin-igi-ku“ (Gott „mit dem strahlenden Auge“).

 

Augengott Elams

Abb. 2-3) Links eine der frühsten Darstellungen des elamischen Hauptgottes. Eine Figur (vermutlich ein Priester) hält zwei Augen, die jeweils auf einem Sockel angebracht sind. Rechts Augenidole, die übereinander angeordnet sind.

 

Über die Wesensart des elamischen Augengottes ist ebenfalls nichts bekannt. Der Kult um ihn weitete sich jedoch nachweislich entlang der Mittelmeerküsten bis zum Atlantischen Ozean aus. Auch in Troia und Thessalien entdeckten Wissenschaftler immer wieder Augenidole. Oft weisen diese nicht nur zwei, sondern gleich mehrere Augen auf. Besonders häufig werden sie nebeneinander abgebildet, manchmal aber auch übereinander angeordnet dargestellt (Abb. 3). Illustrieren sollten sie zweifellos seine spezielle Fähigkeit, alles „sehen“ und entsprechend auch alles „beobachten“ zu können.

 

Augensymbole

Abb. 4) Auch mit Augenidolen versehene Flechtbänder oder Gefässe sollten ihre Eigentümer und Träger stets als Machtperson auszeichnen. Schliesslich handelte es sich bei ihnen um Statussymbole, die nicht jeder besitzen oder zur Schau tragen durfte.

 

Auf Kunstobjekten wurde das Augensymbol sehr oft rautenförmig oder in Ketten angeordnet dargestellt. Endes des 4. Jahrtausends v. Chr. wurden im gesamten vorderasiatischen Raum solche mit Augenidolen verzierte Gefässe und Flechtbänder hergestellt. In Syrien lassen sich auch Augensymbole auf Wandmalereien finden (u.a. Teleilat Ghasul). In dieser Region erscheint es manchmal neben dem Bild eines Vogels oder aber wird von einer schreitenden Figur gehalten (vermutlich Priester oder Herrscher).

Die Verbindung von „Auge“ und „Vogel“, wie sie schon früh in Syrien und später auch in Ägypten anzutreffen ist, verwundert kaum. Schliesslich stellen beide seit jeher mächtige Kultsymbole dar. Der Vogel, dessen Lebensraum sich über Himmel und Erde erstreckt, wurde schon während der Altsteinzeit als Mittler zwischen dem Dies- und dem Jenseits verehrt. Entsprechend waren Vogelsymbole vor allem im Totenkult von Bedeutung. Hier wie auch in den verschiedenen Mythen waren es vor allem Raubvögel (oft in der Darstellung des Geiers oder Adlers), die im Mittelpunkt standen. In den frühsten kulturellen Ritualen wurde der Vogel als Seelenbegleiter dargestellt. Später wandelte er sich jedoch zum Herrschaftszeichen schlechthin – man denke nur an den babylonischen oder amerikanischen Adler.

 

 

Die Augen des Himmels
Pharao mit Gemahlin

Abb. 5) Pharao (vermutlich Echnaton oder Tutanchamun) mit seiner Gemahlin, 2. Jahrtausend v. Chr. Die Sonne symbolisiert den Hauptgott Re (Ra), das Himmelsauge.

Im Augensymbol kumuliert die Primärangst des Menschen, die Angst vor dem Tod, sowohl mit der transzendenten als auch irdischen Herrschaft. Von Beginn an war es nicht nur ein Mahnbild, das dem Menschen seine Sterblichkeit in Erinnerung rufen sollte. Vielmehr sollte es auch schon immer versinnbildlichen, wer oder was die Macht über Himmel und Erde und damit über Leben und Tod besitzt.

Der Hauptgott Elams war nicht nur ein Augengott, sondern auch ein Zwillingsgott. Das elamische Wort „nap“ (= Gott) wird im Akkadischen mit dem Wort „ilān“ (= die beiden Götter) übersetzt und im Schriftzeichensystem mit zwei Sternen dargestellt. In Bezug auf die vorchristlichen Herrschaftsvorstellungen spielten nebst der Zwillingsanschauung vor allem auch die Himmelsgestirne Sonne und Mond eine wichtige Rolle. Sie stellen in den ältesten uns bekannten Mythologien nicht nur ein Zwillingspaar dar, sondern auch die Augen des Himmels.

Nach Meinung der Archäologin Margarete Riemschneider (1899-1985), die mit Abstand eine der wichtigsten Abhandlungen zum Augen-Zwillingsgott verfasst hat, wurde der ursprünglich elamische Hauptgott überall dort verehrt, wo keine Muttergöttin vorgeherrscht hat. Sie deutete ihn als Gott der nomadisierenden Männer, die nachts die Wüsten und Steppen durchquerten und sich sowohl an den Sternen als auch Sonne und Mond orientierten.

Die Sonne ging im 5. Jahrtausend v. Chr. zur Zeit der Frühjahrs-Tag-und Nacht-Gleiche im Sternbild der „Zwillinge“ auf. Doch nicht nur deshalb handeln wohl die ältesten uns bekannten Mythen und Märchen fast alle von Zwillingspärchen. Vielmehr konnte man an ihrem Beispiel auch die Herrschafts- und Moralvorstellungen versinnbildlichen, die auf einem dualistischen Denksystem aufbauen und sich auch in der gegensätzlichen Wesensart der Zwillinge widerspiegeln. Schliesslich verkörpert der eine immer das „Gute“, der andere hingegen das „Böse“. In den meisten dieser frühen Geschichten kumulieren auch die Vorstellungen von „Zwillingen“ und „Himmelsaugen“, warum sie beide im Hinblick auf das Herrschaftsbild eine besonders dominante Stellung einnehmen. Gemeinsam symbolisieren sie schliesslich stets die elementarsten Gegensätze, den Gegensatz zwischen Gut und Böse, Herrscher und Untertanen, Recht und Unrecht aber auch Frau und Mann.

Dass Sonne und Mond für einige Zeit gemeinsam am Himmel gesehen werden können, war für die Mythenbildung von ganz besonderer Bedeutung. Schliesslich sind sie keine Fixpunkte und „wandern“ über den Himmel. Der Mond verändert sich im Gegensatz zur Sonne sogar, scheint der Form nach zu sterben und wieder aufzuerstehen. Die Vorstellung von der „gesunden“ Sonne und dem „kranken“ Mond findet sich letztlich in vielen religiösen Anschauungen und Auslegungen wieder. Besonders gut nachzuvollziehen ist die Verehrung der allesbeherrschenden „Himmelsaugen“ am Beispiel des ägyptischen Kults.

 

 

Altes Ägypten: Horusauge
Horusauge

Abb. 6) Das Horusauge.

Der Augengott Elams fand in Ägypten in der Gestalt von Osiris Eingang, der im 3. Jahrtausend v. Chr. ebenfalls zuerst als namenloser Gott in Erscheinung trat. Osiris ist wohl die älteste Gottheit Ägyptens und wurde als Totengott verehrt. Sein Beiname war „Sitz des Auges“ oder manchmal auch „Auge über dem Sitz“.

Wie bereits in Syrien trat das Augenidol im Nildelta im Verlaufe der Zeit immer häufiger mit dem Bild eines Vogels in Erscheinung, eines Falken. Er ist das Symbol des Hauptgottes Horus, dessen Name „das Vollständige“ (= nicht Kranke) bedeutet. Horus, der als Himmels-, Königs- und Lichtgott verehrt wurde, zählt ebenfalls zu den ältesten Gottheiten Ägyptens. In den verschiedenen Mythenversionen wird er entweder als Sohn des Osiris oder des höchsten Sonnengotts Re bezeichnet. Dem altägyptischen Mythos zufolge stellen Sonne und Mond die Augen des Horus dar.

Auch der „gute“ Horus wurde als Zwilling geboren. Der Mythos über ihn erzählt, wie er sich als Erwachsener mit seinem „bösen“ Zwillingsbruder Seth um das Herrschaftssymbol „Auge“ streitet. Seth war ursprünglich ein Wettergott, geriet in Ägypten aber relativ rasch in Vergessenheit. Als Gegenpart seines Bruders findet er jedoch immer wieder in den unterschiedlichsten Texten Erwähnung. Zumeist wird berichtet, dass Seth gezwungen sei, sowohl Osiris als auch Horus „tragen“ zu müssen. Angedeutet wird dieses Untertanenverhältnis auch in der Deutung der Lidstriche, die das Horusauge umgeben. Sie stehen nämlich für die Zwillingsbrüder, wobei das Unterlid den Gott Seth symbolisiert.

Am Beispiel des Horuskults lässt sich besonders gut demonstrieren, wie man die Ehrfurcht vor dem Göttlichen –, das in erster Linie durch die „Priester“ personifiziert wurde, – schliesslich auf den weltlichen Herrscher ausweitete. Im Alten Ägypten veränderte sich zu Beginn der frühdynastischen Zeit erstmals nachweislich die abstrakte Vorstellung vom Augengott, wurde sie doch ohne jegliche Verschleierungsversuche dem Anthropomorphismus unterworfen.

 

Hieroglyphen

Abb. 7) Hieroglyphen des Augengottes.

 

Die Vermenschlichung des Göttlichen oder vielmehr seine Gleichsetzung ist an der künstlerischen Darstellung des Horus besonders gut aufzuzeigen. Denn im Verlaufe der Zeit stellten die Künstler und Handwerker den Falkengott, der anfänglich als Vogel abgebildet wurde, immer häufiger als Mensch mit Falkenkopf dar, der manchmal sogar mit einer Doppelkrone geschmückt ist.

Das Horusauge diente letztlich auch als Motivvorlage für das Herrschaftszeichen schlechthin: die Pharaonenkrone (Pschent). Der einstige Augen-Zwillingsgott Elams fand im Herrscher Ägyptens aber nicht nur eine Personifizierung. Vielmehr verlieh man dem Pharao auch göttliche Züge und schrieb ihm die gotttypischen Wesensmerkmale zu (gut, gesund, rein, tugendhaft usw.).

 

Pschent

Abb. 8) Die Verbindung von Krone und Auge wurde nicht nur visuell vollzogen, sondern fand auch in vielen Pyramidentexten immer wieder als Metapher Erwähnung.

 

 

Griechische Augengöttinnen und Augengötter

Der Glaube an den Augengott weitete sich über den mesopotamischen Raum und Syrien bis nach Ägypten aus und fand schliesslich auch seinen Weg nach Griechenland. Kaum verwunderlich also, lassen sich hier ebenfalls unzählige Gottheiten finden, die man mit Augen- aber auch Vogelattributen ausstattete. Besonders erwähnenswert sind beispielsweise „Athene“, „Hera“ und „Hermes“, die zu den zwölf olympischen Hauptgöttern Griechenlands zählen.

Athene gilt unter anderem als Göttin der Weisheit, des Krieges und Ackerbaus und wurde auch als Schutzgöttin der Helden verehrt. Sie wird stets mit einer Eule abgebildet und in den Texten als „Eulenäugige“ bezeichnet. Die Himmelsgöttin Hera wiederum ist die Wächterin von Geburt, Ehe und Sexualität. Ihr Beiname ist die „Kuhäugige“. Ihre Attribute sind die Augen des Pfaus und der Kuckuck. Der Götterbote Hermes schliesslich ist sogar selbst mit Flügeln ausgestattet (Helm, Schuhe oder Schultern). Nebst seiner Hauptaufgabe, göttliche Befehle zu verkünden, ist er auch dafür verantwortlich, die Seelen der Verstorbenen in den Hades (Unterwelt) zu geleiten.

 

Argos und Kyklop

Abb. 9-10) Der hundertäugige Wächter Argos, der laut Mythos vom Götterboten Hermes getötet wurde (Keramik-Ausschnitt). Auf der rechten Seite der Kyklop Polyphemus.

 

Im griechischen Mythos lassen sich aber noch sehr viele andere Gottheiten finden, die mit Augensymbolen ausgestattet wurden. Darunter die Kyklopen, die als Einäugige dargestellt werden, oder der Wächter Argos, der mit hundert Augen gesegnet ist. Unzählige Göttinnen erhielten auch Beinahmen, die spezielle Augenmerkmale betonen. Aerope (Mutter von Zwillingen) zum Beispiel war auch als die „Luftäugige“ bekannt, Almops und Alope als die „Salzflutäugigen“, die Aithiopen als die „Brandäugigen“, Chalkiope als die „Metalläugige“ oder Kalliope als die „Schönäugige“ usw.

 

 

Christentum: Das Auge der Vorsehung
Auge der Vorsehung

Abb. 11) Das Auge der Vorsehung lässt sich für gewöhnlich in allen Kirchen wiederfinden und symbolisiert den allessehenden Gott.

Am Ende des Altertums betrat ein neuer Götterkonkurrent die Weltbühne und mit ihm eine neue Glaubensherrschaft: der Gott der Christen und die katholische Kirche. Nach den „Priestern“ und Herrschern der Stein-, Bronze- und Eisenzeit, die den unzähligen Gottheiten spezielle Augenattribute verliehen hatten und das Augensymbol als Herrschaftszeichen für sich in Anspruch nahmen, waren es die Kirchenväter, die sich nun seiner bedienten. Und natürlich machten auch sie sich seine pädagogische Funktion zunutze, um die Angst vor Strafe zu verbreiten und Schuld- und Schamgefühle unter den Gläubigen und Untertanen zu schüren. Neu war jedoch, dass das Augensymbol nun erstmals zum Aushängeschild einer Institution wurde, hinter der sich eine Grosszahl an Männern verbarg, die fast allesamt nach weltlicher Macht und Reichtum strebten.

Der Paradigmenwechsel brachte erneut eine grosse Umdeutungswelle mit sich. Von nun an wurden Mond, Sonne und Sterne als die Augen Gottes interpretiert, Gott selbst als „Allessehender“ betitelt. Doch auch in der christlichen Theologie stellt das „Auge“ nicht nur ein Gottes-, sondern auch ein Macht- und Drohsymbol dar. Es sollte die Herrschaftsansprüche der Kirchenväter versinnbildlichen und seine Träger als Gebieter über Himmel und Erde, über Tod und Leben auszeichnen.

Das Bild des „allessehenden Auges“ veränderte sich in der christlichen Zeichendarstellung ebenfalls. Das Dreieck, das es von nun an umgab, wird von den heutigen Theologen und Wissenschaftlern als Symbol für die Trinität (Dreifaltigkeit) – Vater, Sohn und Heiliger Geist – gedeutet. Das christliche Augenidol schmückte von nun an etliche Gotteshäuser, um den Gläubigen immer wieder in Erinnerung zu rufen, dass der „Allmächtige“ jeden und zu jeder Zeit beobachtet, jede Sünde sieht und jedes Nichtbefolgen seiner Gebote die Höllenstrafe nach sich zieht.

 

„Die Augen des HERRN schauen an allen Orten beide, die Bösen und die Frommen“

Martin Luther (1483-1546)

 

 

Aufklärung: Das Auge als Lichtbringer
Auge der Freimaurer

Abb. 12) Das Auge der Freimaurer.

Das Christen- und Papsttum konnten ihre Herrschaft mit Hilfe der Angst vor dem „allessehenden“ und „jede Sünde strafenden“ Gott über weite Teile der Erde Jahrhunderte lang erhalten – trotz Schisma oder Reformation. Im 17. Jahrhundert bekam die Kirche jedoch Konkurrenz und wurde immer stärker durch eine neue Mensch- und Weltanschauung bedrängt. Nun wurde das Auge zum Symbol der Aufklärung, einer kulturellen Geistesströmung, die letztlich nicht nur eine Glaubensgemeinschaft zu beeinflussen wusste, sondern ganze Nationen.

Die Geistesbewegung der Aufklärung kam in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts auf und erreichte spätestes im 18. Jahrhundert ihren Höhepunkt. Die Aufklärer forderten die Emanzipation des Menschen und seine Befreiung von der Unterdrückung durch Autoritäten, Dogmen, althergebrachter Konventionen und aus ihnen entstandenen Institutionen. Sie verbreiteten das Credo, der Mensch müsse sich von der Religion lösen, die seinen Geist in Ketten legt. Die althergebrachte Überzeugung wiederum, die Menschheit stehe im Zentrum des Weltgeschehens und sei dazu auserkoren, die Natur zu beherrschen (und auszubeuten), wurde durch sie zum ultimativen Programm. Mit der Aufklärungsbewegung hielt die Überzeugung Einzug, dass Erziehung, Bildung und Handel das Wichtigste für den Fortschritt der Menschen wären und ihre Durchsetzung bzw. Dominanz gottgewollt sei.

Die bedeutendste Vereinigung, die während dieser Epoche ins Leben gerufen wurde, war die der Freimaurer. Die Maurer und ihre Zünfte gründeten sie in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Um die Herrschaft des freien Geistes zu vergegenwärtigen, bedienten sich die aufgeklärten Handwerker und Händler ebenfalls des herrschaftlichen „Auges“ – und dies ganz bewusst, um an die altbekannte kirchliche Tradition anzuknüpfen, die sie in Frage stellte. Um sich vom (wie sie es propagierten) vorangegangenen „Dunklen Zeitalter“ abzuheben, stellten sich die Aufklärer sowohl sprachlich als auch künstlerisch als „Lichtbringer“ dar.

 

 

Moderne: Das Auge als Symbol der Weltmacht

Mit der Aufklärungsbewegung kam auch die Ideologie des Individualismus auf. Sie vertritt ein Mensch- und Weltbild, das gleich ihrem Pendant die freie Entfaltung eines jeden Mannes sowie die Wahrung seiner Ehre und Würde einfordert. – Das weibliche Geschlecht wurde von dieser Entwicklung natürlich offiziell ausgeschlossen. Tatsächlich erreichte die soziale, rechtliche und politische Benachteiligung der Frauen zu dieser Zeit sogar einen nie dagewesenen Höhepunkt.

Erste Ansätze für das Aufkommen individualistischen Gedankenguts lassen sich zwar ebenfalls im 17. Jahrhundert ausmachen. Seinen Durchbruch schaffte der Individualismus aber vor allem dank dem Siegeszug von Kapitalismus und Industrialisierung im Verlaufe des 18. und 19. Jahrhunderts. Er verstärkte letztlich jedoch nicht nur das Konkurrenzverhalten, sondern schuf auch eine fast unüberbrückbare Kluft zwischen den verschiedenen Gesellschaftsschichten.

Individualismus und Kapitalismus stellten jedem Mann einen Freischein aus, damit es seine Macht- und Profitgier ungestraft und ohne Schuld- und Schamgefühle ausleben konnte. Die Ausbildung zum vernunftbegabten Menschen, der seine Fähigkeiten zwecks Selbstverwirklichung und Unabhängigkeit fördern soll, ging in der Realität aber für viele mit dem Verlust der individuellen Freiheit und Entfaltung aber auch neuen Ängsten einher. Denn Ehre und Würde blieben fortan jedem verweigert, der nicht „in der Gesellschaft aufstieg“ und bei dem Machtanhäufung und Geldsegen ausblieben.

Die britischen Kolonisten Neuenglands, die sich im 18. Jahrhundert von der Bevormundung ihres Mutterlandes befreien wollten, bedienten sich natürlich ebenfalls der Parolen der Aufklärungsbewegung. Mit Hilfe ihrer Grundüberzeugungen argumentierten sie für ihre Unabhängigkeit und das Recht auf Selbstbestimmung. Und selbstverständlich übernahmen auch sie das Augensymbol. 1782 wurde es als Bildvorlage für das erste Siegel der Vereinigten Staaten ausgewählt. Davor fand es jedoch schon als Motiv für die ersten Dollar-Noten Verwendung – um im Sinne der Freimaurer die Herrschaft des „Geldes“ und „Handels“ zu vergegenwärtigen. Damit nahmen die ersten US-Amerikaner auch bildlich ihre spätere Sonderstellung als die gefürchtete Welt-, Weltraum- und Weltwirtschaftsmacht des 20. Jahrhunderts vorweg.

 

Dollar Noten

Abb. 13-14) Der erste amerikanische Ein-Drittel-Kontinental-Dollar, der 1776 in Umlauf gebracht wurde (links). Abgebildet ist hier das Auge, wie es von der Sonne bestrahlt wird. Auf der rechten Seite die amerikanische Ein-Dollar-Note von heute. Das ebenfalls von Sonnenstrahlen umgebene Auge nimmt natürlich ebenfalls Bezug auf die Freimaurer, die den Handel und das profitable Wissen über alles stellten.

 

Die Angst und das Augensymbol schreiben seit Epochen Geschichte. Alles, wofür sie in den letzten sieben Jahrtausenden standen, wirkt bis heute fort. Ihre Geschichte ist aber noch lange nicht auserzählt. Denn das Auge stellt in den allermeisten Kulturen seit jeher auch ein Abwehrbild dar, um der Angst vor dem Bösen oder Flüchen entgegenzuwirken. Besonders oft abwehren sollte es den „Bösen Blick“. Der Glaube an ihn ist so alt wie die Menschheit. Bereits die frühsten Hochkulturen Mesopotamiens fürchteten ihn, und noch Jahrtausende später wurden etliche Menschen seinetwegen der Hexerei verdächtigt und auf dem Scheiterhaufen verbrannt.

 

Literatur: Blanke, H.W. (Hg. u.a.): Aufklärung und Historik. Aufsätze zur Entwicklung der Geschichtswissenschaft, Kirchengeschichte und Geschichtstheorie in der deutschen Aufklärung, Waltrop 1991; Dundes, Alan (Hg.): The Evil Eye. A Folklore Casebook, New York 1981; Koch, Heidemarie: Frauen und Schlangen, geheimnisvolle Kultur der Elamer in Alt-Iran, Mainz 2007; Koenig, Otto: Urmotiv Auge, München 1975; Mann, Charles C.: Die Geburt der Zivilisation, in: National Geographic (6/2011), S. 39-62; Riemschneider, Margarete: Augengott und Heilige Hochzeit, Leipzig 1953; Schmidt, Klaus: Heiligtum der Jäger und Sammler. Die Kultstätte vom Göbekli Tepe und die Siedlung Nevalı Çori, in: Damals. Das Magazin für Geschichte und Kultur (2/2007), S. 26-31.

Bildernachweis: Titelbild) Thephantastic.com; Abb. 1) Trailer.de; Abb. 2-4, 8) Margarete Riemschneider: Augengott und Heilige Hochzeit, Leipzig 1953; Abb. 5) Welt.de; Abb. 6) Pixabay.com; Abb. 7, 10-14) Wikipedia.de; Abb. 9) Akg-images.de.

 

By |2024-01-07T08:46:01+00:00April 27th, 2018|AnGSt|0 Comments
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