Der Angstmann

Den Angstmann gibt es wirklich. Im Gegensatz zu früher verrichtet er sein grausames Metier jedoch heutzutage zumeist nicht mehr offiziell und in aller Öffentlichkeit. Bekannt war er einst unter den Berufsbezeichnungen „Henker“, „Scharfrichter“ oder „Nachrichter“. Seine Handlanger waren die Folterknechte, die unter seinem Kommando Verdächtige verstümmelt und Verurteilte hingerichtet haben. Der Bangemann, wie er auch hiess, war aber nicht nur der Schrecken der Diebe, Mörder oder Vergewaltiger. Sogar seine christlichen Mitbürger fürchteten sich davor, ihm zu nahe zu kommen. Dabei hatte auch der Angstmann mit Ängsten zu kämpfen.

 

Kapitel: Das Amt des Angstmannes – Unehrlichkeit – Unreinheit und Ansteckungsgefahr – Vom Verstümmler zum Heiler – Angst des Angstmannes

 

Das Amt des Angstmanns
Tortur

Abb. 1) Der Angstmann bei seiner Arbeit.

Das berufsmässige Amt des Angstmanns kam im 12./13. Jahrhundert auf. Zu dieser Zeit begannen die Juristen Europas, die unterschiedlich existierenden Strafgesetze und Rechtsinstitute zu einem allgemeingültigen Strafrechtssystem zu vereinheitlichen (Rezeption). Die Rechtsgewalt der verschiedenen Sippenverbände ging im Verlaufe dieser Entwicklung auf die weltlichen Behörden über. Von nun an waren sie für die Verbrechensbekämpfung verantwortlich.

Die Ausgestaltung eines einheitlichen Strafrechts sowie der Wandel zur „staatlichen“ Strafrechtspflege hin zogen strenge Regulierungen nach sich. Der Umgang mit Straftätern und Straftäterinnen wurde genauestens geregelt. Von nun an war es nur dem Angstmann offiziell erlaubt, die von den Herrschaften angeordneten Hinrichtungen und die Tortur (= Folterung von Rechtswegen) durchzuführen.

Die Folter und Vollstreckung von Todesurteilen gehörten zu den Hauptfunktionen des Bangemanns. Er war aber auch für die Durchführung von Leibesstrafen oder das Prangern verantwortlich. Um seinen Lebensunterhalt bestreiten zu können, war der Angstmann jedoch oft gezwungen, sich noch weitere Einnahmequellen zu eröffnen und andere Aufgaben zu übernehmen. In den Quellen finden daher auch immer wieder Scharfrichter Erwähnung, die sich als Entsorger von Tierkadavern, als Hundefänger, Reinigungsarbeiter oder Ordnungskraft betätigt haben.

 

 

 

Unehrlichkeit
Der isolierte Henker

Abb. 2) Der Vollstrecker von Recht und Gesetz am Henkertisch, isoliert vom Rest der Gesellschaft.

Obwohl der Angstmann immer im Auftrag der Obrigkeit seinen Beruf ausübte, zählte sein Amt zu den sogenannten unehrlichen Berufen. Der Angstmann, seine Familie, Mägde und Knechte gehörten daher auch dem Stand der Unehrlichen an. Die Standesvorstellung leitete sich von der religiösen Anschauung der sogenannten Unehrlichkeit (levis notae macula) ab.

Wer zu den unehrlichen Leuten zählte, wurde nicht nur sozial geächtet, sondern auch rechtlich in allen Bereichen des Lebens benachteiligt. Der Stand dieser Ehrlosen umfasste zwar noch viele weitere Personengruppen (u.a. Müller, Schäfer oder Bader). Der Bangemann und seine Familienangehörigen betrachtete man jedoch als die Niedrigsten der Niedrigen.

Der Angstmann durfte von Rechtswegen keine öffentlichen Ehrenämter einnehmen. Das Bürgerrecht besass er ebenfalls nicht. Es war ihm verboten, dem Priesteramt beizutreten, in einem Prozess als Zeuge auszusagen oder einer Zunft beizutreten. Nicht selten war es sogar seinen Kindern untersagt, die Schule zu besuchen.

Nach Kanonischem Recht (Kirchenrecht) durften die Angstmänner und ihre Angehörigen in der Kirche nur an einem speziell für sie eingerichteten Platz sitzen und auch erst als letzte zur Kommunion oder zum Abendmahl. Es war ihnen auch nicht erlaubt, sich bei öffentlichen Kirchgängen oder Prozessionen unter die Leute zu mischen. Sich mit ihnen vermählen war ebenfalls verboten, gehörte man nicht selbst dem Kreis der Ehrlosen an.

Wer sich trotz Verbot mit einem Unehrlichen oder einer Unehrlichen einliess, der wurde selbst zum Geächteten erklärt. Diese Bestrafung wurde manchmal sogar auf die ganze Familie ausgeweitet. Immer wieder ging von Regierenden die Verordnung raus, der Angstmann und seine Leute sollten nur mit ihresgleichen Umgang haben und sich von den „wahren Christen“ fernhalten. Zu gross war die allgemeine Angst, man könne sich durch sie verunreinigen.

 

 

Unreinheit und Ansteckungsgefahr
Hexenfolter

Abb. 3) Ein Angstmann, der angebliche Hexen der Folterung unterzieht.

Die Unehrlichkeit des Angstmanns erwuchs aus der Unreinheit seiner Aufgaben. Schliesslich hatte er tagtäglich mit Kriminellen, Kranken und Toten zu tun. Sie alle wurden als unrein betrachtet.

Die Vorstellung von der Unreinheit gründet auf der gegensätzlichen Betrachtungsweise von Seele und Körper. Sie findet sich bereits im Alten Testament. Seit jeher wird die menschliche Seele als Ausdruck der Reinheit bewertet. Sie verkörpert Unschuld und Tugendhaftigkeit. Der unreine Körper hingegen stellt die zu Fleisch gewordene Sünde dar. Schliesslich sind es seine Triebe und Bedürfnisse, die ihn zu den gottlosen Lastern wie unter anderem zur sexuellen Ausschweifung oder Völlerei verleiten.

Wer Leichen oder Aas berührte oder sich mit toten Körpern im selben Raum aufhielt, war dem damaligen Glauben nach immer in Gefahr, sich mit dem Bösen anzustecken. Der Angstmann galt aber nicht nur als verunreinigt, da er die Gefängnisinsassen verarzten, die Verurteilten hinrichten und bestatten musste und darüber hinaus auch oft für die Beseitigung von toten Tieren verantwortlich war. Er wurde vor allem auch deshalb geächtet, weil er andauernd mit Verbrechern und Kranken zu tun hatte, die der Anschauung nach von unreinen Geistern besessen waren.

Die Kirche setzte die Vorstellungen von Unehrlichkeit und Unreinheit mit dem Unglauben gleich. Vor allem das Neue Testament warnt vor der Ansteckungsgefahr durch Unreine und Ungläubige. Die Gleichsetzung war ein weiterer Hauptgrund für die soziale Isolierung des Angstmanns und seiner Angehörigen. Wegen ihr galten sie schliesslich als keine wirklichen Christen, die von den wahren Gläubigen körperlich wie auch räumlich getrennt werden müssten. Wer es mit dem Bangemann zu tun bekam, lief daher auch immer Gefahr, aus der Gesellschaft und seinem Beruf ausgeschlossen zu werden. Alleine der flüchtige Kontakt, das Essen und Trinken mit ihm oder bloss das Berühren seiner Kleider konnte zur Verunreinigung und Ehrlosigkeit führen.

Nicht nur die persönliche Nähe zu einem Angstmann konnte den Verlust der eigenen Ehrlichkeit bedeuten. Auch wer ihm ins Handwerk pfuschte oder die Werkzeuge und Geräte des Angstmannes anfasste, sein Schindermesser, den Galgen oder Pranger berührte, konnte sie verlieren. Sogar wer bei der Bestattung eines Angstmannes mithalf, wurde zum Unehrlichen und somit Ungläubigen erklärt! Beschimpfungen wiederum, die sich auf seine Tätigkeitsbereiche bezogen, zählten dazumal zu den mit Abstand schlimmsten Beleidigungen und damit Ehrverletzungen.

 

 

Vom Verstümmler zum Heiler

Viele Angstmänner gingen nicht nur in ihrem Heimatort ihrem Metier nach. Sie wurden manchmal auch an andere Regierungen ausgeliehen, die keinen eigenen Henker unterhielten. In diesen Fällen erhielten sie für gewöhnlich eine Kennzeichnung, damit sie für jeden erkennbar waren. So auch im Jahre 1485, als die Solothurner ihren Scharfrichter an die Berner Regierung auslehnten. Er musste laut Verordnung ebenfalls ein für alle sichtbares Zeichen tragen. In seinem Fall aber nicht, um die Bevölkerung vor einem versehentlichen Kontakt zu warnen. Vielmehr befürchteten die Behörden, die Leute würden ihm ansonsten in der Öffentlichkeit zu viel Respekt erweisen!

Trotz seines besonderen Status‘ selbst unter den Unehrlichen hatten die Menschen nämlich eine besonders grosse Ehrfurcht vor dem Vollstrecker von Recht und Gesetz. Tatsächlich rankten sich viele Mythen um das Scharfrichteramt und die Person des Bangemanns. Schliesslich beschäftigte er sich tagtäglich mit Aufgaben, die dazumal mit den magischen Sphären in Verbindung gebracht wurden. Wer mit dem Bösen und Dämonenbesessen zu tun hatte und sie darüber hinaus zu bändigen wusste, musste dem Glauben nach über Zaubereiwissen verfügen. Dieser Betrachtungsweise entsprang letztlich auch sein besonderes Ansehen als Heiler und Arzt.

Dass der Angstmann seine Tätigkeit auf die ärztliche Heilkunst ausdehnte, brachte seine Verantwortung als Folterer mit sich. Er war schliesslich dafür verantwortlich, die Gefolterten auch medizinisch zu versorgen. Aufgrund seiner ärztlichen Beschäftigung, die in Zeiten der Not natürlich auch die „wahren“ Christenbürger zumeist in aller Heimlichkeit in Anspruch nahmen, lag er aber immer wieder mit den offiziellen Medizinern im Streit. Sie hatten einst die Mönche und Volksheiler aus ihrer Heilstätigkeit verdrängt. Nun waren es die Angstmänner, die immer häufiger als ihre Konkurrenten in der Arztkunst auftraten und die Angst vor beruflicher Verdrängung schürten.

 

Wundheiler und Wunden

Abb. 4-5) Wundärzte und Bader waren auf dem medizinischen Markt die Hauptrivalen der Angstmänner. Hier (linkes Bild) sind sie gemeinsam mit einem berauschten Patienten abgebildet, der kurz vor der Amputation steht (um 1550). Die Illustration „Der Wundenmann“ aus Hans von Gersdorffs ‚Feldtbuch‘ aus dem Jahr 1517 (rechts) wurde aufgrund ihrer Detailtreue sehr häufig nachgedruckt. Sie zeigt die Vielzahl der von Menschen verursachten Wunden auf, die der Angstmann und seine beruflichen Rivalen in ihrer Tätigkeit als Ärzte regelmässig behandeln mussten.

 

 

Die Angst des Angstmanns
Betrunkener Henker

Abb. 6) Ein Scharfrichter im schweizerischen Chur (Graubünden) verpfuschte 1575 gleich mehrere Hinrichtungen, weil er betrunken war. Als Strafe wurde er von den Zuschauern gesteinigt .

Soziale Ächtung, Gewalt, Demütigung, Beschimpfung und Isolierung lassen das Angstsystem eines jeden Menschen Alarm schlagen. Wer ständig mit Tod und Verstümmelung konfrontiert wird, zur Selbstkontrolle gezwungen ist oder die Nähe und Kommunikation zu seinen Mitmenschen meiden muss, entwickelt automatisch ein besonders grosses Angstpotenzial. Neue Ängste, Aggressionszustände und auch ein sehr negatives Selbstbild (Angstverinnerlichung) sind die Folge bei allen, die diesen Lebensumständen nicht durch eine Flucht entrinnen können.

Unzählige Berichte überliefern, wie Gefangene von den Angstmännern und ihren Gehilfen nicht nur gefoltert, sondern auch auf unvorstellbare Weise physisch und psychisch gequält, missbraucht und vergewaltigt worden sind, manchmal ganze Tage und Nächte lang. Dies blieb nicht immer ohne Folgen. Etliche Quellen berichten von Suiziden unter den Gefängnisinsassen, von ungeklärten Todesfällen oder Schwangerschaften eingekerkerter Frauen und Mädchen.

Ein menschlicher Angstauslöser ist aber immer auch ein Geängstigter. Zwar taten sich die Bangemänner und ihre Handlanger sehr oft als Täter hervor. Sie waren aber ebenso Opfer der gesellschaftlichen, kirchlichen und rechtlichen Vorstellungsysteme. Diese bürdeten ihnen durch ihre unzähligen Verbote nicht nur Ängste auf. Sie zwangen sie auch, die Berufstätigkeit ihrer Vorfahren fortzusetzen und mit ihr, psychische und körperliche Gewalt auszuüben. Schliesslich ging das Scharfrichteramt traditionell immer von einer Generation auf die nächste über.

Die unehrlichen Handlanger der Gerichte nahmen eine spezielle Stellung ein, waren sie doch am stärksten mit den Gefangenen konfrontiert, die letztlich auch nur Menschen waren. Dass die Angstmänner oft unter psychischen Problemen zu leiden hatten, ist durch einige Berichte überliefert worden. Sie kamen besonders oft nach misslungenen Hinrichtungen, fragwürdigen Urteilen aber vor allem auch nach dem Vollzug von Folter und Todesstrafe bei Minderjährigen auf.

Bei einem Grossteil der Menschen rufen Gewaltanwendungen Schuld- und Schamgefühle hervor. Und sie hat man schon immer gerne im Alkohol ertränkt. Die Trunksucht der Angstmänner und ihrer Mitarbeiter ist legendär. Die uns überlieferten Abrechnungen für Hinrichtung oder Folterung, die der Henker für gewöhnlich seinen Auftraggebern ausstellte, listen immer zusätzlich auch eine sehr grosse Menge an geliefertem Wein und Bier auf.

Den Angstmännern war es verboten, den Beruf zu wechseln und sich die Ehrlichkeit zu erkaufen. Sie lebten ein Leben, das von Zwängen beherrscht war. Manche sahen daher den einzigen Ausweg darin, die Flucht in den Tod zu suchen – selbst auf die Gefahr hin, dafür in der Hölle zu landen. Nicht wenige Selbstmordfälle unter ihrer Berufsgruppe offenbaren, wie selbst die Vollstrecker von Verstümmelung und Tod traumatischen Erlebnissen ausgeliefert waren.

 

PS: Wer mehr über das Thema erfahren möchte, sollte das Henkermuseum in Sissach besuchen. Möchten Sie wissen, was sie dort erwartet? Klicken Sie hier!

 

Literatur: Appenzeller, Gotthold: Strafvollzug und Gefängniswesen im Kanton Solothurn vom 15. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Solothurn 1957; Harrington, Joel F.: Die Ehre des Scharfrichters. Meister Frantz oder ein Henkersleben im 16. Jahrhundert, München 2015; Lehrmann: Joachim: Hexen- und Dämonenglaube im Lande Braunschweig. Die Geschichte einer Verfolgung unter regionalem Aspekt, Hannover 1997; Manser, Jürg (Hg.): Richtstätte und Wasenplatz in Emmenbrücke (16.-19. Jahrhundert). Archäologische und historische Untersuchungen zur Geschichte von Strafrechtspflege und Tierhaltung in Luzern, hg. v. Schweizerischen Burgenverein, Bd. 1 und 2, Basel 1992; Noser, Othmar: Der Henker von Solothurn; in: Jahrbuch für Solothurnische Geschichte, hg. v. Historischen Verein des Kantons Solothurn, Bd. 43, Solothurn 1979, S. 193-202; Schild, Wolfgang: Alte Gerichtsbarkeit. Vom Gottesurteil bis zum Beginn der modernen Rechtsprechung, München 1980; Steinegger, A.: Handwerker, Henker und Galgen im alten Schaffhausen, in: Schweizerisches Archiv für Volkskunde, hg. v. Paul Geiger, Bd. 44, Heft 1, Basel 1947, S. 256-262.

Bildernachweise: Titelbild) Pixabay.com; Abb. 1, 3) Wikipedia.de (Wickiana); Abb. 2) Henkermuseum.ch; Abb. 4-5) Harrington, Joel F.: Die Ehre des Scharfrichters. Meister Frantz oder ein Henkersleben im 16. Jahrhundert, München 2015; Abb. 6) Wolfgang Schild: Alte Gerichtsbarkeit. Vom Gottesurteil bis zum Beginn der modernen Rechtsprechung, München 1980.

 

By |2023-10-29T07:45:40+00:00März 29th, 2018|AnGSt|0 Comments
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